Ohlemann, Klaus-Peter, Historische Entwicklung der Gefangenenmitverantwortung in den deutschen Gefängnissen (= Europäische Hochschulschriften 2, 4535). Lang, Frankfurt am Main 2007. XI, 177 S. Besprochen von Heinz-Müller-Dietz., ZRG GA 127 (2010)
Ohlemann, Klaus-Peter, Historische Entwicklung der Gefangenenmitverantwortung in den deutschen Gefängnissen (= Europäische Hochschulschriften 2, 4535). Lang, Frankfurt am Main 2007. XI, 177 S. Besprochen von Heinz-Müller-Dietz.
Über die Entwicklung und rechtliche Ausgestaltung der in § 160 Strafvollzugsgesetz (StVollzG) grundgelegten Gefangenenmitverantwortung liegt inzwischen eine ganze Reihe von Arbeiten vor. Klaus-Peter Ohlemann informiert in seiner Mainzer Dissertation – im Wesentlichen auf sekundärliterarischer Grundlage – über die Entstehungs- und Verlaufsgeschichte der Institution von den ersten Ansätzen im frühen 19. Jahrhundert bis zum Inkrafttreten des StVollzG (1977). In seiner Darstellung knüpft er vor allem an geschichtliche Muster des sog. Stufenstrafvollzugs an, dessen dritte, gelockerte Stufe („Besserungsklasse“) - wie z. B. im irischen System des 19. Jahrhunderts auf der Basis gewachsenen Vertrauens gewisse Möglichkeiten für Mitwirkung und Mitgestaltung des Vollzugs durch Gefangene eröffnete.
Frühe Vorläufer dieser Entwicklung bildeten etwa Regelungen in Hausordnungen von Strafanstalten, welche die Überwachung von Insassen durch geeignete Mitgefangene in Schlafsälen und Arbeitssälen vorsahen (so z. B. die Dienstanweisung von 1811 der Strafanstalt Marienschloss im hessischen Rockenberg). Für solche Beteiligungsmöglichkeiten Gefangener trat auch 1835 auch Georg Michael Obermaier ein, der als vorbildlicher Direktor weit über Bayern hinaus bekannt geworden ist. Von 1854 an bestimmten preußische Hausordnungen, dass Zellenälteste in Gemeinschaftshafträumen für Ordnung und Flurwärter auf Anstaltsfluren für Reinlichkeit zu sorgen hatten. Darüber hinaus konnte im Kaiserreich wohl keine weitergehende Form von Mitverantwortung Gefangener Fuß fassen.
Seiner Darstellung der sog. Gefangenenselbstverwaltung in der Zeit der Weimarer Republik schickt der Verfasser eine ausführliche Schilderung der Jugendbewegung voraus, die mit ihrer Kritik an der wilhelminischen Gesellschaft und ihrer Orientierung am Gemeinschaftserlebnis die gedankliche Grundlage für neue Formen der Mitverantwortung Gefangener schuf. Beispiele dafür bildeten etwa die Selbstverwaltung im Fürsorgeerziehungsheim Lindenhof bei Berlin von 1917 bis 1920 (Karl Wilker) und die Mitverantwortung im Jugendgefängnis Hahnöversand bei Hamburg von 1921 bis 1923 (Walter Herrmann, Curt Bondy), die auf der Wahl von Vertrauensleuten durch Gefangene fußte. Die 1923 von den Ländern vereinbarten Reichsratsgrundsätze sowie der Kommissionsentwurf eines Strafvollzugsgesetzes von 1925 (der aber nicht Gesetz wurde) wollten für die dritte Stufe ein gewisses Maß an Selbstverwaltung einführen. Tatsächlich wurden solche Konzepte vor allem im reformorientierten Thüringen - in der dortigen, von 1928 bis 1933 von Albert Krebs geleiteten Strafanstalt Untermaßfeld - sowie seit 1929 in Preußen verwirklicht.
Im NS-Staat, der auf bedingungslose Disziplin Gefangener setzte, war für deren Mitverantwortung schon aus ideologischen Gründen kein Raum. Im Strafvollzug der Deutschen Demokratischen Republik existierte die Einrichtung des sog. „Verwahrraumältesten“. Darüber hinaus knüpfte man dort- vor allem im Produktionsbereich - maßgeblich an Erkenntnisse Makarenkos über die Einteilung Gefangener in Kollektive und deren Mitbestimmung an. Von einer eigenständigen Mitverantwortung, die der Idee dieser Institution entsprach, konnte hier freilich nicht die Rede sein.
In den westlichen Bundesländern bildeten sich von den 50er Jahren an vielfach anstaltsspezifische Formen der Mitverwaltung – vor allem, aber keineswegs allein im Jugendstrafvollzug - heraus. Der Verfasser verweist insoweit namentlich auf Beispiele in der Frauenstrafanstalt Frankfurt-Preungesheim und in der hessischen Jugendstrafanstalt Rockenberg, die – unter der Leitung Robert Werners - in Erziehungsgruppen gegliedert war und - je nach Aufgabe von Gefangenen gewählte Mitwirkungsgremien (z. B. einen Jugendrat) kannte. Auch in Jugendstrafanstalten anderer Länder (z. B. Bayern, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein) entstanden jeweils eigene Formen der Mitverantwortung. Im Zuge der Verrechtlichung des Erwachsenenstrafvollzugs wie des Jugendstrafvollzugs wurde die Gefangenenmitverantwortung dann auf gesetzliche Grundlagen gestellt.
Ein geschlossenes, alle Facetten einbeziehendes Bild der Entwicklung der Institution in Deutschland kann Ohlemanns Studie nicht bieten. Dazu fehlt es an einer erschöpfenden Auswertung und Aufarbeitung vorhandener Quellen, die überdies ihrerseits vielfache Lücken aufweisen.
Saarbrücken Heinz Müller-Dietz