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Fritsche, Maria, Entziehungen. Österreichische Deserteure und Selbstverstümmler in der deutschen Wehrmacht. Böhlau, Wien 2004. 284 S. Besprochen von Gerhard Köbler., ZRG GA 127 (2010)

Fritsche, Maria, Entziehungen. Österreichische Deserteure und Selbstverstümmler in der deutschen Wehrmacht. Böhlau, Wien 2004. 284 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die Studie ist die aktualisierte und wesentlich erweiterte Überarbeitung der Diplomarbeit der Verfasserin, die auf ein 1998 am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien zur Thematik der deutschen Wehrmacht abgehaltenes Seminar zurückgeht- Hier richtete sich die Aufmerksamkeit der Verfasserin, die nach eigenen Worten als Frau von der Wehrdienstpflicht als „Schule der Männlichkeit“ ausgeschlossen ist, den Krieg nicht miterlebt hat und dem Militär weitgehend skeptisch gegenübersteht, auf jene Nonkonformisten, die nicht in das gängige Bild von der Wehrmacht als einer einheitlichen, blind dem Befehl des Führers folgenden Masse passen. Auf dieser Grundlage wertete sie mit drei Kolleginnen den im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands lagernden, relativ gut erhaltenen Aktenbestand des Feldgerichts der Division Nr. 177 aus, der überwiegend Urteile gegen österreichische Deserteure und Wehrkraftzersetzer enthält und suchte aus Interesse an persönlichen Erfahrungen erstmals zielgerichtet nach überlebenden Deserteuren.

 

Gegliedert ist das Werk in acht Kapitel. Der kurzen Einleitung zu Begriffsklärung, Fragestellung, Forschungsstand, Methode, Deserteursthematik, Forschungsdesideraten und Aufbau folgen Untersuchungen über österreichische Deserteure aus der deutschen Wehrmacht (Ausmaß, Wesen, Motivationen, Verlauf), das soziale Umfeld zwischen Unterstützung und Verrat, die Wehrmachtsjustiz, den Strafvollzug, die Feindbilder und Vorurteile („Feiglinge“, „Kameradenschweine“, „Vaterlandsverräter“) und die rechtliche und gesellschaftliche  Stellung der Deserteure und Selbstverstümmler in Österreich.

 

Danach wurden von deutschen Kriegsgerichten etwa 2,5 Millionen Strafverfahren gegen Wehrmachtsangehörige durchgeführt. Etwa 1,5 Millionen Wehrmachtssoldaten wurden verurteilt. Vielleicht 30000 bis 35000 Wehrmachtsangehörige wurden zum Tode verurteilt und in schätzungsweise 20000 bis 23000 Fällen tatsächlich hingerichtet.

 

Innerhalb der errechneten Gesamtstärke der deutschen Wehrmacht von 17,3 Millionen Angehörigen beziffert die Verfasserin die Zahl der anscheinend durch keinerlei Auffälligkeiten abweichenden Österreicher auf 1,31 Millionen oder 7,6 Prozent. Hieraus ermittelt sie schätzungsweise 114000 Militärgerichtsurteile gegen Österreicher, darunter mindestens 2660 Todesurteile (1730 Todesurteile wegen Fahnenflucht, 456 Todesurteile wegen Wehrkraftzersetzung). Nach ihrer Beurteilung dürften etwa 1100 österreichische Deserteure hingerichtet worden sein.

 

Im Ergebnis stellt die Verfasserin fest, dass sich österreichische Soldaten aus unterschiedlichsten Beweggründen dem Dienst in der Wehrmacht entzogen. Für den Verlauf der Desertion sieht die Verfasserin zwar gewisse Muster, doch spielen auch hier ganz verschiedene Umstände im Einzelfall tatsächlich eine Rolle. Im Vergleich mit der amerikanischen Militärjustiz kommt die Verfasserin zu einer Einordnung der deutschen Militärrechtsprechung als Terrorjustiz.

 

Die Gründe für die bisher ausstehende Rehabilitierung sieht sie in der mangelnden Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs. Nach 1945 stilisierte sich Österreich zum ersten Opfer der Angriffspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands und weigerte sich gleichzeitig, die Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen anzuerkennen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Stattdessen breitete es einen Mantel des Schweigens über seine Vergangenheit aus.

 

Im Anhang bietet die selbständige Untersuchung eine Reihe wichtiger Quellen. Ein zweiseitiges Personenregister versammelt die etwa 150 wesentlichen Namen von Ackerl, Walter bis Zendron, Josef. Die Ergebnisse verdienen allgemeine Aufmerksamkeit.

 

Innsbruck                                                                               Gerhard Köbler