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Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hg. v. Merten, Detlef/Papier, Hans-Jürgen. Bd. 7,1 Grundrechte in Österreich. C. F. Müller, Heidelberg 2009. XXVIII, 639 S. Besprochen von Thomas Olechowski., ZRG GA 127 (2010)

Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hg. v. Merten, Detlef/Papier, Hans-Jürgen. Bd. 7,1 Grundrechte in Österreich. C. F. Müller, Heidelberg 2009. XXVIII, 639 S. Besprochen von Thomas Olechowski.

 

Im Rahmen des umfangreichen Gesamtwerkes erschien schon 2007 der Band VII/2: „Die Grundrechte in der Schweiz und in Liechtenstein“. Sein Pendant, der hier zu besprechende Band VII/1, wurde von vierzehn österreichischen Autorinnen und Autoren verfasst, deren Koordination und offenbar auch Auswahl der (am 1. Dezember 2008 verstorbene) Salzburger Ordinarius für Verfassungsrecht Heinz Schäffer übernahm. Der Band ist in sechzehn Beiträge („Paragraphen“) gegliedert, von denen sich vier mit allgemeinen Lehren und zwölf mit den einzelnen Grundrechten befassen. Ein Anhang enthält wichtige Normtexte im Wortlaut. In der gegenständlichen Rezension sei lediglich der Frage nach dem rechtshistorischen Gehalt des – für die Rechtsdogmatik zweifelsfrei sehr bedeutsamen – Bandes nachgegangen.

 

Was zunächst die Beiträge zu den einzelnen Grundrechten betrifft, so weisen die meisten von ihnen einen entwicklungsgeschichtlichen, einleitenden Abschnitt auf; Umfang und Intensität der rechtshistorischen Auseinandersetzung schwanken von Beitrag zu Beitrag erheblich, was sich allerdings meist aus dem Gegenstand ergibt: So ist es leicht erklärlich, dass die Rechtsgeschichte am ausführlichsten im Beitrag über die religiösen Rechte (Georg Lienbacher) zur Sprache kommt; der Beitrag, der mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 ansetzt und bis zum Orientalisch-orthodoxen Kirchengesetz 2003 führt, ist bemerkenswert gehaltvoll und lässt kaum etwas zu wünschen übrig (Erwähnung hätte das Protestantenpatent 1861 verdient gehabt). Kürzer sind die rechtshistorischen Ausführungen zum Schutz der Privatsphäre (Ewald Wiederin), zu den „kulturellen Rechten“ (= Wissenschafts-, Unterrichts- und Kunstfreiheit, Thomas Kröll), zur Kommunikationsfreiheit (Michael Holoubek), zu den sozialen Grundrechten sowie zu den grundrechtlichen Organisations- und Verfahrensgarantien (beides Heinz Schäffer). Keine bzw. fast keine rechthistorischen Abschnitte enthalten die Beiträge zu Schutz von Leib und Leben (Benjamin Kneihs), zur Freiheit der Person und der Freizügigkeit (Andreas Hauer), zu den wirtschaftlichen Freiheiten (Karl Korinek), zum „Recht auf Zusammenschluß“ (sic) (= Vereins-, Versammlungs-, Streik- und Parteienfreiheit, Michael Potacs) sowie zu den Rechten der Staatsbürger und der Fremden (Gerhard Strejcek). Relativ umfangreich sind die rechtshistorischen Ausführungen zum Gleichheitssatz (Magdalena Pöschl), die aber leider sehr allgemein-abstrakt gehalten sind und sich nicht auf die einzelnen Dimensionen desselben (etwa auf die rechtshistorische Entwicklung des Verhältnisses von Mann und Frau!) beziehen. Generell kann festgehalten werden, dass – wie nicht anders zu erwarten und deshalb auch nicht enttäuschend – in den Einzelbeiträgen auf die Rechtsgeschichte in der Regel gerade soweit eingegangen wird, als es zum Verständnis der rechtsdogmatischen Ausführungen unerlässlich ist.

 

In vier allgemeinen Beiträgen befassen sich Heinz Schäffer mit der (rechtshistorischen) Entwicklung und Gabriele Kucsko-Stadlmayer mit den allgemeinen Strukturen der Grundrechte, Gerhard Baumgartner mit Institutsgarantien und institutionellen Garantien sowie Dietmar Jahnel mit Bestandsschutz und Durchsetzung der Grundrechte. Hier wäre nun zu hoffen gewesen, dass der immerhin 46-seitige Beitrag von Schäffer über die Entwicklung der Grundrechte mehr als bloß ein dürres Datengerüst enthält, wie man es von so vielen rechtsdogmatischen Lehrbüchern mit ihren rechtshistorischen Einleitungen gewohnt ist. Allein, allzu kühne Hoffnungen werden rasch enttäuscht. Der Beitrag ist im wesentlichen eine Zusammenfassung der äußeren Gesetzgebungsgeschichte der Grundrechte, geht daher auch (unnötig) genau auf die allgemeine Verfassungsentwicklung ein und bleibt doch an der Oberfläche, indem er eine vertiefte Auseinandersetzung mit den geistesgeschichtlichen Strömungen oder mit dem zeitgenössischen Grundrechtsverständnis vermissen lässt. So bleibt z. B. die Darstellung allgemeiner Grundrechtslehren (z. B. der Lehre vom „formellen Gesetzesvorbehalt“) von der Darstellung ebenso ausgeklammert wie die Wandlungen, welche die grundrechtsgerichtliche Judikatur seit ihren Anfängen vor 140 Jahren erfuhr (Stichwort „materielles Grundrechtsverständnis“). Was überhaupt den Schutz der Grundrechte betrifft, so hat der Verfasser nicht bemerkt, dass dieser im Kremsierer Entwurf von 1848/49 weit besser konzipiert war, als er 1869 zur Ausführung kam. Die Zeit des Autoritären Regimes und die des Nationalsozialismus werden mit wenigen, äußerst unbefriedigenden Sätzen abgetan; zur Periode 1938-1945 heißt es u. a., dass damals „zwar theoretisch die Grundrechtsnormen der Weimarer Reichsverfassung gegolten hätten, die faktische Rechtsentwicklung des totalitären NS-Staates aber völlig darüber hinwegging und die Grundrechte ignorierte“ (32f.). Derart schwammige Formulierungen (Was ist eine „faktische Rechtsentwicklung“? Wie kann eine Norm „theoretisch“, aber offenbar „nicht wirklich“ gelten?) hätte man sich gerade von einem Rechtsdogmatiker nicht erwartet. Der Beitrag zeigt immerhin eines deutlich, nämlich dass eine moderne, umfassende Geschichte der Grundrechte in Österreich immer noch fehlt. Schäffer hat sich mit der Gesamtkonzeption des Bandes sowie mit seinen beiden oben erwähnten rechtsdogmatischen Beiträgen zweifellos sehr verdient um das Zustandekommen dieses gewichtigen Kompendiums gemacht. Aber wäre es nicht besser gewesen, er hätte für den rechtshistorischen Abschnitt eine dafür ausgewiesene Expertin oder einen Experten mit ins Boot geholt als selbst versucht, in fremden Gewässern zu fischen?

 

Wien                                                                                      Thomas Olechowski