Teuscher, Simon, Erzähltes Recht. Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter. Campus, Frankfurt am Main 2007. 359 S. Besprochen von Lukas Gschwend., ZRG GA 127 (2010)
Teuscher, Simon, Erzähltes Recht. Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter. Campus, Frankfurt am Main 2007. 359 S. Besprochen von Lukas Gschwend.
Das vorliegende Werk wurde von der philosophischen Fakultät der Universität Zürich 2005 als Habilitationsschrift angenommen. Der Autor hat seit 2007 einen Lehrstuhl für die Geschichte des Mittelalters an derselben Universität inne. Mit seiner Studie liefert er gleichermaßen einen Beitrag zur Entstehung von mikrostrukturellen Rechtsquellen im Spätmittelalter als auch zur Geschichte der Verschriftlichung insbesondere als Aspekt der Entstehung und Festigung von Herrschaft. Als Quellenmaterial dienen der Untersuchung hauptsächlich Weistümer und Kundschaftsprotokolle in deutscher und französischer Sprache aus dem Gebiet des heutigen Schweizer Mittellandes. Damit werden nicht nur Quellen aus verschiedenen Sprachgebieten erfasst, sondern auch aus unterschiedlichen Rechtstraditionen, nämlich alamannischer und burgundischer Prägung.
Der Autor setzt die Rechtsverschriftlichung in Beziehung zur Herrschaftsorganisation und geht insbesondere der Frage nach, „wie sich Formen der Festlegung, Aufzeichnung und Umsetzung zuvor ungeschriebener Rechte im Lauf des Spätmittelalters veränderten“ (S. 306). Er untersucht die Veränderungen des Rechtsverständnisses auf mikrostruktureller Ebene und fokussiert dabei Prozess und Bedeutung der Verschriftlichung des Rechts. Entgegen dem seit Jacob Grimm überlieferten germanistischen Entwicklungsmodell, wonach im Mittelalter Recht hauptsächlich althergebrachte Regeln und traditionelle Verhaltensmuster beinhaltete und erst mit der Rezeption des römischen Rechts und der Rechtsverschriftlichung zum Herrschaftsinstrument und Ordnungssystem wurde, knüpft Teuscher an neuere Befunde an, wonach im Früh- und Hochmittelalter seltener von „gutem alten Recht“ die Rede sei als im Spätmittelalter. Im Vordergrund seiner Betrachtung steht daher die Problematik, wie sich die Formen der Festlegung, Aufzeichnung und Umsetzung alten Rechts im Lauf des Spätmittelalters entwickelten. Dabei unterscheidet er drei Prozesse: Im 13. bis 15 Jahrhundert veränderten sich die institutionellen Rahmenbedingungen für die Ausübung, Verhandlung und Aufzeichnung lokaler Rechte grundlegend. Insbesondere an der Peripherie von Herrschaftskomplexen wurde Recht schriftlich aufgezeichnet. Im Lauf des Spätmittelalters schufen die Akteure der Herrschaft zunehmend kohärente und umfassendere Rechtsordnungen, was Teuscher vor allem gestützt auf die Ausbreitung von Weistümern während des 14. und 15. Jahrhunderts nachweist. Die Begründungsmuster für die Rechtsschöpfung wurden in einem weiteren Schritt prozesshaft nachgeliefert. Der bloße Entstehungsbericht einzelner Normen reichte nicht mehr für deren Legitimation. Vielmehr wurde nach der lange währenden, dauerhaften Geltung des Normkomplexes gefragt. Daher beriefen sich spätmittelalterliche Rechtsquellen stets auf großes Alter und über viele Generationen währende Geltungsdauer. Der Autor überzeugt mit dieser Erklärung. Würde man die Perspektive auf die Entstehung der Stammesrechte im Frühmittelalter erweitern, könnte der Argumentationsstrang wohl noch weiter verstärkt werden.
Teuscher unterscheidet zwei Befragungsverfahren zur Erhebung von Rechtsgewohnheiten im Rahmen der Verschriftlichung und des Konsolidierungsprozesses der Herrschaft, nämlich die Kundschaft und die Weisung an Dinggerichte. Die Kundschaftsverfahren orientierten sich methodisch zunehmend an der Zeugenbefragung des kanonischen Inquisitionsprozesses. Weisungen dienten weniger der durch die Weistümer in den Vordergrund gerückten ritualisierten Erinnerungsfunktion, sondern waren vielmehr das Ergebnis von Konfliktlösungsprozessen durch Ein(ig)ung.
In einem weiteren Teil seiner Untersuchung behandelt der Autor den Umgang der Akteure mit ihren Herrschaftsrechten. Er zeigt auf, wie Gewohnheiten und Rechte genetisch in einem dialektischen Wechselwirkungsverhältnis stehen. Die gerichtliche Festschreibung von Rechtsgewohnheiten soll Ordnung schaffen, eine Ordnung, die ihren Ursprung im Lokalen nimmt und zunehmend die Herrschaftsorganisation auch horizontal verfestigt. Erst allmählich entsteht im Spätmittelalter eine immer deutlichere Vertikalität der aufstrebenden Territorialherrschaft.
In zwei weiteren Hauptkapiteln analysiert Teuscher Kundschaftsaufzeichnungen nach Protokollier- und Erzähltechniken sowie Weistümer als mikrokosmische Rechtsdarstellungen. Der Autor macht deutlich, dass Weistümer die traditionalen gesellschaftlichen Zustände keineswegs authentisch reflektieren, zumal diese nur einen Teil der lokalrechtlich relevanten Normen beinhalten. Neben oder anstelle von Weistümern dienen Privilegienbriefe, Recognitionsprotokolle oder Schiedsgerichtsurkunden. Die Weistümer spielten jedoch für die Legitimation von Herrschaft und Recht sowie für die Rechtsvereinheitlichung in konsolidierten Herrschaftskörpern eine wichtige Rolle.
Das letzte Hauptkapitel erörtert verschiedene Stile des Dokumentgebrauchs. Der Autor untersucht Narrationsmerkmale und Ostentationsfunktionen und liefert eine kurze, kritische Darstellung der im untersuchten Quellenraum gebräuchlichen Kanzleipraktiken.
Rechtshistorische Leser juristischer Provenienz werden sich – abgesehen von einzelnen terminologischen Unklarheiten, wie etwa der mehr aus der Quellennomenklatur geschöpften als systematisch begründeten Unterscheidung von Erbrecht und Zivilrecht (S. 46, 62) – unwillkürlich fragen, weshalb Teuscher Jacob Grimms Rechtsquellenforschung als weitgehend alleiniges Fundament der rechtshistorischen Beschäftigung mit ungeschriebenen lokalen Rechtsregeln im 19. Jahrhundert zementiert. Die Verdienste der historischen Rechtsschule werden dabei weitgehend ausgeblendet. Namentlich findet die Entwicklung der schweizerischen Rechtsquellenforschung von Johann Caspar Bluntschli über Ulrich Stutz, Andreas Heusler bis hin zu Eugen Huber so gut wie keine Erwähnung. Auch die Skizzierung der Forschungsentwicklung von Grimm über Fritz Kern hin zu Jack Goody und Michael Clanchy entspricht nicht der rechtswissenschaftlichen Wahrnehmung, zumal Rechtsquellenexperten wie Hermann Rennefahrt, Karl Siegfried Bader und Karl Kroeschell nur am Rande Erwähnung finden. Im Übrigen erweist sich die Untersuchung aber auch für den rechtswissenschaftlich verankerten Rechtshistoriker argumentativ als stringent und inhaltlich als plausibel. Teuscher legt einen neuen und elementaren Baustein in das Gemäuer der rechtshistorisch-mediävistischen Grundlagenforschung. Die Studie gehört zweifellos gleichermaßen in die Handbibliothek des sich mit mittelalterlichen lokalen Rechten befassenden Juristen wie des Mittelalterhistorikers. Sie wird auf Jahrzehnte hinaus zum festen Bestandteil der Forschungsliteratur über Weistümer und Verschriftlichung im deutschen Wissenschaftsraum gehören.
Sankt Gallen Lukas Gschwend