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Riederer, Friedrich, Spiegel der wahren Rhetorik (1493), hg. v. Knape, Joachim/Luppold, Stefanie (= Gratia 45). Harrassowitz, Wiesbaden 2009. XXXVIII, 479 S., 14 Ill. Besprochen von Andreas Deutsch., ZRG GA 127 (2010)

Riederer, Friedrich, Spiegel der wahren Rhetorik (1493), hg. v. Knape, Joachim/Luppold, Stefanie (= Gratia 45). Harrassowitz, Wiesbaden 2009. XXXVIII, 479 S., 14 Ill. Besprochen von Andreas Deutsch.

 

Zweifellos zählen die sogenannten Formular- oder Formelbücher zu den in der rechtshistorischen Forschung am meisten vernachlässigten Quellen. Dabei geben gerade sie neben den sogenannten Rechtsbüchern der Rezeptionszeit (Klagspiegel, Laienspiegel, Rechtenspiegel usw.) vielleicht am besten Aufschluss über Inhalte, Umfang und Tiefe der Rezeption des römisch-kanonischen Rechts in der deutschen Praxis jenseits von Universitäten und hoher Gerichtsbarkeit. Ihre große Bedeutung für die Praxis lässt sich nicht zuletzt an ihrer weiten Verbreitung – zumal nach der Erfindung des Buchdrucks – ermessen. Als erstes gedrucktes deutschsprachiges Kanzleibuch gilt ein anonymes, wohl 1479 in Ulm erstmals aufgelegtes „Formulare“. Für die wichtige Phase um 1500 können aber vor allem drei Schriften als herausragend angesehen werden: Zum einen die „Rethorica und Formulare teütsch“ des Pforzheimer Stadtschreibers Alexander Hugen, die, 1528 zum ersten Mal gedruckt, mindestens vierzehn Ausgaben erlebte und in einer Frankfurter Überarbeitung noch weitere zehn Mal aufgelegt wurde, zum andern das Büchlein „New practicirt rethoric und brieff formulary“ des Freiburger Notars und Prokurators Heinrich Gessler, das ab 1493 sechs Mal gedruckt wurde, und zum dritten schließlich der von Gesslers Freiburger Zeitgenossen, dem „Stadtbuchdrucker“ Friedrich Riederer, verfasste und von ihm selbst verlegte „Spiegel der waren Rhetoric – vß M. Tulio C. und andern getütscht“. Vermutlich darf dieses 375 Seiten starke, mit vier aufwendigen (zum Teil Dürer zugeschriebenen) Holzschnitten verzierte Werk als das bedeutendste der Literaturgattung gelten. Zwar erfuhr es insgesamt „nur“ fünf Auflagen (1493, 1505, 1509, 1517 und 1535), übertrifft die anderen Werke aber in inhaltlicher Hinsicht, diente zudem für Hugens „Rethorica“ über weite Passagen als unmittelbare Vorlage (hierzu der Rezensent, in: Die „Rethorica und Formulare teütsch“ des Pforzheimer Stadtschreibers Alexander Hugen – ein juristischer Bestseller des 16. Jahrhunderts, Neue Beiträge zur Pforzheimer Stadtgeschichte 2, 2008, S. 31-75).

 

Ein Grund für die zurückhaltende Erforschung der Formelbücher mag in ihrer schweren Verfügbarkeit zu suchen sein. Zumindest für Riederers „Spiegel“ ist in dieser Hinsicht mit der nun vorgelegten auf der Erstausgabe von 1493 basierenden Neuedition Abhilfe geschaffen. Nutzerfreundlich wird sie nicht nur über das (im Original vorhandene) Inhaltsverzeichnis, sondern auch über ein umfangreiches Stichwortregister und eine kommentierende Einleitung erschlossen. Hinzukommen ein Literatur-, Quellen- und Abkürzungsverzeichnis. Ein ergänzender Band mit einem Gesamt- und einem Stellenkommentar ist in Vorbereitung. Hervorzuheben ist das klare Druckbild der Edition, das zwar alle Schriftzeichen originalgetreu wiedergibt, aber auf störende Zusätze verzichtet; der Text der Marginalien wurde in die Fußnoten versetzt, steht nun also unterhalb des Haupttextes; dort ist genügend Platz, um die im Original zumeist abgekürzten Fundstellen ergänzend (in eckiger Klammer) entsprechend der heute üblichen Zitierweise aufzulösen, was ein Auffinden der entsprechenden Stellen – etwa in Codex, Digesten oder in der (damals noch fälschlich Cicero zugeschriebenen) „Rhetorica ad Herennium“ – erheblich erleichtert.

 

Es ist sicher kein Zufall, dass die Edition durch den Tübinger Germanisten Joachim Knape und seine Projektmitarbeiterin Stephanie Luppold besorgt wurde, also durch zwei Wissenschaftler, die sich dem Werk primär aus rhetorischer, philologischer und kulturwissenschaftlicher Warte näherten. Juristen wagten sich nämlich an Riederers Buch bis dato nur selten heran – trotz des in weiten Teilen rechtlichen Inhalts, von dem der Titel des Werks nicht ablenken sollte. Denn schließlich waren Riederers Hauptzielgruppe Notare, Kanzlisten und alle anderen berufsmäßigen Schreiber.

 

Riederer selbst war Schreiber gewesen, nachdem er ab 1475 für einige Zeit (vermutlich, wie damals verbreitet, ohne Abschluss) studiert hatte. 1486 wird er als Substitut des Freiburger Gerichtsschreibers Urban Vogler erwähnt, hatte auch gute Kontakte zum Freiburger Stadtschreiber Johannes Gottschalk, dem Amtsvorgänger des Ulrich Zasius, ferner zu Johann Fedrer, einem Prokurator am Rottweiler Hofgericht. Mit dem Humanisten Jacobus Locher verband ihn vermutlich engere Freundschaft, jedenfalls sind nicht weniger als fünf der kaum mehr als ein Dutzend von Riederer gedruckten Schriften von Locher verfasst. Wie aus einem auf Bl. CLXVI (in der Edition S. 395) des „Spiegels wahrer Rhetorik“ abgedruckten Brief erhellt, geht ein nicht unbeträchtlicher Teil des Werks auf Vorlagen zurück, die Riederer als Muster für den Gebrauch am Rottweiler Hofgericht zusammengestellt hatte. Wenn Riederer seinen „Spiegel“ vor allen anderen dem „Rector der vniversitet und Hohen Schul“ widmete, unterstreicht dies seinen akademischen Anspruch, mit dem er geschickt um seine Leser warb.

 

Das erste der drei ungefähr gleich starken Bücher, in die der „Spiegel“ unterteilt ist, befasst sich mit der Rhetorik, allem voran der „Ars loquendi“, ohne die ein Jurist um 1500 nicht auskommen konnte. Das zweite Buch erscheint hierzu wie ein „Besonderer Teil“; es enthält, einem Handbuch gleich, Bausteine für Briefe unterschiedlichster Art: Nach Ständen sortiert informiert Riederer zunächst, wie welche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in einem Anschreiben zu betiteln ist, eine der zentralen Fragen in den Ehrenhierarchien der Zeit. Es folgen Musterbriefe für die unterschiedlichsten Anlässe, wobei von der „Fürdrung umb Pfrund“ über die „Eroffnung der Gezügniß“ bis hin zum „Exempel ein todsleger zefürdern in sicherheit“ die unterschiedlichsten rechtlichen Bezüge deutlich werden. Ob Kirchen-, Zivil-, Straf- oder öffentliches Recht – kein Rechtsgebiet wird dabei ausgespart. Das dritte Buch „in bekommniß genant Contract und ir formen sich ögend“ schließlich hat rein juristischen Inhalt: Eine Vielzahl von Musterverträgen vom Ehevertrag über den Kaufvertrag bis hin zur Urfehde sollte den Schreibern eine unkomplizierte Grundlage für ihr tägliches Geschäft in Notariaten, Kanzleien und Ämtern bieten. Wie heute, erfreuten sich derartige Vorlagen auch vor 500 Jahren großer Beliebtheit (was bereits die große Verbreitung der Formularbücher belegt). Da ein nicht unbeträchtlicher Teil der Musterverträge von Riederer mehr oder weniger unmittelbar aus lateinischen Vorlagen entnommen wurde, jedenfalls über weite Strecken deutlich am römisch-italienischen Recht orientiert ist, wurden – von den Abschreibern aus Riederers Buch wohl oftmals unreflektiert – mit jeder Kopie eines der von Riederer gebrachten Muster römisch-rechtliche Inhalte in den juristischen Alltag Deutschlands transportiert. Rezeption durch die Hintertüre. Nicht nur deshalb: Eine spannende Lektüre!

 

Heidelberg/Frankfurt am Main                                     Andreas Deutsch