Osterkamp, Jana, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechoslowakei (1920-1939). Verfassungsidee - Demokratieverständnis - Nationalitätenproblem (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 243). Klostermann, Frankfurt am Main 2009. X, 309 S. Besprochen von Werner Schubert., ZRG GA 127 (2010)
Osterkamp, Jana, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechoslowakei (1920-1939). Verfassungsidee - Demokratieverständnis - Nationalitätenproblem (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 243). Klostermann, Frankfurt am Main 2009. X, 309 S. Besprochen von Werner Schubert.
Die tschechoslowakische Verfassung von 1920 etablierte weltweit erstmals ein Verfassungsgericht, das ausschließlich zur Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen zu entscheiden hatte. Das tschechoslowakische Verfassungsgericht ist weitgehend in Vergessenheit geraten, weil es eine nur geringe Tätigkeit entfaltet hat und nicht einmal über eine eigene Urteilssammlung verfügte. Osterkamp erschließt die Grundlagen, die Tätigkeit und die mit der Verfassungsgerichtsbarkeit verbundenen Fragen erstmals auch aufgrund der archivalischen Überlieferung. Im ersten Teil stellt Osterkamp die juristische Konstruktion des Gerichts durch die Verfassung, das Verfassungsgerichtsgesetz und die verfassungsrechtliche Dogmatik dar (S. 5-92). Abgesehen von der tatsächlichen Ausgestaltung des politischen Systems (starrer Parteienstaat; Zentralisierung der politischen Entscheidungsgewalt bei der Regierung und dem Präsidenten) wirkten sich auch die Ausgestaltung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens auf die Aktivitäten des Gerichts aus. Das Gericht konnte nur über die Verfassungsmäßigkeit von Verfügungen und Gesetzen des sog. Ständigen Ausschusses, nicht jedoch von Verordnungen entscheiden. Zu den Antragsberechtigten gehörten das Oberste Gericht, das Oberste Verwaltungsgericht, das Wahlgericht, die beiden parlamentarischen Kammern und der karpathenukrainische Landtag, nicht jedoch ein in seinen Rechten verletzter einzelner Staatsbürger. Seitens der politischen Verfassungsorgane wurde überhaupt kein Normenkontrollantrag gestellt, von Seiten der obersten Gerichte erst ab 1936 (S. 11ff.). Einschränkend wirkten auch die Abstraktheit und Objektivität der Normenkontrollklage, deren eventueller Erfolg keinen Einfluss auf den Einzelfall hatte. Ein weiterer Hemmschuh war die Frist von drei Jahren, innerhalb derer ein Kontrollantrag gestellt werden musste. Das Verfassungsgericht war nur tätig in den Jahren 1921 bis 1931 sowie 1938 und 1939. In der Zwischenzeit kam es zu keinen Neubesetzungen der vakanten Richterstellen.
Im zweiten Teil der Untersuchungen wertet Osterkamp die Judikatur des Verfassungsgerichts aus (S. 93-195). Mit seiner ersten und wichtigsten Entscheidung erklärte das Verfassungsgericht am 7. 11. 1922 die Übertragung legislativer Gewalt auf die Exekutive für verfassungswidrig. Anhand der wissenschaftlichen und politischen Reaktionen auf diese Entscheidung zeigt Osterkamp dann das Verfassungs- und Demokratieverständnis der einzelnen Akteure auf (S. 111ff.). Das Verfassungsgericht war 1938/39 erneut mit der Ermächtigungsgesetzgebung nach 1933 (außerordentliche Verordnungen mit provisorischer Gesetzeskraft und Abänderung bestehender Gesetze) befasst, mit dem die Demontage des liberalen politischen Systems der Tschechoslowakei begann. Eine Entscheidung zu einem Ermächtigungsgesetz von 1934 (Nr. 109 in der Sammlung der Gesetze und Verordnungen von 1934) konnte nicht mehr ergehen, da eine Ermächtigung von 1938 das Gesetz von 1934 legalisierte (S. 166ff.). Das einzige Urteil des Gerichts, das ein Gesetz teilweise für verfassungswidrig erklärte, erging unter dem Protektorat, stieß aber unter der „hereinbrechenden Diktatur des nationalsozialistischen Deutschland über die böhmischen Länder“ auf keine Resonanz mehr (S. 161). – Der dritte Teil des Werkes (S. 197-250) untersucht die Vorschläge zur Reform der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit, die meist mit der Nationalitätenfrage verbunden waren. In diesem Zusammenhang erörtert Osterkamp die Arbeiten von Raschhofer „Hauptprobleme des Nationalitätenrechts“ (1929) und „Vorschläge für eine Revision der Verfassungsurkunde der Tschechoslowakischen Republik“ von Sander (1933) sowie die „Volksschutzgesetzanträge“ der Sudetendeutschen Partei von 1937, die eine körperschaftliche Organisation der Bevölkerung nach Nationalitäten vorsahen, welche hinsichtlich der Gesetzeskontrolle antragsberechtigt sein sollten. Die Regierungsgutachten der tschechischen Juristen vom Juni 1938 zu den noch weitergehenden Forderungen der Sudetendeutschen Partei sahen eine Stärkung von Grund- und Minderheitenrechten gegenüber der Legislative vor. Die Verhandlungen der Regierung mit der Sudetendeutschen Partei über ein Nationalitätenstatut waren mit dem Münchner Abkommen vom 29. 3. 1938 erledigt. Erfolg hatten die, welche zu den Autonomiegesetzen vom November 1938 führten. Die slowakischen Autonomieforderungen sahen eine föderale Verfassungsgerichtsbarkeit vor, die jedoch mit der Begründung der Slowakei als selbstständigem, von Deutschland abhängigen Staat ihre Bedeutung verloren. Das Werk wird abgeschlossen mit einem Personen- und einem detaillierten Sachverzeichnis sowie einer Zusammenfassung auch in tschechischer und englischer Sprache.
Die verfassungs- und rechtspolitischen Diskussionen in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit und deren Gesetzgebung sind, wie die Untersuchungen Osterkamps eindrucksvoll zeigen, ein wichtiger Teil der europäischen Gesamtentwicklung dieser Zeit. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die tschechoslowakischen Entwürfe zu einem bürgerlichen Gesetzbuch, einem Handelsgesetzbuch, einem Strafgesetzbuch sowie einer Zivilprozessordnung und auf die zahlreichen zivil- und strafrechtlichen Einzelgesetze, die auch auf deutscher Seite beachtet wurden. Die verfassungsrechtlichen Diskussionen, welche die Entwicklungen in Österreich, Deutschland und Frankreich einbezogen, waren sehr fruchtbar, weil die „Repräsentanten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen ihre mitunter gegenläufigen nationalen Interessen in der formalen Weise des Rechts äußern mussten“ (S. 300). Neben gesetzes- und verfassungspositiven Ansätzen spielte auch die Reine Rechtslehre Hans Kelsens eine nicht unwichtige Rolle. Nützlich wäre es gewesen, wenn Osterkamp die wichtigsten Texte zur Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechoslowakei im Anhang abgedruckt und auch die 47 Entscheidungen des Verfassungsgerichts (S. 93), selbst wenn es sich im Wesentlichen nur um sog. Fließbandurteile aus der ersten Funktionsperiode handelt (S. 109f.), und die genaue Zusammensetzung des Gerichts in den zwei Funktionsperioden dokumentiert hätte. Insgesamt liegt mit dem Werk Osterkamps ein wichtiger Beitrag nicht nur zur tschechoslowakischen Rechtsgeschichte zwischen 1919 und 1939, sondern gleichzeitig zur europäischen Rechtsgeschichte dieser Zeit vor, deren osteuropäischer Anteil noch weiterer Erschließung bedarf (vgl. hierzu die Übersicht bei Helmut Slapnicka, Österreichisches Recht außerhalb Österreichs. Der Untergang des österreichischen Rechtsraums, München 1973).
Kiel
Werner Schubert