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Schulze, Götz, Die Naturalobligation. Rechtsfigur und Instrument des Rechtsverkehrs einst und heute - zugleich Grundlegung einer Forderungslehre im Zivilrecht (= Ius Privatum 134). Mohr (Siebeck), Tübingen 2008. XXIX, 754 S. Besprochen von Gunter Wesener., ZRG GA 127 (2010)

Schulze, Götz, Die Naturalobligation. Rechtsfigur und Instrument des Rechtsverkehrs einst und heute - zugleich Grundlegung einer Forderungslehre im Zivilrecht (= Ius Privatum 134). Mohr (Siebeck), Tübingen 2008. XXIX, 754 S. Besprochen von Gunter Wesener.

 

Der Verfasser, nunmehr Professor für deutsches Recht an der Universität Lausanne, untersucht in seiner Heidelberger Habilitationsschrift die Rechtsfigur der Naturalobligation in höchst umfassender Weise, in historischer, rechtstheoretischer und rechtsdogmatischer Hinsicht.

 

In der instruktiven Einleitung (S. 1-45) erfolgt eine Einführung in das Thema; offene Fragen und Kontroversen, die Fragestellung der Arbeit, die Hauptthese, Methoden und Grundlagen sowie der Gang der Untersuchung werden aufgezeigt und vorgestellt.

 

Unter einer Naturalobligation versteht Schulze (S. 33) „das schuldrechtliche Leistungspflichtverhältnis, das mit rechtlichen Zwangsmitteln nicht einseitig durchsetzbar ist“. Im Anschluss an Fritz Klingmüller[1] formuliert er: „Das Leistensollen des Schuldners ist nicht erzwingbar.“ Die Naturalobligation sei als dogmatische Rechtsfigur zur Integration in ein europäisches Rechtsinstrument geeignet.

 

Forderungen unterteilen sich in durchsetzbare und nicht durchsetzbare Forderungen, in Zivilobligationen und Naturalobligationen. Diese Letzteren lassen sich wieder in zwei Arten einteilen: in rechtlich anerkannte, gesetzlich vorgegebene Leistungspflichtverhältnisse („institutionelle Naturalobligation“) und in richterlich festgestellte Leistungspflichtverhältnisse. Entstehungsgründe der Naturalobligation sind danach Vertrag, Gesetz und „die richterliche Feststellung eines außerrechtlich im Rahmen der Sozialordnung entstandenen Leistungspflichtverhältnisses“ (S. 33f.).

 

In dieser Besprechung soll vornehmlich auf den historischen Teil der Arbeit (S. 47-235)[2] eingegangen werden. Der Verfasser beginnt mit der Entstehung der obligatio naturalis im klassischen römischen Recht und behandelt die Weiterentwicklung und Ausdehnung des Begriffes bis in die justinianische Epoche (S. 49-82). Als gemeinsames Kennzeichen der obligatio naturalis im justinianischen Recht gilt das Behaltensrecht, die soluti retentio. Ein Leistungsempfänger ist aufgrund einer naturalis obligatio von der bereicherungsrechtlichen Rückgabepflicht befreit (S. 72). Naturalobligationen aus einer sittlichen Verpflichtung (debitum naturale) gelten als nachklassisch (S. 69). Der Rechtsgedanke einer Behaltensberechtigung aus sittlichem Grund findet sich noch in § 814 Hs. 2 BGB (Verfasser S. 73; S. 225f.). Sicherlich trifft zu, dass das römische Recht keine feststehende Theorie der obligatio naturalis entwickelt hat. Die Ausweitung des Begriffs auf eine aequitas naturalis führte zu einer Obligation aus Billigkeitsgründen, die als „Reserveschuldgrund“ ein Behaltensrecht vermittelte (S. 79f.).

 

Nach einem Ausblick auf germanisches Recht, insbesondere auf die Rechtsfigur der Wette sowie die Trennung von Schuld und Haftung (S. 85f.), erörtert der Verfasser (S. 87-90) die Rezeption der römischen obligatio naturalis, die Behandlung durch die Glosse[3], die französische Schule (Cuiacius und Donellus) und den deutschen Usus modernus pandectarum. Die Glossa ordinaria des Accursius unterscheidet zwischen obligatio naturalis und obligatio civilis. Grundsätzlich besitzt jede Obligation beide Elemente, das naturale und das zivile. Wenn ausnahmsweise das zivile Element entfällt, bleibt nur die naturale Schuld (obligatio tantum naturalis, D. 20, 1, 5 pr.) übrig. Mit naturalis tantum wird die Naturalobligation im eigentlichen, technischen Sinne bezeichnet (S. 88).

 

Hugo Donellus (1527‑1591) unterscheidet zwischen obligatio perfecta und imperfecta. Beide Arten bedeuten Rechtspflichten. Ferner unterteilt er die obligatio in obligatio naturalis, civilis nuda seu civilis sine re und civilis cum re. Zu den unvollkommenen Rechtspflichten gehören die obligatio naturalis tantum und die obligatio civilis nuda. Den Unterschied zwischen einer vollkommenen und einer unvollkommenen Obligation sieht Donellus im fehlenden Klagerecht bei der Letzteren (Verfasser S. 88f.).

 

Die Zweiteilung in obligatio naturalis und obligatio civilis findet sich auch bei Samuel Stryk (1640‑1710). Die obligationes naturales unterteilt er ferner in obligationes plenae und minus plenae. Er sieht hierbei die Unterscheidung zwischen rechtlichen und moralischen Verbindlichkeiten (S. 90)[4].

 

Sehr eingehend behandelt wird der Begriff der „unvollkommenen Verbindlichkeit“ im Naturrecht der Aufklärung (S. 91-139). Dieser Begriff wird erst im späten Naturrecht näher ausgeformt. Basis ist die Lehre von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten (S. 92). Eine Grundlage für die Pflichtenlehre des aufgeklärten Naturrechts sieht der Verfasser (S. 95) in der christlichen Pflichtenlehre des Mailänder Bischofs Ambrosius (339-397). Erörtert wird der Begriff des status naturalis als Grundlage für ein natürliches Privatrecht (S. 99-103)[5]. Für Christian Wolff ist Ursprung der obligatio naturalis die Natur, die im Wesen der Menschen und der Dinge ihren hinreichenden Grund hat (S. 100). Eine eingehende Auseinandersetzung erfolgt mit den entsprechenden Lehren von Pufendorf, Thomasius, Pothier, Wolff und seinen Schülern Daniel Nettelbladt und Joachim Georg Darjes (S. 116 ff.)[6], ferner mit der Pflichtbestimmung aus der Vernunft bei Kant (S. 120-131) sowie der sittlichen Pflicht der Wirklichkeit bei Hegel (S. 131 f.).

 

Ein Unterabschnitt (S. 135-139) ist den unvollkommenen Verbindlichkeiten im positiven Recht gewidmet, im preußischen ALR (I 16 §§ 178-181), im österreichischen ABGB (§ 1432)[7] und im Code Civil (Art. 1235 Abs. 2).

 

Das folgende Kapitel ist dem Verständnis der Naturalobligation im späten gemeinen Recht und in der Pandektistik gewidmet (S. 139-161). Savigny wendet sich gegen die naturrechtliche Auffassung der obligatio naturalis und geht von der römischrechtlichen Unterscheidung zwischen ius gentium und ius civile aus. Alle Obligationen, die das ius gentium hervorbringe, seien Naturalobligationen. Die vom ius civile bestätigten Naturalobligationen sind klagbar, die nicht bestätigten klaglos (S. 140ff.). Einen abweichenden Standpunkt vertreten Alois Brinz und Ernst Immanuel Bekker (S. 143ff.). Hingewiesen sei auf Ludwig Arndts (1803‑1878)[8], der für eine natürliche Verbindlichkeit die alte Bezeichnung tantum naturalis obligatio (siehe Glosse) verwendet. Der Gläubiger kann zwar nicht klagen, aber die geschehene Leistung erscheint als Erfüllung einer Rechtsverbindlichkeit, als Zahlung eines naturale debitum. Bernhard Windscheid[9] verwendet die Bezeichnung „uneigentliche Verbindlichkeiten“, zu denen er auch die sittliche Pflicht als objektivrechtlichen Schuldgrund zählt (Verf. S.  147ff.).

 

Eine umfassende Erörterung erfahren „Naturalobligation und unvollkommene Verbindlichkeit im BGB“ (S. 162-205). Eingegangen wird auf Gesetzgebungsverfahren und Beratung des BGB, auf Meinungsstreitigkeiten nach dem Inkrafttreten des BGB, auf die Lehre von den unklagbaren Ansprüchen sowie auf den heutigen Meinungsstand (S. 188-205).

 

Ein zweiter Abschnitt des historischen Teiles ist der historisch-rechtsvergleichenden Begriffsgeschichte gewidmet (S. 206-235). Erörtert werden hier zunächst die objektive oder klassische und die subjektive oder moderne Theorie der Naturalobligation. Nach dieser subjektiven Theorie der obligation naturelle, die auf Robert-Joseph Pothier (1699-1772)[10] und die Kanonistik zurückgeführt wird, muss die geschuldete Leistung bestimmt oder bestimmbar sein und die Pflicht muss obligatorischen Charakter haben (iuris vinculum). Typisches Merkmal dieser Theorie ist die Beachtung der Beweggründe des Schuldners bei der Leistung (Verfasser S. 207f.).

 

Im Folgenden wird die Naturalobligation in europäischen Kodifikationen, im französischen Code Civil, im italienischen Codice Civile (1865 und 1942), im portugiesischen Código Civil von 1966, im österreichischen ABGB, im Schweizerischen Obligationenrecht und im neuen Niederländischen Burgerlijk Wetboek näher untersucht.

 

Das eigentliche Kernstück der Arbeit bildet der umfangreiche systematische Teil (S. 237-680). Nur einige Punkte sollen hier hervorgehoben werden. Manche Probleme, die in diesem Teil vom Verfasser eingehend erörtert werden, wurden auch schon im historischen Teil angeschnitten bzw. behandelt. Historische und dogmatische Gründe werden gegen die Verwendung des Begriffs „unvollkommene Verbindlichkeit“ gebracht (S. 267ff.). Die obligatio naturalis stammt aus dem römischen Recht, die unvollkommene Verbindlichkeit aus dem aufgeklärten Naturrecht, zwei verschiedene historische Wurzeln und getrennt verlaufende Entwicklungslinien. Der Verfasser (S. 273ff.) tritt für den Terminus Naturalobligation ein.

 

Behandelt wird die Naturalobligation als Rechtsgrund (S. 447ff.), das Verhältnis von Naturalobligation und Leistung aus sittlicher Pflicht oder Anstandsrücksicht (S. 454ff.), ferner Naturalobligation und Forderungsstruktur (S. 461ff.).

 

Ein eigener Abschnitt ist der rechtgeschäftlich begründeten Naturalobligation gewidmet (S. 563-628). Behandelt werden hier auch „Ehrversprechen und Gentlemen’s Agreement“ (S. 593-628). Der Verfasser (S. 627f., 678) tritt dafür ein, ein solches Agreement als einen Vertrag zu qualifizieren, der eine Naturalobligation hervorbringt, womit eine rechtliche Kontrolle ermöglicht werde. Im letzten Abschnitt des dogmatischen Teiles wird die Justiziabilität der Naturalobligation erörtert (S. 629-634).

 

Eine vorzügliche Zusammenfassung (S. 635-680) gibt die wichtigsten Entwicklungslinien und Grundgedanken der Untersuchung wieder.

 

Ein eindrucksvolles Literaturverzeichnis (S. 683-737) sowie ein Sach- und Personenregister (S. 739-754) beschließen die Arbeit.

 

Bei dem vorliegenden Opus handelt es sich wohl um die erste deutschsprachige historisch-dogmatische Gesamtdarstellung der Naturalobligation seit der Untersuchung Fritz Klingmüllers aus dem Jahre 1905 (oben Fn. 1). Götz Schulze hat ein grundlegendes Werk geschaffen, das als beispielhaft für die Behandlung und Darstellung von Rechtsfiguren angesehen werden kann.

 

Graz                                                                                       Gunter Wesener

[1] Die Lehre von den natürlichen Verbindlichkeiten. Eine historisch-dogmatische Untersuchung, Berlin 1905, 268.

[2] Vgl. J. E. Scholtens, De geschiedenis der natuurlijke verbintenis sinds het romeinsche recht. Academisch proefschrift (Amsterdam). Groningen‑Den Haag‑Batavia 1931; dazu M. Gutzwiller, in ZRG Rom. Abt. 53 (1933) 595-601.

[3] Vgl. dazu Klingmüller, Die Lehre (o. Fn. 1) 102 ff.

[4] Klingmüller, Die Lehre (o. Fn. 1) 123.

[5] Vgl. dazu K. Luig, Natürliches Privatrecht. Die Rolle des Privatrechts in den naturrechtlichen Gesellschaftsentwürfen des 17. und 18. Jahrhunderts, in: R. Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, Berlin 1991, 103-120 [nun in: Luig, Römisches Recht, Naturrecht, nationales Recht, Goldbach 1998, 133*-150*].

[6] Zu Darjes nun F. Gärtner, Joachim Georg Darjes und die preußische Gesetzesreform, Berlin 2007.

[7] Dazu auch Verf. S. 223 ff.

[8] Lehrbuch der Pandekten, 6. Aufl., München 1868, § 217, S. 347.

[9] Windscheid/Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts, 9. Aufl., II, 1906, §§ 287-289.

[10] Zu diesem Verf. S. 113 ff.