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Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation. Vorträge bei deutsch-japanischen Symposien in Tokyo 2004 und Freiburg 2005, hg. v. Wahl, Rainer (= Schriften zum öffentlichen Recht 1104). Duncker & Humblot, Berlin 2008. 525 S. Besprochen von Walter Pauly., ZRG GA 127 (2010)

Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation. Vorträge bei deutsch-japanischen Symposien in Tokyo 2004 und Freiburg 2005, hg. v. Wahl, Rainer (= Schriften zum öffentlichen Recht 1104). Duncker & Humblot, Berlin 2008. 525 S. Besprochen von Walter Pauly.

 

Anzuzeigender Sammelband thematisiert die Verfassung in der Zeit, die Spannung zwischen Kontinuitätsgewähr durch stabiles Verfassungsrecht einerseits und Reformbedarf auf Grund gesellschaftlichen Wandels andererseits. Der Vergleich Deutschlands gerade mit Japan verdient deswegen Aufmerksamkeit, weil hierzulande die Verfassungsänderung mit bereits über 50 Fällen seit 1949 nahezu schon zum politischen Tagesgeschäft gehört, während  Japan bislang keinen einzigen solchen Fall zu verzeichnen hat. Niemand wird allerdings meinen, die Dynamik der japanischen Gesellschaft sei vergleichsweise geringer und bedürfe weniger der verfassungsrechtlichen Berücksichtigung und Formung, wie Johannes Masing zu Recht betont (S. 131). Zugleich benennt er mit dem Gebiet der Militäreinsätze jenseits der Landesverteidigung für beide Länder Verfassungsmaterien, die eine grundstürzende Umbildung allein im Wege der Verfassungsinterpretation erfahren haben, zumal die Kraft für eine förmliche Verfassungsänderung fehlte. Um so plausibler erscheint das von Rainer Wahl formulierte „Ergänzungsverhältnis zwischen Verfassungsänderung und Verfassungsinterpretation“ (S. 66), wobei diese komplementären und inzwischen weitgehend äquivalenten Entwicklungsmodi einer Verfassung in den Verfassungskulturen Deutschlands und Japans unterschiedlich intensiv genutzt worden sind. Seitenblicke gelten aber auch der Schweiz, die sich im Wege der Totalrevision im Jahre 1874 und 2000 weithin neu konstituiert hat, sowie den Vereinigten Staaten von Amerika, die ihre über 200 Jahre alte Verfassung schon früh und fundamental durch zehn Amendments (1789/91) grundrechtlich ergänzt haben, wie Wahl herausstellt (S. 69), und gleichwohl stark auf den fast schon mythologisierten Willen der Verfassungsväter zentriert blieben, wie die intensive Diskussion um den „Originalism“ belegt, über die Werner Heun berichtet (S. 245). Das zeitgeschichtliche Panorama der Grundgesetzänderungen umspannt Anpassungen an die internationale Einbindung und Ablösung von alliierten Souveränitätsrechten im Zuge des Nachtrags einer Wehr- und Notstandsverfassung, bundesstaatliche Kompetenzverschiebungen unter wechselnden Paradigmen, eine „Keynesianisierung“ der Finanzverfassung sowie beitritts-, europarechts- und umweltschutzbedingte Novellierungen. In Einzelbeiträgen werden die Wandlungen in den entsprechenden Themenfeldern, insbesondere auch auf dem Feld von Ehe und Familie, im Einzelnen analysiert. Bemerkenswerterweise sichert das Bundesverfassungsgericht durch eine verstärkte Abstützung grundrechtlicher Leitentscheidungen auf die verfassungsänderungsfeste Menschenwürdegarantie bestimmte Positionen sogar gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber ab, was Thomas Würtenberger als „problematisch“ vermerkt (S. 57). Wahl konstatiert, dass mit der Institution einer derart umfassend ausgebildeten Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur der Stellenwert der Verfassungsrechtswissenschaft verändert worden ist, sondern auch der Verfassungswandel durch Neuinterpretation in die Verwaltung des Bundesverfassungsgerichts gelegt ist (S. 46), das tendenziell auf leisen Sohlen voranschreitet und die Entdeckung judiziell bewirkter Veränderungen der hellhörigen Literatur überlässt. Einen deutsch-japanischen Vergleich liefert schließlich Heinrich Wilms im Hinblick auf die alliierte Einflussnahme auf die Entstehung des Grundgesetzes wie der japanischen Verfassung in der Situation eines von außen gewaltsam herbeigeführten Systemwechsels. Während der Einfluss der Alliierten auf das Grundgesetz nur relativ gering anzusetzen sei (S. 110), gelte die Verfassung Japans im Westen als „McArthur-Verfassung“ (S. 116), obschon die Japaner den amerikanischen Komplettentwurf erheblich modifiziert hätten, was allerdings noch weiterer Untersuchung bedürfe.

 

Jena                                                                                       Walter Pauly