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Burg, Avraham, Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss. Aus dem Englischen v. Bischoff, Ulrike. Campus, Frankfurt am Main 2009. 280 S. Besprochen von Hans-Michael Empell.

Burg, Avraham, Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss. Aus dem Englischen v. Bischoff, Ulrike. Campus, Frankfurt am Main 2009. 280 S. Besprochen von Hans-Michael Empell.

 

Der einer ostjüdischen Familie entstammende Vater des Autors, Josef Burg (1909-1999), wurde in Dresden geboren und ging später nach Berlin, wo er 1933 den Grad eines Doktors der Philosophie erwarb. Daneben ließ er sich zum Rabbiner ausbilden. Während der Zeit des Nationalsozialismus organisierte er die Ausreise deutscher Juden, bis er 1939 selbst gezwungen war, Deutschland zu verlassen. Er wanderte nach Palästina aus. In dem 1948 gegründeten Staat Israel war er politisch tätig. Dreißig Jahre lang bekleidete er mehrere Ministerposten, darunter das Amt des Innenministers. Der Autor selbst, 1955 in Jerusalem geboren, absolvierte während seines Militärdienstes eine Ausbildung zum Fallschirmspringer; anschließend war er in der Friedensbewegung „Peace Now!“ aktiv. 1985 wurde er Berater von Schimon Peres, dem damaligen Premierminister, späteren Friedensnobelpreisträger und jetzigen Staatspräsidenten von Israel. Seit 1988 hatte er als Vertreter der Arbeitspartei einen Sitz im israelischen Parlament, der Knesset. 1995 wurde er Vorsitzender der Jewish Agency, der wichtigsten zionistischen Organisation. 1999 bis 2003 fungierte er auch als Sprecher der Knesset. Im Jahre 2004 zog er sich aus allen Ämtern zurück.

 

Diese für eine Rezension ungewöhnlich ausführlichen Informationen sind nicht nur Angaben zum biographischen Hintergrund des Autors, sondern zugleich Bestandteil des hier zu besprechenden Werkes, in dem der Autor auf seine persönliche und familiäre Geschichte vielfach Bezug nimmt. Der Lebenslauf deutet bereits an, dass er sich von einem überzeugten Zionisten zu einem Kritiker gewandelt hat, der Grundlagen des Zionismus in Frage stellt und die Politik Israels in scharfer Form rügt. Er geht dabei nicht systematisch vor, sondern berichtet von Alltagserfahrungen; teilt Erinnerungen an seine Jugend, seine Familie, vor allem an seinen Vater, mit; äußert sich zur israelischen Innen- und Außenpolitik; nimmt zur Lage der Juden in Israel und in der Diaspora, vor allem in den USA, Stellung und flicht moralische Einsichten und religiöse Bekenntnisse, aber auch historische Erörterungen ein. So kritisiert er Lesarten der jüdischen Geschichte, die zu den Grundlagen des Zionismus gehören, zum Beispiel die Auffassung, die Gründung Israels sei eine Antwort auf den Holocaust gewesen. Die in Palästina lebenden Juden hätten seinerzeit kaum Kenntnis vom Völkermord an den europäischen Juden gehabt und seien auch nicht in der Lage gewesen, Hilfe zu leisten (S. 87ff.). Er wendet sich ferner gegen die Ansicht, der Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto gegen die deutsche Besatzung (1943) sei vornehmlich von zionistischen Jugendgruppen geführt worden. Tatsächlich waren dem Autor zufolge auch jüdische Kommunisten, Mitglieder der anti-zionistischen Gewerkschaftsbewegung „Bund“ und nicht-jüdische, polnische Widerstandskämpfer am Aufstand beteiligt (S. 110ff.).

 

Alle diese Darlegungen und Reflexionen kreisen um die zentrale Aussage des Buches, die meisten Juden seien auf den Holocaust fixiert, geradezu von ihm besessen. Sie hätten eine Mentalität entwickelt, sich in einer Welt von Feinden zu sehen, aktuelle Bedrohungen und Gefahren als eine mögliche Wiederholung des Holocaust zu empfinden und sich daher legitimiert zu glauben, vornehmlich auf militärische Stärke zu setzen, um eine Wiederholung schon im Ansatz unmöglich zu machen. Die Basis dieser Mentalität seien eine durch den Holocaust zugefügte, tiefe Demütigung und ein Schuld- und Schamgefühl, dieses Verbrechen nicht verhindert oder doch nicht wirksam dagegen gehandelt zu haben (S. 156ff.). Dem Autor zufolge sollte diese Fixierung gelöst werden. Die Juden sollten den Holocaust zwar nicht vergessen, wohl aber ein anderes Verhältnis dazu herstellen. Die allein auf das eigene Volk bezogene Sicht müsse preisgegeben werden zugunsten einer Betrachtung, in der das jüdische Volk als Teil der Menschheit wahrgenommen wird.

 

Ein Beispiel für die Überlegungen des Autors, das für rechtshistorisch interessierte Leser von besonderem Interesse ist, bildet seine Stellungnahme zum Strafverfahren gegen Adolf Eichmann, das 1961 vor dem Jerusalemer Bezirksgericht geführt wurde, nachdem dieser vom israelischen Geheimdienst Mossad aus Argentinien entführt worden war (S. 131ff.). Eichmann wurde wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Mitgliedschaft in feindlichen Organisationen (SS, SD, Gestapo) angeklagt. Das Jerusalemer Gericht ging also überwiegend nicht aufgrund innerstaatlichen, israelischen Rechts, sondern auf der Basis völkerstrafrechtlicher Tatbestände gegen Eichmann vor. Das Verfahren endete mit einem Todesurteil, das auch vollstreckt wurde. Der Autor gibt zu bedenken, dass der Prozess besser vor einem internationalen Strafgericht geführt worden wäre; rügt, dass im Prozess (von einer Ausnahme abgesehen) nur jüdische Zeugen gehört wurden und spricht sich prinzipiell gegen die Todesstrafe aus. Aufschlussreich ist die wörtliche Wiedergabe offizieller Dokumente, denen zu entnehmen ist, dass im damaligen israelischen Kabinett, dem auch sein Vater angehörte, kontrovers darüber diskutiert wurde, ob dem Staatspräsidenten empfohlen werden solle, die Aussetzung der Vollstreckung anzuordnen. Burgs Vater sprach sich dafür aus, konnte sich aber nicht durchsetzen. Später stellte Jeshajahu Leibowitz, Naturwissenschaftler, jüdischer Theologe, Philosoph und politischer Denker, den der Autor neben seinem Vater als seinen Mentor bezeichnet (S. 160), in den „Gesprächen über Gott und die Welt“ (1990, S. 103) fest: „Er (Martin Buber; Verf.) hatte zu Recht das Gefühl, dass hier irgend­eine schreckli­che Unver­hältnismäßigkeit besteht. Diesen Wurm nehmen und ihn aufhängen, gegenüber al­lem, was in den Vernichtungslagern geschehen ist! Es ist doch lächerlich (…), dass wir den Tod von sechs Millionen Menschen dadurch vergelten wollen, dass wir Adolf Eichmann aufhängen.“ Der Autor geht über eine solche Kritik noch hinaus: Das Verfahren gegen Eichmann bildete seiner Ansicht nach einen „Wendepunkt“ (S. 149) in der Entwicklung des Bewusstseins vieler Israeli: „Der Eichmann-Prozess war ein Initiationsritual, in dem Israel sich als Opfer bestätigte. Im Laufe der Jahre ist es dasselbe Lied geblieben (…) Wir müssen uns ständig als ewige Opfer fühlen und Opfer bringen (…) Kein Wunder, dass jeder beliebige Feind in unseren Augen zu Hitler wird.“ (S. 150) Richtiger wäre es nach Ansicht des Autors gewesen, das Verfahren nicht allein auf Eichmann zu beziehen, sondern den Nationalsozialismus insgesamt zum Gegenstand zu machen, und zwar als den Versuch, die jüdische Kultur zu vernichten und damit den jüdischen Zweig der Völkerfamilie abzuschneiden (S. 151). Der Autor plädiert also dafür, den Völkermord an den europäischen Juden nicht allein in einem national-jüdischen Rahmen zu sehen, sondern universalistisch, als Katastrophe für die gesamte Menschheit, zu werten.

 

Fragt man, welche Schlussfolgerungen der Autor aus seinen Einsichten zieht, so seien hier lediglich einige rechtspolitische Konsequenzen angeführt. An erster Stelle ist sein neues Verständnis der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk zu nennen. Ein israelisches Gesetz, das sog. Rückkehrgesetz (von der Knesset am 5. 7. 1950 verabschiedet), ermöglicht allen Menschen, die eine jüdische Mutter haben oder zum Judentum konvertiert sind, die israelische Staatsbürgerschaft anzunehmen und nach Israel einzuwandern. Diese Aufnahmekriterien entsprechen dem talmudischen Recht, wobei die Konversion zum Judentum in der Praxis an strenge, von der jüdischen Orthodoxie festgelegte Voraussetzungen geknüpft wird. Das Rückkehrgesetz bildet dem Autor zufolge im historischen Verständnis der meisten Israeli eine Antwort auf die Nürnberger Rassengesetze. Jeder vom nationalsozialistischen Deutschland als „Jude“ verfolgte Mensch sollte in Israel Aufnahme finden können. Der Autor plädiert dafür, sich auch in diesem Punkt von der Fixierung auf den Holocaust zu lösen und neue Kriterien einzuführen: „Bis wir den Zusammenhang zwischen israelischer Staatsbürgerschaft und den Nürnberger Gesetzen kappen, wird Hitler effektiv weiter entscheiden, wer Jude ist.“ (S. 270) Der Autor spricht sich dafür aus, als israelischen Juden anzuerkennen, wer „sich mit den menschlichen und universellen Aspekten der Tora und den Träumen unserer Propheten identifiziert, mit den Errungenschaften früherer jüdischer Zivilisationen und mit der jüdischen Kultur der Gegenwart“ (S. 271). Darüber hinaus setzt sich der Autor dafür ein, den im israelischen Strafrecht enthaltenen Tatbestand des Verbrechens gegen das jüdische Volk zu streichen (der zum Beispiel im Prozess gegen Eichmann von Bedeutung gewesen ist). Wenn sich das jüdische Volk als „integralen Bestandteil der Menschheit“ betrachte, sei ein solcher Tatbestand nicht nur überflüssig, sondern perpetuiere auch eine vom Rest der Menschheit „gesonderte Lebensweise“. Es gebe jedoch „keine separate jüdische Menschheit“. Die Aufgabe des jüdischen Volkes bestehe vielmehr darin, sich „in die gesamte menschliche Gesellschaft (zu) integrieren“ (S. 272).

 

Das Buch ist gerade auch für nicht-jüdische Leser von Interesse. Folgt man der zentralen These des Autors, wonach viele Juden in einer problematischen Weise auf den Holocaust fixiert sind, werden Eigenarten der israelischen Politik besser verständlich, etwa die enge Anlehnung an die USA und die Haltung gegenüber den Palästinensern. Ein derartiges Verständnis schließt freilich eine menschenrechtlich begründete Kritik an israelischen Maßnahmen gegenüber den Palästinensern nicht aus. Im Gegenteil: Sie liegt ganz auf der Linie des Autors, der sich vielfach zu den Menschenrechten bekennt. Der Autor schreibt häufig rhetorisch zugespitzt und pathetisch (man glaubt zu spüren, dass er einmal Parlamentssprecher und überhaupt in der politischen Öffentlichkeit tätig war). Insgesamt ist das Buch klar und anschaulich geschrieben und daher gut lesbar. Auch aus diesem Grund kann es zur Lektüre empfohlen werden.

 

Heidelberg                                                                              Hans-Michael Empel