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Die Rechtsstellung der Frau um 1900 - eine kommentierte Quellensammlung, hg. v. Meder, Stephan/Duncker, Arne/Czelk, Andrea (= Rechtsgeschichte und Geschlechterforschung 12). Böhlau, Köln 2010. 1105 S. Besprochen von Werner Schubert.

Die Rechtsstellung der Frau um 1900 - eine kommentierte Quellensammlung, hg. v. Meder, Stephan/Duncker, Arne/Czelk, Andrea (= Rechtsgeschichte und Geschlechterforschung 12). Böhlau, Köln 2010. 1105 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Mit dem von Meder, Duncker und Czelk herausgegebenen Band liegt erstmals eine umfassende Quellensammlung zur den Forderungen der bürgerlichen Frauenbewegung zur Reform des überkommenen Familienrechts insbesondere für die Zeit der Entstehung des BGB vor. In seiner Einleitung: „Die Kämpfe um ein neues Ehe- und Familienrecht in der Entstehungsphase des Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs“ (S. 9-33) geht Meder zunächst auf die Stellung der Frauenbewegung zu den BGB-Entwürfen, auf die Entstehung und die Ziele der Kodifikation des bürgerlichen Rechts und auf Plancks Regelung des ehemännlichen Herrschaftsrechts sowie die Idee einer selbstregulativen Kompetenz der Sitte ein. Die Reformforderungen der Frauenbewegung sind Teil der von Krause, Ahrens und Röder betriebenen „Reethisierung des Rechts“ (S. 17ff.) und im Zusammenhang damit auch Teil der sozialpolitischen Forderungen an die Zivil- und Strafgesetzgebung, die sich in voller Breite mit der Veröffentlichung des ersten BGB-Entwurfs manifestierten. Meder stellt die Frage, inwieweit die Frauenbewegung um 1900 eine eigene Rechtstheorie verfolgt habe und weist in diesem Zusammenhang auf die rechtsethischen Argumente in den Gegenentwürfen zum Familienrecht der BGB-Entwürfe hin (S. 22ff.). Eingehend befasste sich die Schweizerin Emilie Kempin (1843-1901), die erste habilitierte deutschsprachige Rechtswissenschaftlerin, mit der „Individualisierung“ der Frau als „Kern der rechtsethischen Seite der Frauenbewegung“ (S. 24ff.).

 

Der Quellenteil bringt zunächst die Texte zu den zeitgenössischen Positionen zum Frauen- und Familienrecht (S. 35-916) und anschließend die zum Verständnis der Stellungnahmen erforderlichen Rechtsquellen (S. 917-1081). Den Quellentexten sind eingehende, insbesondere biographische Anmerkungen und Kommentierungen mit oft weiterführenden Literaturangaben vorangestellt. Hinzu kommen noch erläuternde Anmerkungen zu den Quellentexten selbst, die mitunter etwas ausführlicher hätten ausfallen können. Der Rechtsquellenteil enthält die für das Recht der Frau relevanten Teile des BGB, die insoweit einschlägigen Materialien der Reichstagsverhandlungen über das BGB (1896) sowie Auszüge aus dem Allgemeinen Landrecht Preußens von 1794, dem Code Napoléon in der Fassung des Badischen Landrechts von 1809 und des sächsischen BGB von 1863. Hinzu kommen noch Auszüge aus dem ADHGB von 1861, dem StGB von 1871 und der CPO von 1877. Nicht abgedruckt sind Teile der Entwurfsfassungen zum BGB. Der Hauptquellenteil präsentiert die Texte in der alphabetischen Reihenfolge ihrer Verfasser und enthält Quellen für die Zeit von 1869 bis 1912. Außer den Petitionen und Streitschriften aus der bürgerlichen Frauenbewegung zu den BGB-Entwürfen haben die Herausgeber mit Recht auch in die Edition aufgenommen umfangreiche Passagen aus der Kritik Gierkes von 1889 am ersten BGB-Entwurf (S. 385ff.), Teile aus Mengers Schrift: „Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen“ (S. 619ff.), welche die Kritik der Frauenbewegung an den späteren BGB-Entwürfen stark beeinflusst hat, sowie die Kritik von Franz von Godin über das eheliche Güterrecht des ersten BGB-Entwurfs (1889; S. 435ff.), der die von ihm vorgeschlagene Gütergemeinschaft mit einer gleichberechtigten Stellung der Ehefrau verbinden wollte (S. 436). Der zeitlich erste Quellentext betrifft die Schrift des schlesischen Kreisrichters Ludwig Wachler: „Zur rechtlichen Stellung der Frauen“ (1869; S. 442ff.), die von der Frauenbewegung rezipiert wurde. Wachler zeigt die damals noch bestehenden Benachteiligungen unverheirateter Frauen auf und „übt am Beispiel des preußischen Allgemeinen Landrechts auch Kritik am bestehenden Eherecht, Elternrecht und Vormundschaftsrecht“ (S. 843). Kurz nach Beginn der Arbeit am BGB veröffentlichte der Allgemeine deutsche Frauen-Verein die mutmaßlich von Luise Otto-Peters abgefasste Schrift „Einige deutsche Gesetzes-Paragraphen über die Stellung der Frau“, die noch keine konkreten Reformforderungen zum Gegenstand hatte. Bereits 1877 stellte der genannte Verein in einer Petition an den Reichstag, die jedoch nicht an diesen gelangte, sondern über das Reichskanzleramt an die erste BGB-Kommission weitergeleitet wurde (vgl. G. Planck, in Vorlagen der Redaktoren. Familienrecht, Teil 1, 1983, S. 451 [299]), mehrere Reformforderungen auf (Beseitigung diskriminierender Stilelemente im Gesetz; allgemeine rechtliche Gleichstellung der Geschlechter; strikte Vermögenstrennung im gesetzlichen Ehegüterrecht; Änderung des Ehescheidungs- und Vormundschaftsrechts).

 

Während der erste BGB-Entwurf von der Frauenbewegung so gut wie nicht beachtet wurde, erschienen nach der Veröffentlichung des zweiten BGB-Entwurfs und vor allem der Reichstagsvorlage zum BGB 1895/96 zahlreiche Schriften und Petitionen über die Reformforderungen der Frauenbewegung und einzelner Autorinnen aus ihrem Umfeld. Zu erwähnen sind zunächst die drei umfassenden Gegenentwürfe aus der Frauenbewegung zum BGB-Familienrecht, und zwar der Entwurf von Vera Proelß/Marie Raschke: „Die Frau im neuen bürgerlichen Gesetzbuch“ (1985), der Entwurf des Rechtsschutzvereins für Frauen in Dresden: „Das deutsche Recht und die deutschen Frauen. Kritische Beleuchtung des Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuchs“ (S. 757ff.) und der Entwurf des Bundes Deutscher Frauenvereine: (S. 258ff.). Als vierte umfassende Reformkonzeption sind noch zu erwähnen die beiden Schriften des Justizrats Carl Bulling: „Die Rechte der Unehelichen Kinder“ (1895; S. 81ff.) und: „Die deutsche Frau und das bürgerliche Gesetzbuch“ (1896; S. 199ff.). Beide Schriften, welche die wohl umfassendste, sehr eigenständige Kritik an den BGB-Entwürfen von der Sicht der Rechtsstellung der Frau aus enthalten, genossen bei der zeitgenössischen Frauenbewegung großes Ansehen. So lag die Schrift von Anfang 1896 auf der Berliner Protestversammlung der Frauen am 16. 2. 1896 zum Verkauf aus (vgl. S. 82). Ein weiterer wichtiger Quellenbereich betrifft die Anträge der Abgeordneten Pauli/Stumm in der BGB-Reichstagskommission (S. 997ff.), die von Emilie Kempin stammen dürften. Diese Anträge führten dazu, dass sich die Reichstagsabgeordneten erstmals ausführlich mit wichtigen Forderungen der Frauenbewegung auseinandersetzen mussten, wenn sie ihnen auch nur in geringem Umfang folgten (981ff.). Weitere Texte stammen von Anita Augspurg (S. 45ff.), von Adele Gamper (1894; S. 371ff.), die mit Marie Stritt den Dresdner Rechtsschutzverein für Frauen gründete, von Emilie Kempin (neun Texte) und von Marie Raschke (S. 738f.; neun Texte). Nach Verabschiedung des BGB befasste sich Marie Raschke für die Rechtskommission des Bundes Deutscher Frauenvereine mit der Neufassung des HGB (S. 755ff.; vgl. auch Adolf Hinzberg: Die Frauen und der Entwurf eines Handelsgesetzbuches, 1897; S. 443ff.). 1898 fasste Stritt die offen gebliebenen Forderungen der Frauenbewegung an das BGB zusammen (S. 811ff.) und erläuterte 1901 die Entwicklung der Rechtsschutzvereine für Frauen (S. 820ff.) und die „Geschichte der Rechtskämpfe“ (S. 828ff.). Aus Marianne Webers: „Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung“ wird das Kapitel „Ehekritik, Ehescheidung und außereheliche Geschlechtsbeziehungen“ als Beispiel für die Positionen Webers mitgeteilt (S. 870ff.). In der Überschrift zu diesem 65. Quellenabschnitt fehlt die Rückbeziehung auf das genannte Werk Marianne Webers. Die Positionen der Frauenbewegung zur „Strafrechtsreform“ der späten Kaiserzeit erläutern Julie Eicholz (1908; S. 833ff.) und Camilla Jellinek (1909; S. 449ff.). Beispielsweise forderten sie, die Strafmündigkeit auf 16 Jahre heraufzusetzen und die Strafdrohungen des Abtreibungstatbestandes zumindest zu mildern.

 

Das Werk wird abgeschlossen mit einem Personen- und einem Sachregister, welch letzteres m. E. etwas detaillierter hätte sein können (z. B. hinsichtlich der Scheidungsgründe, des Güterrechts und des Unehelichenrechts). Vielleicht wäre auch ein Paragraphenregister auf der Basis des BGB nützlich gewesen. Unterschiedlich ausführlich sind die biographischen Angaben zu den einzelnen Institutionen und Autorinnen bzw. Autoren. Vielleicht könnte man für eine Neuauflage an selbstständige Kurzbiographien denken. Das Werk macht heute nur noch schwer zugängliche Materialien zu den Rechtsfragen der Frauenbewegung erstmals allgemein zugänglich. Diese Texte, die erst ab 1895/96 die juristische Präzision erlangten, die für ihre Beachtung in der juristischen Öffentlichkeit erforderlich war, stellen neben den Schriften zu den sozialpolitischen und zu den konfessionellen Forderungen der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts einen wichtigen Teil der Quellen zur Schlussphase der Entstehung des BGB dar, die in der rechtshistorischen Forschung in den letzten Jahren eine immer größere Bedeutung erlangt hat. Auf diese Weise wurde der „Bestand“ weitgehend verschütteter „historischer Erinnerungen“ rekonstruiert und damit vor allem das „kollektive Gedächtnis“ (hierzu Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main, 1985, S. 35; F. Förster, in: E. Schenkel/H. Chr. Tepte [Hrsg.], Zwischen Ost und West. Joseph Conrad im europäischen Gespräch, Leipzig 2010, S. 253) der Juristen erheblich erweitert. Es ist zu hoffen, dass aus dem am Rechtsgeschichtlichen Lehrstuhl von Meder angesiedelten, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt: „Internationale Reformforderungen zum Familienrecht und Rechtskämpfe des Frauenweltbundes 1830-1914“ ähnlich breit angelegte Quellenbereiche wie für die deutsche Frauenbewegung erarbeitet werden. Hierbei sollte auch die französische vergleichende Rechtswissenschaft nicht unberücksichtigt bleiben, die sich mit dem Familienrecht des BGB im Wesentlichen positiv auseinandergesetzt hat.

 

Kiel

Werner Schubert