Vom Recht zur Geschichte. Akten aus NS-Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte, hg. v. Finger, Jürgen/Keller, Sven/Wirsching, Andreas. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009. 299 S., Ill. Besprochen von Martin Moll., ZRG GA 127 (2010)
Vom Recht zur Geschichte. Akten aus NS-Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte, hg. v. Finger, Jürgen/Keller, Sven/Wirsching, Andreas. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009. 299 S., Ill. Besprochen von Martin Moll.
Zu den zentralen Aspekten des schwierigen, im Grunde bis heute nicht abgeschlossenen Bemühens um einen adäquaten Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches“ gehört(e) nach 1945 (mit Ausläufern bis in die unmittelbare Gegenwart) die juristische Aufarbeitung des vom NS-Regime begangenen Unrechts. Die Abertausende, schon kurz nach der deutschen Kapitulation einsetzenden Verfahren vor alliierten, westdeutschen und ostdeutschen sowie österreichischen Gerichten haben einen unübersehbaren Aktenberg produziert, dessen Inhalte seit den 1980er Jahren schrittweise der Forschung zugänglich gemacht und von dieser auch genutzt wurden und werden.
In einem ersten Schritt dienten diese Quellen (insbesondere Dokumente aus NS-Provenienz sowie Aussagen von Tätern, Opfern und Zeugen) zur Rekonstruktion der vor allem während des zweiten Weltkrieges begangenen Verbrechen. Auf einer zweiten Stufe wurden die Ermittlungen und Verfahren selbst und nicht mehr die in ihnen verhandelten Straftaten Gegenstand der Forschung – man denke etwa an den Jerusalemer Eichmann-Prozess von 1961, bei dessen Beschreibung es zum Beispiel Hannah Arendt weniger um Eichmanns Untaten als um dessen „banales“ Auftreten vor seinen israelischen Richtern und um die Psychologie des Angeklagten ging. Erst in einer dritten und jüngsten Phase rückten die überlieferten Gerichtsakten in den Mittelpunkt forschenden Interesses: Die Begleitumstände ihrer Entstehung werden nun ebenso untersucht wie die mit ihrer Nutzung – für welche Fragestellung auch immer – verbundenen interpretatorischen und quellenkritischen Probleme, womit nicht behauptet werden soll, dass letztere während der ersten und zweiten Phase nicht bereits mehr oder minder intensiv in Rechnung gestellt worden seien.
Bezüglich sämtlicher Nachfolgestaaten „Großdeutschlands“ – und zu weiten Teilen gilt die folgende Feststellung auch für die zwischen 1939 und 1945 von Deutschland okkupierten Staaten – hat die Erforschung der um die Ahndung der NS-Verbrechen bemühten Nachkriegsjustiz mittlerweile ein hohes Niveau erreicht; einschlägige Veröffentlichungen füllen inzwischen ganze Bibliotheken und noch ist kein Ende absehbar, bemühen sich doch gleich mehrere – wiederum vergleichsweise – finanziell gut dotierte Institutionen um die weitere wissenschaftliche Bearbeitung dieses Gegenstandes. Hierher rechnet auch die möglichst lückenlose Dokumentation der noch vorhandenen Verfahrensakten sowie deren – ansatzweise bereits realisierte – Edition und Zugänglichmachung unter Einbeziehung neuer Medien (Stichwort online-Zugang durch das Internet).
Vor diesem Hintergrund scheint die Zeit reif, sämtliche Fragen rund um die Nutzung von Akten aus NS-Prozessen für die zeitgeschichtliche Forschung gebündelt zu behandeln und darzustellen; dies umso mehr, als die Heranziehung dieser Akten nicht nur häufig (mangels Alternativen) unverzichtbar ist, sondern erkennbar modischen Trends unterliegt, mit denen die erforderliche methodische und quellenkritische Reflexion nicht immer Schritt hält. Um dem abzuhelfen, versammelten die drei Herausgeber, die allesamt an der Universität Augsburg lehren, im Sommer 2007 nahezu alle auf dem Feld „NS-Verfahren“ tätigen, einschlägig ausgewiesenen Experten vornehmlich aus Deutschland, Österreich und den Niederlanden zu einer Tagung, die sich sowohl der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen als auch der Verwendung von Strafprozessakten als historische Quellen widmete. Die Beiträge dieser Konferenz liegen nun gedruckt vor; sie streben weniger die Dokumentation der gehaltenen Referate an als vielmehr die Vorlage eines die Forschung leitenden Handbuchs zu allen einschlägigen Aspekten der Konferenzthemen.
Die (abgesehen von der Einleitung der Herausgeber) insgesamt 22 Beiträge aus der Feder von 21 Autoren (einige Texte sind von zwei Autoren verfasst wie auch einige Verfasser mehrfach vertreten sind) zeichnen sich in der Regel durch Knappheit aus; sie sind selten länger als 15 Seiten lang unter jeweiligem Einschluss einer kommentierten Bibliographie. Gegliedert sind die Beiträge in drei Themenblöcke, von denen der erste „Grundlagen der Prozesse“ (sechs Beiträge) recht konventionell gehalten ist, indem er in prägnanten Überblicken die alliierten Nachkriegsprozesse gegen NS-Verbrecher, den Wiederaufbau des Justizwesens in den Nachfolgestaaten sowie die von deutschen und österreichischen Gerichten durchgeführten NS-Verfahren bilanziert. Ein Beitrag über Italien – warum unter allen deutschbesetzten Staaten nur dieser ausgewählt wurde, bleibt unklar – rundet diesen ersten Block ab. Er bringt im Grunde wenig Neues und resümiert im Wesentlichen den in Publikationen andernorts ausgebreiteten Forschungsstand. Zum Verständnis der nachfolgenden Teile ist dieser Abschnitt freilich für ein intendiertes Handbuch unerlässlich.
Abschnitt 2 „Quellenkritik, Methode, Darstellung“ ist mit neun Texten auf rund 120 Seiten der zentrale und umfangreichste des Bandes. Wie aus der Überschrift ersichtlich, widmet er sich teils generell, teils anhand von Fallbeispielen quellenkundlichen Fragen, behandelt u. a. die divergierenden Aussagekontexte von Tätern und Opfern, den Quellenwert in Osteuropa durchgeführter, rechtsstaatlich fragwürdiger Prozesse, die Verwendung von Tonbandaufnahmen einzelner Verhandlungen, kulturgeschichtliche Fragen an Gerichtsakten sowie eine Ausstellung über den Ulmer Einsatzgruppenprozess.
Erst mit dem dritten Teil „Forschungspraxis: vom Finden der Quellen“ erreicht der Leser den Kern des als Handbuch konzipierten Bandes, der zwar sieben Beiträge, aber insgesamt lediglich 45 Druckseiten umfasst und somit der mit Abstand kürzeste des Bandes ist. Hier werden in gedrängter Knappheit archivgesetzliche Grundlagen der Benutzung von Akten aus NS-Prozessen, die Bestände der Ludwidsburger „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ sowie jene des Wiener Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und mehrere, zum Teil im Internet verfügbare Datenbanken, Quellen- und Urteilssammlungen vorgestellt und deren Benutzungsbedingungen mitgeteilt. Zusammengelesen verdeutlichen die Ausführungen somit, welche Vorermittlungs- und Prozessakten heute noch erhalten sind, wo sie aufbewahrt werden und ob sie verwertet werden können. Zum Teil erhebliche Lücken und Zugangsbeschränkungen werden hier ebenso angesprochen wie deren Gegenstück, die mittlerweile von zu Hause aus mögliche Abfrage von online-Datenbanken. Dabei erfährt der Leser allerdings in erster Linie, um welche Quellengattungen es sich handelt und unter welchen Auflagen sie eingesehen werden können. Man hätte sich gewünscht, dass die an den einschlägigen Institutionen tätigen, mit dem Inhalt der Akten vertrauten Verfasser wenigstens einige Hinweise auf lohnende Fragestellungen für (Jung-)Forscher beigesteuert hätten.
In Summe vermittelt der von Überschneidungen nicht freie Band einen zwiespältigen Eindruck, wird doch in erheblichem Umfang Bekanntes wiederholt, anstatt neue Perspektiven aufzuzeigen. Weder die Abfolge der Texte noch der ständige Wechsel zwischen allgemein-theoretisch-methodischen Überlegungen und teilweise sehr ins Detail gehenden, in ihrer Generalisierbarkeit unklaren Fallstudien erzeugt ein kohärentes Bild. Gleichwohl verkörpert der Band zweifellos eine bisher nicht vorliegende Synopse, die zwar für Experten wenig Neues bietet, wohl aber Neulingen auf diesem Thema – insbesondere Verfassern von Dissertationen – eine nützliche Orientierung an die Hand gibt. Diesem Zweck dient nicht zuletzt eine Linkliste sowie ein 35seitiges Literaturverzeichnis, das in Ergänzung zu der jedem Beitrag an die Seite gestellten Auswahlbibliographie zu lesen ist.
Graz Martin Moll