Bertelsmeier-Kierst, Christa, Kommunikation und Herrschaft. Zum volkssprachlichen Verschriftlichungsprozess des Rechts im 13. Jahrhundert (= Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Beiheft 9). Hirzel, Stuttgart 2008. 250 S., 16 Abb. Besprochen von David von Mayenburg., ZRG GA 127 (2010)
Bertelsmeier-Kierst, Christa, Kommunikation und Herrschaft. Zum volkssprachlichen Verschriftlichungsprozess des Rechts im 13. Jahrhundert (= Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Beiheft 9). Hirzel, Stuttgart 2008. 250 S., 16 Abb. Besprochen von David von Mayenburg.
Das 13. Jahrhundert ist für die Geschichte des europäischen Rechts eine wegweisende Epoche: Während das wissenschaftlich bearbeitete römische Recht und das kanonische Recht sich in der Gelehrtensprache Latein über ganz Europa verbreiteten und in Wissenschaft und Praxis ihre Wirkung hinterließen, kam es zeitgleich erstmals in größerem Umfang zur Produktion von Rechtsquellen in den Volkssprachen: Hierzu zählen vor allem die besonders im süddeutschen Raum vermehrt in deutscher Sprache abgefassten Urbare und die großen Rechtsaufzeichnungen des Sachsenspiegels und Schwabenspiegels.
Die Sprachwissenschaftlerin Christa Bertelsmeier-Kierst geht in ihrer Studie, der stark überarbeiteten Fassung ihrer bereits vor mehr als zehn Jahren entstandenen Marburger Habilitationsschrift, diesen frühen volkssprachlichen Überlieferungen nach und kommt dabei zu wichtigen neuen Erkenntnissen.
Die verhältnismäßig kurze Einleitung hält sich nicht lange mit den ansonsten für neuere germanistische Arbeiten typischen, zumeist aber eher selbstreferentiellen theoretischen und methodischen Erörterungen auf, sondern beginnt mit einer gedrängten, aber sehr informativen Übersicht über die frühesten Quellen deutschsprachiger Rechtsüberlieferungen vom Ende des 12. bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert. Nur sehr knapp wird das erkenntnisleitende Interesse der Studie genannt (S. 21f.): Zum einen will die Autorin durch eine gründliche erneute Lektüre und umfassendere Einordnung der handschriftlichen Quellen in ihren Kontext zu einer präziseren Rekonstruktion ihrer Entstehungs- und Überlieferungszusammenhänge gelangen. Zum anderen soll damit aber auch ein Beitrag zur Interpretation dieser Quellen geleistet werden. Wer forcierte aus welchem Grund die volkssprachliche Verschriftlichung des Rechts?
Der erste Teil stellt, weitgehend beschreibend, die aus dem 13. Jahrhundert überlieferten Urbare vor. Ausgehend vom Codex Falkensteinensis aus dem 12. Jahrhundert, dessen deutsche Fassung verloren ist, werden mit dem Urbar der Marschälle von Pappenheim, den bayerischen Herzogsurbaren und den Urbaren der Grafen von Görz-Tirol nicht nur die Güterverzeichnisse größerer Territorien in den Blick genommen, sondern auch die kleinerer Grund- und Stiftsherrschaften im süddeutschen und alpenländischen Bereich. Es wird deutlich, dass die neuartige Form des Urbars bereits von Anfang an volkssprachlich konzipiert war. Die sprachwissenschaftliche Analyse der Texte zeigt, dass diese keineswegs schlicht das vor Ort erfragte lokale Recht wiedergeben. Vielmehr wurden die Ergebnisse der Befragungen zunächst durch das lateinisch geschulte Kanzleipersonal bearbeitet, juristisch aufbereitet und schließlich volkssprachlich niedergeschrieben. Nicht „Verschriftung“ mündlichen Rechts, sondern „Verschriftlichung“, also durch die Schriftform erzielte Strukturierung der Rechtsmaterien, lässt sich daraus erkennen (S. 59). Bertelsmeier-Kierst interpretiert diesen Vorgang als Ausfluss fürstlicher Versuche, im Kontext der Territorialisierung ihre Rechtsansprüche systematisch zu erfassen um sie gegebenenfalls gerichtlich beweisen zu können. Dieser Vorgang habe gleichzeitig die kleineren, vor allem weltlichen Grundherren dazu bewegt, ebensolche Rechtsverzeichnisse für ihren Bereich anzulegen, um sich im Ernstfall gegen die Ansprüche ihrer Territorialherren absichern zu können. Dies erscheint vor dem Hintergrund einer im 13. Jahrhundert wieder gestiegenen Wertschätzung des Urkundenbeweises durchaus plausibel. Allerdings erzielt die Autorin diese Ergebnisse allein aufgrund einer philologischen Betrachtung der Texte. Rechtshistorische Differenzierungen, von denen die Bewertung dieser Thesen abhinge, vor allem zur Gerichtsverfassung, werden nicht vorgenommen. Die zentrale Frage nach dem Anwendungskontext der Urbare wird daher nicht gestellt. Vor allem bleibt es dem Leser überlassen zu vermuten, warum die Rechtspraxis gerade im 13. Jahrhundert dazu überging, zwar schriftliche, nicht aber lateinische Texte zu verlangen. Ganz offensichtlich waren die Urbare auf ein Gerichtspersonal zugeschnitten, das zwar des Lesens und Schreibens mächtig war, nicht aber über hinreichende Kenntnisse verfügte, um die in der bis dato in der Urkundensprache übliche lateinische Sprache zu verstehen.
Von besonderer Bedeutung ist Bertelsmeier-Kiersts Beitrag zum Verständnis des Sachsenspiegels und Schwabenspiegels. Die Sprengkraft des Buchs betrifft dabei sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft der Forschung in diesem für die Rechtsgermanistik zentralen Bereich: Zunächst stellt die Autorin sehr gründlich und überzeugend einige vertraute Theorien und Konstrukte in Frage, die vornehmlich mit der Person des nach wie vor als großen Editor gefeierten Karl-August Eckhardt zu tun haben. Darüber hinaus bietet sie aber auch einige spannende neue Ansätze, die mit Sicherheit wertvolle Anstöße für die weitere Forschung bieten werden.
Der Rechtsgermanist Karl-August Eckhardt (1901-1979) gehört zweifellos zu den fleißigsten Editoren mittelalterlicher Rechtsquellen des 20. Jahrhunderts. Während die mehr als problematische Vita des SS-Sturmbannführers und Himmler-Vertrauten Eckhardt spätestens seit der wichtigen biographischen Skizze Hermann Nehlsens (Karl August Eckhardt †, in: ZRG-GA 104 [1987], S. 497-536) inzwischen allgemein bekannt ist, genießt sein editorisches Mammutwerk (fast 30.000 Druckseiten), bei aller Kritik im Detail, immer noch großen Respekt.
Doch nach der Lektüre der Arbeit Bertelsmeier-Kiersts muss dieses Urteil, jedenfalls hinsichtlich der wichtigen Arbeiten Eckhardts zu den Rechtsspiegeln des 13. Jahrhunderts, deutlich distanzierter ausfallen. Dabei kann man Eckhardt noch am wenigsten vorhalten, dass sich seine Forschung auf die Suche nach den „Urtexten“ von Sachsenspiegel und Schwabenspiegel konzentriert hatte. Hier hat sich schlicht der Forschungsansatz verändert. So wird in der Mediävistik mittlerweile generell und mit guten Gründen an der Zweckmäßigkeit einer solchen Suche nach autoritativen Urtexten gezweifelt. Vielmehr sucht man heute, wie es Bertelsmeier-Kierst mustergültig vorführt, durch akribische sprachliche und inhaltlich-vergleichende Auswertung der überlieferten Handschriften und ergänzenden Belegen nach Entstehungs- und Traditionskontexten, nach den Milieus, in denen bestimmte Textgattungen erdacht und entwickelt wurden.
Schwerer wiegt aber gegen Eckhardt, dass sich unsere Vorstellungen von der Entstehung und Tradition des Sachsenspiegels immer noch auf ein von ihm erdachtes, ganz offensichtlich aber fehlerhaftes Modell stützen. Anders als Eckhardts Behauptung, Eike habe seinen Sachsenspiegel in Quedlinburg niedergeschrieben, ist nämlich sein auf diese Annahme gegründetes textkritisches Modell bis heute weitgehend anerkannt geblieben. Dies betrifft vor allem die Behauptung, dass die Überlieferung mit zwei noch von Eike stammenden deutschsprachigen Urfassungen (Ia und Ib) beginne und sich daran weitere Bearbeitungsformen (Ic und IIa) angeschlossen hätten.
Bertelsmeier-Kierst kann nun durch gründliche Quellenkritik nachweisen, dass Eckhardts Modell nicht nur im Detail, sondern ganz grundsätzlich fehlerhaft ist (S. 108). So zeigt sie, dass dessen Konzentration auf die Quedlinburger Überlieferung zu kühnen Datierungen gegen die Zeitachse führen musste. Auch dialektologische und textvergleichende Erwägungen führen Bertelsmeier-Kierst zu dem Ergebnis, dass das Eckhardtsche Stemma nicht zu halten ist.
Aber nicht nur die Kritik an Eckhardts Modell ist bemerkenswert, sondern auch die Folgerungen, welche die Autorin aus ihren Analysen zieht: Demnach müssen nunmehr die bislang unter IIa einer späteren Bearbeitungsstufe zugeordneten Urkunden als älteste Überlieferung des Sachsenspiegels angesprochen werden, allerdings nicht in Gestalt einer autoritativen Originalfassung, sondern bereits in der ältesten Überlieferungsphase als konkurrierende Textfassungen (S. 108). Bertelsmeier-Kierst kommt dabei zu einer völlig neuen Interpretation des Entstehungs- und Traditionskontextes des Sachsenspiegel: Demnach nimmt die Geschichte dieses Rechtsbuchs nicht in Quedlinburg oder Falkenstein, sondern im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts in Magdeburg ihren Ausgang (S. 107). Nur im Umfeld von Männern wie dem ebenso umfassend juristisch gebildeten wie politisch einflussreichen Erzbischof Albrecht von Magdeburg könne ein aus dem vollen Wissen des kanonischen und kaiserlichen Rechts geschöpftes Rechtsbuch wie der Sachsenspiegel entstanden sein (S. 88). Mit dieser Betonung Magdeburgs distanziert sich Bertelsmeier-Kierst auch von neueren Überlegungen Peter Landaus, der das Zisterzienserkloster Altzelle als Entstehungsort des Sachsenspiegels identifiziert hatte. Nicht die Bibliothek eines gerade erst gegründeten Klosters, sondern die weit umfangreicheren personellen und bibliothekarischen Kapazitäten des geistig wie wirtschaftlich weltläufigen, urbanen Zentrums Magdeburg bilden nach Auffassung der Autorin das Fundament, auf dem Eike, der wie sein Auftraggeber Hoyer von Falkenstein als Gefolgsmann des Erzbischofs zu identifizieren ist, den Sachsenspiegel verfasst haben müsse (S. 91). Verstärkt wird der Verweis auf Magdeburg durch die weitere Überlieferungsgeschichte: Dass es gerade die Magdeburger Schöffen waren, die für die Verbreitung des Sachsenspiegelrechts besonders in den osteuropäischen Raum sorgten (S. 111), ist in der Forschung bereits bekannt. Bertelsmeier-Kierst weist darüber hinaus aber auch auf die besondere Bedeutung der Bettelorden und besonders der auch in Magdeburg einflussreichen Franziskaner hin. Nicht nur lässt sich mendikantisches Gedankengut inhaltlich im Sachsenspiegel finden, auch der Benutzerkontext der überlieferten Handschriften weist in diese Richtung. Für die rechtshistorische Forschung erwächst daraus die spannende Herausforderung, die bereits von Gerhard Theuerkauf und Alexander Ignor festgestellte Beeinflussung des Sachsenspiegels durch das kanonische Recht vertieft zu untersuchen.
Nicht nur die Überlieferungsgeschichte des Sachsenspiegels, sondern auch des Schwabenspiegels erscheint bei Bertelsmeier-Kierst in neuem Licht. Auch hier verwirft sie mit vergleichbaren sprachwissenschaftlichen Methoden das von Eckhardt stammende Stemma, das allerdings von jeher umstritten war. Nach Eckhardt bestand eine Tradition vom Deutschenspiegel über den Urschwabenspiegel zu den als Verkehrsfassung verbreiteten Handschriften des letzten Drittels des 13. Jahrhunderts. Als Ursprungsort des Schwabenspiegels vermutet sie, wie bereits Konrad Beyerle, Regensburg und damit eine der größten deutschen Städte des Mittelalters. Auch für die Entstehung des Schwabenspiegels weist sie den Franziskanern und besonders den Predigern Berthold von Regensburg und David von Augsburg eine Schlüsselrolle zu. Entsprechend wird einer der ältesten, aber dennoch bislang eher im Schatten der Forschung stehenden Quelle, nämlich der Regensburger Handschrift E die besondere Aufmerksamkeit der Autorin zuteil (S. 136ff.). Gerade diese Quelle zeige besonders stark mendikantische Einflüsse, wie etwa typisch franziskanische Formen der Friedenspropaganda (S. 157). Der hinsichtlich seiner Überlieferung in nur einer Handschrift ohnehin prekäre Deutschenspiegel rückt dagegen in die zweite Reihe, das Konstrukt eines „Urschwabenspiegels“ wird völlig fallen gelassen. Damit entfällt auch hier die Konzeption eines Urtextes und damit „alle Versuche, eine stemmatische Rekonstruktion eines Originals zu unternehmen“ (S. 174, Hervorhebung im Original).
Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass Bertelsmeier-Kierst in ihrer Arbeit ein großer Schritt zum besseren Verständnis der deutschsprachigen Rechtsquellen des 13. Jahrhunderts gelungen ist, und dies, obwohl sie fast durchgängig methodisch sprachwissenschaftlich und ganz bewusst nicht rechtshistorisch arbeitet. Wird damit die juristische Analyse den Rechtshistorikern überlassen, zeigt die intensive Auseinandersetzung mit der rechtshistorischen Literatur, dass auch dieser Aspekt der Verfasserin nicht fremd ist.
Obwohl viele kritische Stimmen am Modell Eckhardts bereits in der rechtshistorischen Literatur der vergangenen Jahre zu vernehmen waren (Ernst Klebel, Karl Kroeschell, Rolf Lieberwirth, Ruth Schmidt-Wiegand u. a.), verweist Bertelsmeier-Kierst durch ihre gründliche Arbeit an den Handschriften und eine logisch stringente Argumentation einige längst überholte Mythen der Rechtsgermanistik endgültig in den Mottenschrank der Geschichte, so etwa das Märchen von dem simpel gestrickten Rittersmann Eike, der mit dem Ohr am Volk lokale Rechtsbräuche aufzeichnet. Vor allem stellt sie die editorische Leistung Eckhardts in Frage, dem sie nicht nur einige teilweise bis an die Grenze der Geschichtsklitterung reichende Verzerrungen bei der Interpretation der Quellen und ihrer sprachlichen Normalisierung nachweisen kann (vgl. z. B. S. 105, Fn. 241), sondern auch eine gelegentlich ungenügende Berücksichtigung des zeitgenössischen Forschungsstandes (vgl. S. 98, Fn. 209). Hinzu kommt, jedenfalls bei der Redaktion des Schwabenspiegels, eine nur oberflächliche Auseinandersetzung mit der handschriftlichen Überlieferung (S. 144).
Sollte sich die Auffassung Bertelsmeier-Kiersts in der Sprachwissenschaft durchsetzen, so erwächst daraus für die Rechtsgeschichte die drängende Frage, inwieweit man dann überhaupt noch weiterhin in Forschung und Lehre auf die Editionen Eckhardts zurückgreifen kann. Die Antwort kann nur in einer neuen interdisziplinären Anstrengung von Sprachwissenschaft und Rechtsgermanistik liegen, basierend auf einer methodisch präzisierten Neulektüre der handschriftlichen Überlieferung. Die vorliegende Arbeit ist dazu ein glänzender Ausgangspunkt. Ihre anregenden Hinweise der Verfasserin auf die geistes- und rechtsgeschichtlichen Zusammenhänge müssen allerdings, wo dies nicht bereits geschehen ist, mit Hilfe rechtshistorischer Methoden vertieft und ggf. modifiziert und ergänzt werden.
Die klare Gedankenführung und eine lesbare Sprache erleichtern, ebenso wie der umfassende Regestenteil im Anhang, den Zugang zu dieser durchaus nicht unkomplizierten Methode und machen die Lektüre streckenweise zu einem spannenden Lesevergnügen. Diesem wichtigen Buch sind auch aus der Rechtsgeschichte viele Leser zu wünschen.
Bonn David von Mayenburg