Schädler, Sarah, „Justizkrise“ und „Justizreform“ im Nationalsozialismus. Das Reichsjustizministerium unter Thierack (1942-1945) (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts). Mohr (Siebeck), Tübingen 2009. XII, 376 S. Besprochen von Werner Schubert., ZRG GA 127 (2010)
Schädler, Sarah, „Justizkrise“ und „Justizreform“ im Nationalsozialismus. Das Reichsjutizministerium unter Thierack (1942-1945) (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts). Mohr (Siebeck), Tübingen 2009. XII, 376 S. Besprochen von Werner Schubert.
Ab 20. 8. 1942 bis Kriegsende stand das Reichsjustizministerium (RJM) unter der Leitung von Georg (Otto) Thierack (1889-1946), der vorher sechs Jahre lang Präsident des Volksgerichtshofs gewesen war. Über die Ministerzeit Thieracks, in der sich die Justizpraxis und Justizpolitik immer stärker radikalisierte, lag bisher keine zusammenhängende Untersuchung vor, wenn man von der primär biographisch ausgerichteten Arbeit Constanze Brauns über Thierack von 2005 absieht. Die Neubesetzung des Justizministeriums steht im Zusammenhang mit der von der Partei, der SS und dem Propagandaministerium unter Goebbels ausgelösten bzw. inszenierten Justizkrise, deren Höhepunkt die Reichstagsrede Hitlers vom 26. 4. 1942 darstellte (S. 13ff.). In dieser Rede ließ sich Hitler als obersten Gerichtsherrn das „gesetzliche Recht“ bestätigen, einen missliebigen Richter „entweder zur gemeinsamen Kassation zu verurteilen oder ihn aus Amt und Stellung zu entfernen ohne Rücksicht, was er auch sei oder welche erworbenen Rechte er besitzt“ (S. 13). Treibende Faktoren der Justizkrise waren nicht eine vermeintlich widerständige Justiz, sondern Hitlers Juristenhass, der Konkurrenzkampf der Justiz mit dem Machtbereich Himmlers sowie die Konkurrenz unter den Parteijuristen (S. 32ff.). Die verwendeten Argumente wandten sich vornehmlich gegen die angeblich „volksfremden“ Strafurteile und die richterliche Unabhängigkeit (S. 19ff.). Mit Thierack als Reichsjustizminister und Rothenberger (bisher Präsident des OLG Hamburg) kamen zwei exponierte Nationalsozialisten und Parteijuristen an die Spitze des Reichsjustizministeriums. Rothenberger hatte sich Hitler durch eine Denkschrift über eine nationalsozialistische Justizreform empfohlen (S. 107ff.). Thierack und Rothenberger wurden am Tag ihres Amtsantritts (20. 8. 1942) persönlich von Hitler empfangen, der in seinem Tischgespräch seine Erwartungen für die zu ergreifenden Maßnahmen formulierte (S. 108ff.). Gleichzeitig erteilte Hitler dem Reichsminister der Justiz besondere Vollmachten zur Etablierung einer starken nationalsozialistischen Rechtspflege, die nach den Weisungen Hitlers im Einverständnis mit der Reichskanzlei und dem Leiter der Parteikanzlei erfolgen sollte (S. 57ff., 340).
Im Anschluss an die personellen Veränderungen in der Justizspitze geht Schädler auf die neue Aufgabenverteilung in den juristischen Institutionen des Reichs näher ein. Thierack übernahm auch die Leitung der Akademie für Deutsches Recht und des NS-Rechtswahrerbundes, der weitgehend seine Eigenständigkeit verlor. Der Wechsel an der Spitze des Ministeriums hatte sieben neue Abteilungsleiter und eine Auswechslung eines Drittels der OLG-Präsidenten zur Folge (S. 125ff.). Zwischen Thierack und Rothenberger kam es alsbald zu erheblichen Spannungen, die zum Jahreswechsel 1943/44 zur Entlassung des Rothenbergers führten (S. 139ff.). Neuer Staatssekretär wurde Herbert Klemm, der bereits 1933/34 als persönlicher Referent Thieracks im sächsischen Justizministerium gearbeitet hatte und seit 1941 an maßgebender Stelle der Parteikanzlei für „Justiz und Parteirecht“ tätig war (S. 150ff.). Im Abschnitt über die nationalsozialistische „Justizreform“ stellt Schädler die einzelnen Reformmaßnahmen und Projekte dar (S. 159ff.). Außer den noch zu erwähnenden Reformprojekten sind zu nennen die Richter- und Anwaltsbriefe, die zahlreichen Gerichtsreisen in die Gaue bzw. OLG-Bezirke, die Verschärfung der Berichtspflichten insbesondere der OLG-Präsidenten und Generalstaatsanwälte, die regelmäßig zu Tagungen zusammengerufen wurden. Zur Vorbereitung der gesetzlichen Maßnahmen zum Aufbau einer „starken nationalsozialistischen Rechtspflege“ etablierte das RJM vier (Reform-)Ämter, nämlich das Amt „Rechtsprechung durch das Volk“, das Amt „Richter und Rechtspfleger“, das Amt „Neuordnung der deutschen Gerichtsverfassung“ und das „Amt für Nachwuchsfragen“. Parallel dazu wurden in der Akademie für Deutsches Recht die Ausschüsse: „Rechtsprechung durch das Volk“ und „Richter und Rechtspfleger“ begründet. Der von Thierack Anfang 1943 eingerichtete, unter der Leitung von Altstötter (Leiter der bürgerlichrechtlichen Abteilung des RJM) stehende Sonderausschuss „Wahrheitsforschung im Streitverfahren“ befürwortete gegen den Widerstand Max Pagenstechers (bis 1939 Professor für Zivilprozessrecht in Hamburg) eine erhebliche Lockerung der Verhandlungsmaxime (hierzu die Quellen bei W. Schubert, Akademie für Deutsches Recht, Bd. VI, 1997, S. 373ff.). – Mit der sog. Entlastungsverfügung vom 3. 7. 1943, der „Verfügung zur Entlastung der Richter durch Beamte des gehobenen Justizdienstes“, wurde der Aufgabenbereich der Richter zugunsten der Rechtspfleger erheblich eingeschränkt (S. 210ff.). Hierdurch wurde ein Teil der „Justizreform“ verwirklicht; ein Rechtspflegergesetz, das im September 1944 im Entwurf vorlag, trat nicht mehr in Kraft.
Ein zentrales Reformanliegen Rothenbergers war das Friedens- bzw. Schöffenrichterprojekt, das sowohl durch das Amt des RJM „Rechtsprechung durch das Volk“ als auch durch den parallelen Akademieausschuss bearbeitet wurde (Quellen hierzu bei Schubert, aaO., S. 527ff., 557ff.). Das Projekt, das die Übertragung von Teilen des richterlichen Aufgabengebiets auf juristische Laien vorsah, scheiterte am Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und „politischer Polizei“ (S. 229ff.). Das Amt „Neuordnung der deutschen Gerichtsverfassung“ erarbeitete Vorschläge zu einem Richtergesetz und zu einer Neuregelung der Gerichtsorganisation aus. Die zahlenmäßig erheblich verringerte Richterschaft sollte in einem „Richterkorps“ zusammengefasst werden. Die Unabhängigkeit des Richters sollte dessen „Weisungsfreiheit“ weichen. Nach dem Kurzprotokoll der Sitzung des Amtes vom März 1944 bestand zur Frage der Weisungsfreiheit „Einigkeit darüber, dass der Richter seinem Wesen nach frei von bindenden Weisungen, die das Ergebnis des Einzelfalles betreffen, entscheiden müsse. Andernfalls sei er nicht mehr Richter. Dabei bestehe aber die Ausnahme, dass der Führer nicht nur rechtsgrundsätzliche Weisungen erteilen, sondern in den Einzelfall eingreifen könne, indem er die Entscheidung an sich ziehe“ (Schubert, aaO., S. 787; vgl. auch Schädler, S. 262). Hinsichtlich der Gerichtsverfassung und der Stellung der Oberlandesgerichte und des Reichsgerichts wurden auch Fragen diskutiert, die – wenn auch in einem völlig anderen staatsrechtlichen Rahmen –in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Rolle spielten. Die Rechtsanwaltschaft sollte einer wirkungsvollen staatlichen Aufsicht unterliegen (S. 248ff.), die durch eine Verordnung vom 1. 3. 1943 teilweise durchgeführt wurde. – Detailliert behandelt Schädler die Entwürfe zu einem Gemeinschaftsfremdengesetz (letzte Fassung von Ende 1944; S. 280ff.), durch das für ganze Personengruppen ein stark diskriminierendes Sonderstrafrecht geschaffen werden sollte. Bis Ende April 1943 wurden außerdem rund 15.000 „Asoziale“ aus dem Strafprozessrecht und der Strafvollstreckung der Justizvollzugsanstalten ausgegliedert, d. h. der Sicherheitspolizei unterstellt (S. 274ff.). Kennzeichnend für die Strafrechtspflege unter Thierack waren der Anstieg der Zahl der Todesurteile, die Verschärfung der Gnadenpolitik und des Strafvollzugs sowie das Nacht- und Nebel-Verfahren (S. 317ff.). Das Werk wird abgeschlossen mit einem Dokumentenanhang (S. 338ff.; S. 341ff. Entwürfe zu einem Gemeinschaftsfremdengesetz) und mit einem m. E. allerdings zu knappen Sachverzeichnis (S. 375f.). Ein Personenregister wäre hilfreich gewesen.
Die Untersuchungen Schädlers geben einen guten Überblick über die Tätigkeit und die Reformprojekte des RJM in der Schlussphase des Nationalsozialismus. Von der Sache her überzeugend hat Schädler den Schwerpunkt auf die Strafrechtspflege gelegt. Allerdings wären detailliertere Hinweise auf die familien- und erbrechtlichen Verordnungen und Verordnungs-Entwürfe aus der Ministerzeit Thieracks nicht unwichtig gewesen. Mit Recht hat Schädler von der Zielsetzung ihrer Arbeit her von einer näheren Analyse der Beratungen der „Ämter“ und der Akademieausschüsse zu den Fragen der Justizreform abgesehen, da dies den Rahmen der auf die unmittelbaren Aktivitäten des RJM und die auf Grundsätze der „Justizreform“ ausgerichteten Darstellung gesprengt hätte. Eindringlich hat Schädler herausgearbeitet, dass Thierack als „geschickter Mitakteur“ in der Polykratie des nationalsozialistischen Staates sein Ministerium zu einer gänzlich nationalsozialistischen obersten Reichsbehörde ausgebaut hat (vgl. S. 333). Das RJM habe zwar politisch radikaler als unter seinen Vorgängern gehandelt, sei „dabei aber nicht zum Verwalter von willkürlichen und nicht nachvollziehbaren Maßnahmen geworden, so dass man auch von einer Lenkung der Justiz durch Himmler in den letzten Kriegsjahren nicht sprechen könne“ (S. 336). Das von Thierack entwickelte neue Selbstbewusstsein der Justizführung diente einer weiteren Entfernung von rechtsstaatlichen Prinzipien, die für die Brutalität und Menschenverachtung insbesondere des NS-Strafsystems kennzeichnend war. Schädler hat für ihre Untersuchungen das umfangreiche Quellenmaterial aus dem Bundesarchiv Berlin und die Beweisdokumente der Nürnberger Prozesse ausgewertet; ein Verzeichnis der benutzten Quellen wäre hilfreich gewesen. Mit dem Werk Schädlers liegt eine gelungene, gut lesbare Darstellung der zentralen Tätigkeitsbereiche des Reichsjustizministerium unter Thierack vor, auf der weitere Arbeiten über die Justiz in der Spätphase des Nationalsozialismus aufbauen können.
Kiel
Werner Schubert