Ullrich, Stefan, Untersuchungen zum Einfluss des lübischen Rechts auf die Rechte von Bergen, Stockholm und Visby (= Rechtshistorische Reihe 375). Lang, Frankfurt am Main 2008. 292 S. Besprochen von Peter Oestmann., ZRG GA 127 (2010)
Ullrich, Stefan, Untersuchungen zum Einfluss des lübischen Rechts auf die Rechte von Bergen, Stockholm und Visby (= Rechtshistorische Reihe 375). Lang, Frankfurt am Main 2008. 292 S. Besprochen von Peter Oestmann.
Verwandtschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen mittelalterlichen Rechtsquellen sind schnell behauptet, aber schwer zu beweisen. Die unbekümmerte Redeweise von Rechtskreisen oder Rechtsfamilien führt teilweise in die Irre. Stephan Dusil hat dies vor kurzem am Beispiel der Soester Stadtrechtsfamilie eindrucksvoll gezeigt. Im Fall privilegialer Verleihung von Stadtrechten mag die Zusammengehörigkeit auf der Hand liegen. Aber die Grenzlinie zwischen bloßer Rechtsähnlichkeit und Beeinflussung zu finden, scheitert oft an der gerade in diesem Punkt unklaren Quellenlage. Es ist deswegen mutig, aber auch ein wenig leichtsinnig, wenn Stefan Ullrich sich in seiner von Jürgen Weitzel betreuten Würzburger Dissertation gezielt mit dem Einfluss des lübischen Rechts auf die Rechte von Bergen, Stockholm und Visby beschäftigt. Gleich zu Beginn stellt der Verfasser klar, dass über die Frage, ob und in welchem Maße das lübische Recht die schwedischen und teilweise auch norwegischen Stadtrechte des Mittelalters beeinflusst habe, seit über einhundert Jahren verschiedene Auffassungen kursieren. Dass dies möglicherweise an dem unpräzisen Begriff „Einfluss“ liegen könnte, liegt auf der Hand, wird im Text aber nicht angesprochen. Statt dessen versucht Ullrich, den bisherigen Meinungsstreit zu entscheiden, nämlich auf der Basis normativer Quellen aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Bewusst schließt er Tochterstädte und Enkelstädte Lübecks aus der Untersuchung aus und wählt mit Stockholm, Visby und Bergen Handelsstädte, deren mittelalterliche Rolle als Handelshäfen ähnliche Ausgangssituationen erwarten lässt. Vor allem gibt es aus diesen Städten auch jeweils für den interessierenden Zeitraum Quellen. Für Stockholm ist dies das Magnus Erikssons Stadslag, benannt nach dem schwedischen König Magnus Eriksson (1319-1364). Vorausgegangen war ein älteres Bjärköarätt vom Ende des 13. Jahrhunderts. Das Magnus Erikssons Stadslag galt nicht nur in Stockholm, sondern in allen schwedischen Städten mit Ausnahme von Visby. In Visby entstand zwischen 1341 und 1344 eine umfangreiche niederdeutsche Rechtsaufzeichnung. Etwas älter ist das in Bergen geltende Stadtrecht, das Magnus Lagabøters bylov von 1276, das zu denjenigen Gesetzgebungen zählt, mit denen König Magnus Lagabøter die Land- und Stadtrechte vereinheitlichte. Diese drei stadtrechtlichen Quellen vergleich Ullrich mit dem lübischen Recht des 13. Jahrhunderts, wie es etwa in den Editionen Hachs und Korléns greifbar ist. Über Abhängigkeiten und Einflüsse im Konkreten lässt sich trotz dieser verdienstvollen Gegenüberstellung weiterhin spekulieren. Mehrfach bezieht Ullrich freilich wirtschaftliche oder gesellschafliche Begebenheiten der vier Städte in seine Überlegungen ein und vermag auf diese Weise Ähnlichkeiten und Unterschiede plausibel zu erklären.
Methodisch geht die Untersuchung immer gleich vor: Der Autor wählt sich einen Rechtsbereich, schildert sodann die Rechtslage in Lübeck und anschließend in den skandinavischen Städten. Daran schließen sich „Betrachtungen“ an, die eine Art Zwischenergebnis bilden und zugleich Thesen zur Beeinflussung der Rechtsquellen durch das lübische Recht aufstellen. Hierbei hat sich Ullrich in zahlreiche mittelalterliche Regelungsprobleme eingearbeitet. Er stellt das Bürgerrecht dar und konfrontiert es mit dem sog. Gästerecht, also dem Rechtsstatus fremder Händler. Vor allem geht die Untersuchung auf zahlreiche Fragen ein, die man heute dem materiellen Zivilrecht zuordnen würde. Die Regelungen über Dienstverträge werden gegenüber gestellt, ebenso wie solche zu Kaufverträgen, hier sogar noch differenziert nach verschiedenen Arten des Vertragsschlusses (Gottespfennig, Weinkauf, Fürkauf), Sachmängelhaftung und Rechtsmängelhaftung. Die Formen des Gesellschaftshandels tauchen ebenso auf wie Probleme des Seerechts und des Schiffsrechts, begonnen vom Frachtvertrag über die Rechtsstellung der Besatzungsmitglieder bis hin zu Regelungen bei Haverei und Seewurf. In den jeweiligen „Betrachtungen“ äußert sich Ullrich erfreulich vorsichtig zu Fragen von Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten der besprochenen Rechtquellen (S. 102-103). Wenn dagegen ein festes Ergebnis erzielt werden soll, also ein Einfluss des lübischen Rechts auf die anderen Städte bejaht wird (z. B. S. 174, 221), können die letzten Zweifel nie verstummen. Im Gesamtergebnis werden die Differenzierungen der Binnenteile sogar aufgegeben und wird statt dessen eine klare Beeinflussung der skandinavischen Rechte durch Lübeck bejaht (S. 269).
Lässt man das grundlegende methodische Problem, Einfluss messen zu wollen, beiseite, handelt es sich um eine materialreiche Studie von hohem Quellenwert, weil der Autor die mittelalterlichen skandinavischen Texte allesamt ins Deutsche übersetzt. Verdienstvoll ist etwa die Gegenüberstellung von Regeln zur Fahrnisverfolgung in Dritthand. Hier und an anderen Stellen gelingt es Ullrich, durch Hinweis auf die tatsächlichen Handelsgewohnheiten, z. B. Kauf unter Zeugen, die Herausgabevorschriften mit ihrem jeweiligen Beweiserfordernis einsichtig zu erklären. Die kleinteilige Gliederung des Buches ermöglicht es, auch Einzelfragen gezielt nachzulesen, obwohl es leider kein Register gibt. Durch Einbeziehung der skandinavischen Forschungsliteratur gelingt es Ullrich an manchen Stellen, Ansichten der älteren deutschen Literatur zu korrigieren. Eine Aufzählung der Details ist in einer Besprechung nicht angebracht, doch wird man bei vielen Fragen zum Privatrecht in mittelalterlichen Hansestädten bei Ullrich fündig.
Einige Schwächen der Arbeit seien nicht verschwiegen. Das betrifft teilweise Transkriptionsfehler aus älteren Quellen (z. B. 184 „uorkost“ statt „uorkoft“), ungenaue Übersetzungen mit sehr moderner Terminologie und zahlreiche Zeichensetzungs- und Tempusfehler. Vor allem aber weckt die Arbeit mit der Ankündigung, Einflüsse nachweisen zu wollen, Erwartungen, die sie nicht erfüllen kann. Was bleibt, ist eine informative Quellenschau im deutsch-skandinavischen Vergleich, die sowohl die Forschungen zum lübischen Recht als auch zur mittelalterlichen Privatrechtsgeschichte bereichert.
Münster Peter Oestmann