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Hartwich, Esther, Der deutsche Juristentag von seiner Gründung 1860 bis zu den Reichsjustizgesetzen 1877 im Kontext von Nationsbildung und Rechtsvereinheitlichung. BWV Berliner Wissenschafts-Verlag 2008. 141 S. Besprochen von Werner Schubert., ZRG GA 127 (2010)

Hartwich, Esther, Der deutsche Juristentag von seiner Gründung 1860 bis zu den Reichsjustizgesetzen 1877 im Kontext von Nationsbildung und Rechtsvereinheitlichung. BWV Berliner Wissenschafts-Verlag 2008. 141 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die Verhandlungen des 1860 gegründeten Deutschen Juristentags (DJT), der ersten berufsübergreifenden deutschen Juristenvereinigung, zeigen nach Meinung Esther Hartwichs, dass der Wunsch nach Rechtsvereinheitlichung im 19. Jahrhundert und deren Umsetzung nicht nur als „Ausdruck sozialer, politischer und/oder wirtschaftlicher Interessen“ verstanden werden kann, sondern dass die „Nationsbildung ein ebenso starker Antriebsfaktor für die Forderung nach und die Umsetzung der nationalen Rechtseinheit war“ (S. 15). Durch die Studie Hartwichs soll belegt werden, dass „die Forderung nach Rechtsvereinheitlichung auf der einen Seite ein Ergebnis der Nationsbildung war, und auf der anderen diese gleichzeitig auch weiter fördern sollte“. Dementsprechend steht nicht nur „Rechtsvereinheitlichung durch Nationsbildung“, sondern auch „Nationsbildung durch Rechtsvereinheitlichung“ im Mittelpunkt der Untersuchung (S. 16). Schon die Gründung des DJT stand im Kontext der Nationsbildung, diese verstanden als Prozess der Entstehung und Entwicklung einer Nation. Mit Recht sieht Hartwich im DJT einen Teil der deutschen Nationalbewegung, was auch für die anderen Verbände dieser Zeit (u. a. Kongress Deutscher Volkswirte) zutrifft. Dabei wandelte sich der zunächst großdeutsch eingestellte DJT nach der kleindeutschen Reichsgründung zum „Symbol der deutschen Kulturnation“. Die zentralistische Organisationsstruktur, die Mitgliederöffnung und das Prinzip der Öffentlichkeit spiegeln die rechtsvereinheitlichende Zielsetzung des DJT wieder (S. 23ff.). Im zweiten, dem Hauptteil der Untersuchung, wertet Hartwich die wohl wichtigsten Verhandlungsgegenstände des 1.-14. DJT (1860-1878) bis zur Erreichung der ersten Etappe der Rechtsvereinheitlichung durch die Reichsjustizgesetze von 1877 aus. Der Mehrheit der Mitglieder der Deutschen Juristentage schwebte ein „nationales Rechtsvereinheitlichungsideal“ vor, nach welchem den zu schaffenden Gesetzen alle bereits bestehenden deutschen Gesetze zugrunde gelegt und „fremde Elemente“ entfernt werden sollten, während demgegenüber die staatlichen Gesetzgebungsfaktoren Kompromisse schließen mussten und oft von preußischen Interessen dominiert wurden. Allerdings votierte die Mehrheit der Juristentage oft gegen das genannte Ideal, wenn es mit den liberalen Grundwerten nicht übereinstimmte. Typisch für das Scheitern des nationalen Rechtsvereinheitlichungsideals ist die Entstehung des Strafgesetzbuchs von 1870/71, bei der sich bei den wichtigsten rechtspolitischen Fragen das preußische Recht durchsetzte (S. 48ff.). Entgegen dem Votum des 10. DJT (1872) erhielt das Reichsgericht nicht, wie gewünscht, die Kompetenz, über alle Landesrechte letztinstanzlich zu entscheiden (S. 55ff.). Bei den Verhandlungen über die Vereinheitlichung des Strafprozessrechts waren nationale und liberale Gesichtspunkte eng miteinander verknüpft (Schwur- und Schöffengerichtsfrage, Stellung der Staatsanwaltschaft, Privat- oder Popularklage). Obwohl der 9. DJT (1871) sich im Interesse der Forderung der Nationsbildung für die Laienbeteiligung bei den Strafgerichten mittlerer und unterster Ordnung einsetzte, blieb diese Forderung in der endgültigen StPO-Fassung unberücksichtigt.

 

Bei den Verhandlungen hinsichtlich der Vereinheitlichung des Zivilprozessrechts standen den Vereinheitlichungsbestrebungen starke partikulare Interessen (hannoverscher/preußischer Zivilprozess) gegenüber (S. 83ff.). Dieser Teil der Untersuchung hätte an Anschaulichkeit noch gewonnen, wenn Hartwich etwas detaillierter auf die wichtigsten partikularen Zivilprozesssysteme eingegangen wäre und auch die zahlreichen Gutachter der Juristentage namentlich genannt hätte. Die Beratung über zivilrechtliche Themen setzte erst 1873 ein, als sich abzeichnete, dass das Reich die Zuständigkeit für das gesamte bürgerliche Recht erhalten würde, was Ende 1873 geschah. Gegen nationale Rechtstraditionen setzte sich der 12. DJT (1875) für ein primär geltendes einheitliches eheliches Güterrechtssystem aus nationalen Intentionen ein (S. 107ff.). Aus nationalen und historischen Gründen votierte der 13. DJT (1878) gegen das römische Recht für den Erbrechtserwerb ipso iure (S. 118ff.) ein. Für den Eigentumserwerb von Mobilien wog die Ablehnung des französischen Rechts schwerer als die Zurückweisung des römischrechtlichen Traditionsprinzips, dessen Übernahme dem nationalen Rechtsvereinheitlichungsideal entsprach.

 

Mit ihren Untersuchungen hat Hartwich die wohl wichtigste Funktion der Deutschen Juristentage für die Zeit bis 1878, nämlich die Forderung nach Rechtsvereinheitlichung und deren inhaltliche Ausgestaltung, herausgearbeitet. Allerdings war der Deutsche Juristentag nicht der einzige Faktor, der die Rechtsvereinheitlichung vorantrieb. In gleicher Weise traten für sie auch die liberalen Parteien und Preußen unter seinem Justizminister Leonhardt, das seine Rechtszersplitterung zum Teil nur mit Hilfe der Reichsgesetzgebung beseitigen konnte, ein. Die nationalpolitischen Zielsetzungen der Deutschen Juristentage sind jedoch nicht zu verabsolutieren, da zumindest seit Ende der 60er Jahre auch wirtschaftliche und sozialpolitische Zielsetzungen eine Rolle spielten, was Hartwich zwar nicht bestreitet (vgl. S. 15, 113f.), was aber vielleicht noch etwas präziser hätte herausgestellt werden können. Auch die Auseinandersetzung mit den Einflüssen des französischen Rechts auf die deutsche Rechtsentwicklung hätte etwas stärker und zusammenhängender thematisiert werden können. Insgesamt hat Hartwich mit ihrer Untersuchung über den frühen Juristentag das Verhältnis der Nationsbildung durch Recht einerseits und der Rechtsbildung durch Nation andererseits erstmals erschlossen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch noch auf den Einfluss der Verhandlungen des 7. DJT (1869) und der Deutschen Anwaltstage auf die Rechtsanwaltsordnung von 1878. Eine ähnlich breite Untersuchung wie diejenige von Hartwich über den Deutschen Juristentag steht noch aus für den Beitrag der liberalen Parteien und der wirtschaftspolitischen Vereinigungen (vgl. S. 22) auf die Rechtsvereinheitlichungsdiskussion der 60er und 70er Jahre des 19. Jahrhunderts.

 

Kiel

Werner Schubert