Hüntelmann, Axel C., Hygiene im Namen des Staates. Das Reichsgesundheitsamt 1876-1933. Wallstein, Göttingen 2008. 488 S. Besprochen von Werner Schubert., ZRG GA 127 (2010)
Hüntelmann, Axel C., Hygiene im Namen des Staates. Das Reichsgesundheitsamt 1876-1933. Wallstein, Göttingen 2008. 488 S. Besprochen von Werner Schubert.
Das Kaiserliche Gesundheitsamt wurde 1876 vom Reichskanzler auf Drängen von Kommunalbeamten und der nationalliberalen Majorität der Ärzte gegründet, die standespolitische Professionalisierungsbestrebungen und Probleme der kommunalen Verwaltung im Auge hatten. Das Gesundheitsamt war dem Reichsamt des Innern nachgeordnet. 1918 wurde aus ihm das „Reichsgesundheitsamt“, dessen Nachfolger von 1952 an das „Bundesgesundheitsamt“ war, dessen Aufgaben 1994 auf drei eigenständige Einrichtungen verteilt wurden. Mit dem in fünf Abschnitte gegliederten Werk Hüntelmanns liegt die erste umfassende Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des (Reichs-)Gesundheitsamtes während der Kaiserzeit und der Weimarer Zeit vor. Zunächst stellt Hüntelmann dar, aus welchen Gründen die Errichtung einer zentralen Medizinalbehörde gefordert wurde und welches gesellschaftliche Umfeld hierfür maßgebend war, in dem die Gründung des Kaiserlichen Gesundheitsamtes vollzogen wurde (S. 27-75). Im zweiten Abschnitt behandelt Hüntelmann die institutionelle Entwicklung des Gesundheitsamts und die ihr zugrunde liegenden politischen und gesellschaftlichen Faktoren. Erst nachdem die Leitung des Amtes 1885 auf juristisch vorgebildete Staatsbeamte des Reichsamts des Innern übergegangen war (Ära Köhler bis 1905 und Ära Bumm bis 1926), entwickelte sich das Amt zu einer Großforschungseinrichtung und zur „Hochburg der Hygiene“ (S. 76-176). Auf dem Gebiet der Rassen- und Sozialhygiene verpasste das Reichsgesundheitsamt in der zweiten Hälfte der Weimarer Zeit jedoch den ,Anschluss’ an „die in jeder Hinsicht zukunftweisende Forschung“ (S. 168). Gleichwohl, so stellt Hüntelmann fest, sei zu konstatieren, dass die Entwicklung des Gesundheitsamtes von einem „Zeitungsauswertungsbüro“ hin zu einem „Quasiministerium und zu einem ,Großbetrieb der Wissenschaft’, der das Reichsamt des Innern in allen medizinalpolitischen und gesundheitspolitischen Angelegenheiten beraten hat“, enorm gewesen sei (S. 175f.). Im dritten Kapitel geht es um die Aufgabenfelder des Gesundheitsamts, wobei die Arbeitsweise und das Vorgehen der Behörde hinsichtlich der Bekämpfung der Volksseuchen am Beispiel der Diphtherie näher dargelegt wird. S. 305ff. befasst sich Hüntelmann mit der Frage, welche Interessen der Staat mit der Errichtung und dem Ausbau einer zentralen Medizinalbehörde verfolgte. Die an das Gesundheitsamt herangetragenen Ziele waren Sicherung der öffentlichen Ordnung durch Vermeidung von Epidemien und Erhaltung der Wehrfähigkeit des Reichs durch Hebung der „Volksgesundheit“. „Idealiter“ habe – so Hüntelmann – das Gesundheitsamt die „symbiotische Allianz von Militär und Medizin“ verkörpert (S. 285). Die Zielrichtungen des Gesundheitsamts bestimmten dessen Handlungsstrategien, die Hüntelmann im fünften Teil des Werkes ausführlich erläutert (S. 305-407). Einen breiten Raum nehmen die Verwissenschaftlichung der Hygiene und die Rolle der Medizinstatistik ein, die das Reichsgesundheitsamt in der Weimarer Zeit an das Statistische Reichsamt abgeben musste.
Für den Rechtshistoriker ist vornehmlich der Abschnitt über die Arbeiten des Gesundheitsamtes von Interesse (S. 190ff.), deren Schwerpunkt auf der Behandlung der Volksseuchen und der Nahrungsmittelkontrolle lag. Fast alle hygienisch-medizinisch einschlägigen Reichsgesetze gingen auf Entwürfe oder auf die sonstige maßgebliche Mitarbeit des Gesundheitsamts zurück. Zu nennen sind hier das Nahrungsmittelgesetz von 1879, das Reichsseuchengesetz von 1900, das Reichsviehseuchengesetz von 1909 und das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten von 1927 sowie das Betäubungsmittelrecht bis hin zum Opiumgesetz von 1930. Ein Arzneimittelgesetz kam unter dem Deutschen Reich nicht zustande; jedoch lagen Entwürfe hierzu, von Einzelgesetzen und Verordnungen abgesehen, am Ende der Weimarer Zeit vor. Auch an der gesetzlichen Regelung der Arbeits- bzw. Gewerbehygiene war das Gesundheitsamt beteiligt. Weitere Bereiche seiner Tätigkeit waren das Wohnungswesen und die städtische Umwelt sowie die Beratung der politischen Entscheidungsträger in sanitätspolizeilichen, gesundheitspolitischen und sozialmedizinischen Fragen (S. 264). Auch wenn Hüntelmann die rechtspolitischen Aktivitäten des Gesundheitsamts entsprechend der Zielsetzung seiner Untersuchungen nur in Umrissen behandelt hat, so wäre gleichwohl zur Kennzeichnung des rechtspolitischen Einflusses des Gesundheitsamtes die Schilderung eines gesetzgeberischen Einzelvorhabens auf den vom Gesundheitsamt betreuten Gebieten aufschlussreich gewesen. Mit dem Werk Hüntelmanns, das die Machtstrukturen, das Funktionieren von Einflussnahme, politisches Durchsetzungsvermögen und die Wirksamkeit der Handlungsstrategien des Gesundheitsamtes erschließt, liegt ein Grundlagenwerk vor, auf dem rechtshistorische Arbeiten zum Lebensmittel-, Hygiene- und Medizinrecht der Kaiserzeit und der Weimarer Zeit aufbauen können.
Kiel
Werner Schubert