Mertens, Bernd, Rechtsetzung im Nationalsozialismus (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 62). Mohr (Siebeck), Tübingen 2009. XII, 181 S. Besprochen von Martin Moll., ZRG GA 127 (2010)
Mertens, Bernd, Rechtsetzung im Nationalsozialismus (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 62). Mohr (Siebeck), Tübingen 2009. XII, 181 S. Besprochen von Martin Moll.
Gab es während der 12 Jahre der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland (und den von ihm zwischen 1939 und 1945 besetzten Gebieten) überhaupt eine „Rechtsetzung“, die diesen Namen verdient? Konnte es sie überhaupt geben unter einem Regime, das gemeinhin als das Unrechtsregime per se verstanden wird? Und wenn es diese Rechtsetzung denn gab (was viele ohnedies verneinen wollen), wie verhielt sich dieser „Normenstaat“, der wenigstens der äußeren Form nach in cum grano salis herkömmlicher Weise gesetztes Recht produzierte, zum „Maßnahmenstaat“, den die von jeglichen normativen Bindungen befreiten Gewalten, etwa die Gestapo und die SS, nach Lust und Laune gestalteten? Diese Fragen beschäftigen die Forschung, seitdem Ernst Fraenkel 1940 im amerikanischen Exil seine vielzitierte Studie über den „Doppelstaat“ publiziert hatte.
Die Konzentration auf die angeblich oder wirklich im gesetzesfreien Raum willkürlich agierende Exekutive und ihre „Maßnahmen“ hat freilich, wie Bernd Mertens zu Recht hervorhebt, vielfach den Blick darauf verstellt, dass ein hochkomplexer, moderner Industriestaat wie das Deutsche Reich weder im Frieden und schon gar nicht im Krieg ohne die Produktion, Publikation und Anwendung neuen, den veränderten Verhältnissen angepassten Rechts in Gestalt von Gesetzen, Verordnungen, Erlassen usw. auskam, wie auch immer die Regierung dieses Staates beschaffen sein mochte. Wie dringend dieses Bedürfnis gewesen sein muss, zeigt schon ein simpler Blick auf den nach 1933 kontinuierlich anschwellenden Umfang des Reichsgesetzblattes und sonstiger Publikationsorgane, etwa der Verordnungsblätter der Reichsministerien – offensichtlich eine zu trockene und zu profane Materie für (Rechts-)Historiker, die sich stattdessen lieber mit der Rechtsprechung durch die politisch instrumentalisierten Gerichte beschäftigten, so dass – immerhin – dieses Terrain mittlerweile als gut erforscht gelten kann. Wie die Normen, welche die Gerichte anzuwenden hatten, zustande kamen, interessierte hingegen deutlich weniger.
Mertens’ mit rund 160 Textseiten erstaunlich knappe Studie betritt folglich einigermaßen Neuland – und dies ist der erstaunlichste Befund dieser konzisen Arbeit. Schon nach der Lektüre weniger Seiten fragt man sich (selbstkritisch), warum eigentlich 64 Jahre seit dem Ende der NS-Herrschaft vergehen mussten, bis ein Forscher die in jeder Bibliothek zugänglichen Materialien wie das Reichsgesetzblatt zur Hand nahm. Schon dessen Durchsicht und Auszählung anhand naheliegender Fragestellungen eröffnet ebenso simple wie erstaunliche Einsichten, die Mertens in der Folge noch vertieft, indem er ausgewählte Aktenbestände, insbesondere jene der Reichskanzlei und des für die Rechtsetzung im Inland meist federführenden Reichsministerium des Innern in die Analyse einbezieht.
Mertens’ Interesse kreist um die klassischen Determinanten, wer wie wann welches Recht in welcher Form hervorbrachte. Die Rezeption dieses Rechts durch die Normunterworfenen ist hingegen verständlicherweise kein Gegenstand dieser Studie. Nach einer Einleitung behandelt Kapitel 2 „Das Rechtsetzungsverfahren im Nationalsozialismus“, zuvörderst die normgebenden Akteure (Reichstag, Reichsregierung, Hitler als „Führer und Reichskanzler“, der Ministerrat für die Reichsverteidigung, das „Dreierkollegium“, der Beauftragte für den Vierjahresplan sowie weitere, durch „Blankettermächtigungen“ zur Rechtsetzung befugte Akteure). Schon deren Vielzahl und häufig unscharf gegeneinander abgegrenzte Kompetenzen führen logisch zum zweiten Unterabschnitt dieses Kapitels, der insbesondere das Zusammenspiel bzw. die Konkurrenz dieser Instanzen (von Hitler abgesehen) sowie die Mitwirkung der Akademie für Deutsches Recht an der Ausarbeitung von Normentwürfen behandelt. Dabei werden stets zeitliche, vor allem durch die Kriegsumstände bedingte Wandlungen im Mit- und Gegeneinander der Machtträger angemessen berücksichtigt.
Es folgen ein kurzer Abschnitt über die Beschlussfassung, bei dem die weitgehende Abkehr von jedweder Form kollegialer Beratung im Mittelpunkt steht, und Ausführungen zu den Themen Sanktion, Ausfertigung, Mit- bzw. Gegenzeichnung sowie Verkündung von Normen. Was die Publikation neuen Rechts betrifft, so brachte der Krieg eine Fülle von Geheimgesetzen und Geheimerlassen hervor, deren Anwendung bemerkenswerterweise selbst das diktatorische NS-Regime vor einige Probleme stellte. Nicht nur an dieser Stelle wertet Mertens auch den zeitgenössischen Diskurs der Rechtswissenschaft aus, insoweit er sich in Fachzeitschriften niederschlug und Inhalte wie Methoden der Rechtsetzung zum Gegenstand hatte. Diese Analyse ergibt überraschend, dass es neben widerlichen Anbiederungen an das Regime seitens der Wissenschaft durchaus und bis 1945 kritische Stellungnahmen gab, die – wohlgemerkt in der (Fach-)Öffentlichkeit – Gravamina etwa hinsichtlich der Geheimgesetze, aber auch mit Blick auf die zunehmend unübersichtlicher werdenden Instanzen und Formen der Rechtsetzung zum Ausdruck brachten.
Kapitel 3 thematisiert „typische Merkmale nationalsozialistischer Rechtsetzung“, was insofern besonders interessiert, als nach 1945 versucht wurde, zwischen typischen (und daher aufzuhebenden) NS-Gesetzen und einer vergleichsweise normalen, wenn nicht gar innovativen und folglich beizubehaltenden Normsetzung zu unterscheiden. Mertens behandelt hier in einer Vielzahl von Unterkapiteln eine Fülle an Themen wie etwa die Frage, inwieweit gesetzte Normen die einzigen Rechts(erkenntnis)quellen darstellten und wie deren Verhältnis zum – in welcher Form auch immer artikulierten – „Führerwillen“ aussah. Weiters angesprochen werden die dadurch bedingte Auflösung der tradierten Normenhierarchie, politische Zielvorgaben in Gesetzen, wie sie beispielsweise durch das wiederbelebte Instrument der Gesetzespräambel Ausdruck fanden, die bei den Nationalsozialisten überaus beliebten, weil beliebig ausdeutbaren Generalklauseln sowie die Frage, wie eine den Volksgenossen verständliche Volksgesetzgebung auszusehen habe. Hier werden allerdings auch Bereiche berührt, die weniger der tatsächlichen Gesetzgebung als den – aus welchen Gründen auch immer gescheiterten – Gesetzesvorhaben zuzurechnen sind, so dass Mertens hier mitunter den selbstgesetzten Rahmen überschreitet.
Ein als Fazit überschriebener vierter Abschnitt bündelt abschließend die Resultate vornehmlich hinsichtlich der Frage, inwieweit die NS-Rechtsetzung Kontinuitäten oder Diskontinuitäten der deutschen (Rechts-)Geschichte verkörpert. Unbestritten ist, dass nicht wenige der unter Hitler verabschiedeten Gesetze, etwa im Bereich des Arbeits-, Ehe- oder Naturschutzrechts, bahnbrechend oder gar modern waren, weshalb sie über 1945 in Geltung blieben. Hätte auch ein anderes, etwa ein demokratisches Regime vergleichbare Normen erlassen, gab es ein typisches NS-Recht? Mertens liefert hierzu überaus differenzierte Antworten, die er überzeugend aus der Analyse des Gesetzgebungsverfahrens zwischen 1933 und 1945 ableitet. Deutlich wird vor allem, dass das NS-Regime die Rechtsetzung weit stärker als zuvor als politisches Steuerungsinstrument einsetzte – eine Praxis, die nach 1945 scheinbar nahtlos fortgesetzt wurde.
Der Anhang bietet statistische Auswertungen des Reichsgesetzblatts, z. B. der vom NS-Regime neu erlassenen Gesetze, der Führer-Erlasse etc. Damit zeigt sich erneut, dass diese prägnante Arbeit stets nahe an den Quellen operiert und dass sie zu einer wohlabgewogenen Synthese eines bisher weitgehend vernachlässigten Forschungsbereichs gelangt.
Graz Martin Moll