Schwartz, Philipp, Das lettländische Zivilgesetzbuch vom 28. Januar 1937 und seine Entstehungsgeschichte. Shaker, Aachen 2008. 334 S. Besprochen von Werner Schubert., ZRG GA 127 (2010)
Schwartz, Philipp, Das lettländische Zivilgesetzbuch vom 28. Januar 1937 und seine Entstehungsgeschichte. Shaker, Aachen 2008. 334 S. Besprochen von Werner Schubert.
Mit seinem Werk erschließt Schwartz erstmals Motive, Konzeptionen und Inhalte des Zivilgesetzbuches von 1937 für Lettland anhand insbesondere des umfangreichen lettischen Schrifttums zu dieser Kodifikation und zu deren Vorgeschichte. Die Gesetzgebungs- bzw. die Sitzungsprotokolle vor allem der maßgebenden Gesetzkommission von 1933-1936 waren leider nicht mehr auffindbar. Eine deutsche Übersetzung der litauischen Originalfassung des ZGB erschien 1937 als „Ausgabe des lettischen Justizministeriums“. Schwartz behandelt zunächst die Rechtsentwicklung in den russischen Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland bis zur Gründung des unabhängigen lettischen Staates am 18. 11. 1918 (S. 9ff.). In diesen Provinzen galt seit 1864 das Provinzialrecht der Ostseegouvernements (Teil III: Liv-, Est- und Curländisches Privatrecht [BPR III; seit 1919 auch Lcl]), das eine Sammlung und Systematisierung des bestehenden Rechts in 4600 Bestimmungen enthielt und sich zu über die Hälfte auf das römische Recht stützte. Zu Lettland kam 1918 das Kurland, das südliche Livland und Lettgallen [Dünaburg], in dem hinsichtlich des Zivilrechts der von Schwartz nicht detailliert besprochene Svod (russisches Zivilgesetz X von 1834) galt.
Das Kapitel 2 des Werkes umfasst in vier Abschnitten die Entstehung der lettischen Zivilgesetzgebung. Teil 1 behandelt die Diskussion über den richtigen Weg der lettischen Gesetzgebung (Rezeption ausländischer Kodifikationen, Revision des BPR III oder Erarbeitung einer eigenständigen neuen Kodifikation). In den Kapiteln 2 und 3 (S. 54ff., 67ff.) geht der Verfasser auf die Arbeiten der ersten beiden Gesetzgebungskommissionen (1920, 1924) und auf die umfangreiche, zum Teil rechtsvereinheitlichende und reformierende Einzelgesetzgebung bis 1934 ein. Wichtig war insbesondere das Ehegesetz von 1921, das die fakultative Zivilehe mit ausschließlicher Zuständigkeit der weltlichen Gerichte in Ehesachen einführte und die Konventionalscheidung zuließ (S. 73f.). Regelungsmaterien weiterer Gesetze waren das Miet-, Unehelichen- und Vormundschaftsrecht sowie das Luftverkehrs- und Kraftfahrzeugrecht. Hingewiesen sei noch auf die Agrarreformgesetze von 1919, 1927 und 1928, die eine entschädigungslose Enteignung der zumeist deutschbaltischen Großgrundbesitzer bis auf ein Restgut von 50 ha mit Ausnahme der Stadtgüter vorsah (S. 54f.). Ferner liegen aus der genannten Zeit mehrere Teilentwürfe zur geplanten Kodifikation vor, die jedoch zunächst nur eine Revision des bestehenden Zivilrechts, d. h. des BPR III, zum Ziel hatte. Dies gilt zunächst auch für die Arbeiten der dritten Kodifikationskommission von 1933, die erst nach dem Staatsstreich vom Mai 1934 (Errichtung eines autoritären Regimes unter Ulmanis) den Revisionsgedanken aufgab und in 120 Sitzungen den Entwurf zu einem neuen, eigenständigen Zivilgesetzbuch ausarbeitete. Dieser wurde in 40 Sitzungen von dem sog. Kleinen Kabinett revidiert und im Januar 1937 vom Ministerkabinett verabschiedet.
In Kapitel 3 geht Schwartz den tragenden Grundsätzen und dem Inhalt des ZGB von 1937 nach (S. 149-229). Die 2400 Bestimmungen umfassende Kodifikation (1938 ergänzt durch ein Grundbuchgesetz) bedeutete insgesamt eine Abkehr von einem individualistisch ausgerichteten Privatrecht hin zu einem stärker gemeinschaftsbezogenen sozialen Recht (S. 153). Dies kam bereits in § 1 der „Einleitung“ zum Ausdruck: „Rechte sind auszuüben und Pflichten sind zu erfüllen nach gutem Glauben“. Allerdings beruht ein nicht unerheblicher Teil des ZGB auf dem BPR III und damit auf dem römischen Recht. Nicht ganz unerheblich waren auch die Einflüsse des schweizerischen Zivilgesetzbuchs und des Bürgerlichen Gesetzbuchs des Deutschen Reiches. Von den Einzelregelungen seien hervorgehoben: Trennung des schuldrechtlichen Rechtsgeschäfts von der Übereignung, die jedoch kausal ausgestaltet war; Ablehnung eines gutgläubigen Erwerbs, jedoch Versagung eines Herausgabeanspruchs gegen den gutgläubigen Erwerber einer beweglichen Sache; Einführung des Grundbuchsystems; akzessorische Hypothek als einzige Grundpfandform mit Zulassung jedoch der Blankozession und Beibehaltung des Instituts der ruhenden Erbschaft. Unklar bleibt die Reichweite des deliktischen Generaltatbestandes des § 1635: „Jede Rechtsverletzung, d. i. jede an sich unerlaubte Handlung, gibt dem Geschädigten das Recht, vom Verletzenden Entschädigung zu verlangen, soweit ihm diese Handlung zur Schuld zugerechnet werden kann.“ Erst mit dem ZGB von 1937 wurde das geteilte Eigentum, das in Mitteleuropa bereits im 19. Jahrhundert beseitigt worden war, gegen eine Entschädigung von 8-12% des Grundstückswertes abgeschafft. Für das Familienrecht vermisst der Leser nähere Ausführungen zum Nichtehelichenrecht (Übernahme der exceptio plurium) und des Adoptionsrechts, beides Rechtsgebiete, die in den 20er und 30er Jahren in Mitteleuropa Gegenstand zahlreicher Reformüberlegungen waren.
In Kapitel 4 bringt Schwartz eine Gesamtbeurteilung des ZGB von 1937 in rechtsdogmatischer und rechtspolitischer Hinsicht vornehmlich aus zeitgenössischer lettischer Sicht (S. 231-264). Die Kodifikation beseitigte den lokalen Rechtspartikularismus und den sog. sozialen Partikularismus, d. h. den ständisch orientierten Rechtspartikularismus. Sie brachte hinsichtlich des Modernisierungsbedarfs den Anschluss an das Zivilrecht West- und Mitteleuropas. Vor allem aber ist die Bedeutung des ZGB, das zur Schaffung einer lettischen juristischen Terminologie beitrug, als „große nationale Errungenschaft“ hervorzuheben (so der Staatspräsident Ulmanis, S. 245). Das ZGB galt mit einer Unterbrechung in den Jahren 1940/41 bis 1944 und wurde ab 1992 mit Änderungen sukzessive wieder in Kraft gesetzt. Mit seinem Werk hat Schwartz nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Rechtsgeschichte Lettlands, sondern gleichzeitig auch zur europäischen Rechtsgeschichte der Zwischenkriegszeit geleistet, deren Erforschung noch immer in den Anfängen steckt. Unter diesem Aspekt wären einige detailliertere rechtsvergleichende Hinweise nützlich gewesen, so auf das von Schwartz erwähnte tschechische Zivilgesetzbuch, das jedoch nicht mehr verabschiedet wurde (vgl. S. 232). Nach der Erschließung der Materialien und Grundlagen des ZGB von 1937 steht nunmehr einer vertieften Befassung mit den rechtsdogmatischen und rechtspolitischen Grundlagen dieser Kodifikation nichts mehr im Wege.
Kiel
Werner Schubert