Original Ergebnisseite.

Wapler, Friederike, Werte und das Recht. Individualistische und kollektivistische Deutungen des Wertbegriffs im Neukantianismus (= Studien zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie 48). Nomos, Baden-Baden 2008. 282 S. Besprochen von Walter Pauly. ZRG GA 126 (2009)

Wapler, Friederike, Werte und das Recht. Individualistische und kollektivistische Deutungen des Wertbegriffs im Neukantianismus (= Studien zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie 48). Nomos, Baden-Baden 2008. 282 S. Besprochen von Walter Pauly.

 

Neukantianismus, auch juristischer Neukantianismus, ist ein weites Feld, wie die bei Dietmar von der Pfordten entstandene Göttinger rechtswissenschaftliche Dissertation erweist. Wapler thematisiert schwerpunktmäßig den Wertbegriff des südwestdeutschen, badischen, Heidelberger Neukantianismus, der sich im Unterschied zur Marburger Richtung selbst überhaupt nicht als Neukantianismus bezeichnete (S. 29f.). Auf fachphilosophischer Seite geht es damit im Kern um Wilhelm Windelband (1848-1915), Heinrich Rickert (1863-1936) und Emil Lask (1875-1915), bei denen jeweils verschiedene Werkphasen unterschieden werden. Der Wertbegriff spielt dabei bereits in der Erkenntnistheorie eine entscheidende Rolle, begreift der junge Windelband doch die Wahrheit als einen theoretischen Wert, dem die logischen Gesetze dienen (S. 52). Denkfreiheit reduziert sich dabei auf die Erkenntnis und Befolgung der obersten Werte und Normen. Überzeugend weist Wapler von daher Ansichten zurück, Windelband habe zunächst eine relativistische Position bezogen, die er im Zusammenhang mit Bismarcks Politikwechsel gegen die Liberalen aufgegeben habe (S. 57f.). Dass die Werte bei Windelband zu den obersten Normen des menschlichen Lebens geraten, die neben dem Denken auch Wollen und Fühlen umfassen, lag an der Erstreckung der theoretischen in den Bereich der praktischen Philosophie, wie sie sich bei Kant nicht findet. Am Ende steht ein Reich von Werten und Normen, das in einem überindividuellen Normalbewusstsein verankert sein soll, sowie ein teleologischer Geschichts- und überindividueller Kulturbegriff, womit eine unübersehbare Annäherung an Hegel wie Fichte einhergeht (S. 70ff.). Rickert verlagert die Werte vom überindividuellen Normalbewusstsein in eine Transzendenz, wobei die Vermittlung von Wert und Wirklichkeit über ein „Mittelreich des Sinns“ erfolgen soll (S. 79ff.). Die Erkenntnis allgemeingültiger Werte wird auf einen objektiven Weg verwiesen, der letztlich nur der Verobjektivierung subjektiver Annahmen den Weg bahnt (S. 88). Abgelöst von der erkenntnistheoretischen Fragestellung postuliert Lask dann eine absolute „Geltung“, die den Wertbegriff verdrängt (S. 94ff.). Erst nach seiner „Rechtsphilosophie“ aus dem Jahr 1905 entwickelt Lask seine Lehre von der „Bedeutungsdifferenz“, die Gustav Radbruch als Lehre von der Stoffbestimmtheit der Idee rezipieren wird (S. 97). Geschildert wird Lasks „Tendenz zum Kollektivismus“ (S. 120) wie dann auch Windelbands kollektivistischer Kulturbegriff, der auf einem naturalistischen Fehlschluss von tatsächlicher Gemeinschaftsabhängigkeit des Individuums auf einen ethischen Kollektivismus beruht (S. 125f.). Die These von der Eigenwertigkeit der Gemeinschaft, die den Einzelnen zum Pflichtsubjekt herabstuft, wird durch Windelbands antiparlamentarische Einstellung flankiert (S. 131f.). Unter vergleichsweise stärkerer Anerkennung der individuellen Autonomie gelangt auch Rickert zum gemeinschaftsbestimmten Individuum mit einer an der Nation ausgerichteten Ethik, die ihn 1934 für die „Volksgemeinschaft“ empfänglich macht (S. 139ff.). Eine eigene Rechtsphilosophie findet sich weder bei Windelband noch Rickert, während Lask mit einem kollektivistisch konzipierten Rechtswert diese Disziplin konzipiert (S. 145f.).

 

Den juristischen Neukantianismus, der die absolute Geltung der Werte im Unterschied zur Fachphilosophie mit teils relativistischen Standpunkten in Frage stellt und sich nicht als durchgängig positivistisch präsentiert (S. 103 u. 157ff.), kennzeichnet Wapler über seine gegenstandserzeugende Methode (S. 147). Auch Georg Jellinek (1851-1911), dem Jens Kersten einen lediglich „gegenstandsperspektivierenden“ als letztlich gegenstandsbestimmten Standpunkt zugeschrieben hatte, ordnet Wapler der gegenstandserzeugenden Methode und damit neukantianischen Richtung zu (S. 170ff.), da er sich zwar von seinem radikalen Kritiker Kelsen (1881-1973), jedoch nicht ebenso von Windelband und Rickert unterscheide. Kelsen, der den Staatsbegriff radikal normativistisch auflöse, sei nicht „neukantianischer“ als Jellinek, der zwar die erkenntniskonstituierende soziale bzw. normative Methode unterscheide, jedoch den vorwissenschaftlichen Staatsbegriff bestehen lasse. In der Einführung des Neukantianismus auf dem Gebiet der Staatsrechtslehre sieht Wapler geradezu „Jellineks Verdienst“ und einen Traditionsbruch gegenüber der Gerber-/Laband-Schule (S. 175). Dessen Sohn Walter Jellinek habe denn auch bereits 1913 in Vorwegnahme der Kelsenschen Grundnorm einen „obersten Satz aller Rechtsordnungen“ mit dem Inhalt, „daß die Anordnungen des jeweils höchsten Gewalthabers Recht sind“, als letzten Grund rechtlichen Sollens angenommen (S. 177). Das Spezifikum Kelsens liegt Wapler zufolge in der Vermischung von Marburger und Heidelberger Neukantianismus (S. 182). Ausgehend von Lasks Rechtsphilosophie wird im Anschluss Radbruchs kulturwissenschaftliches Verständnis der Rechtswissenschaft kritisch nachgezeichnet wie dann auch die hiervon zunächst geprägte neukantianische Phase Julius Binders (1870-1939), die weiter reiche als bislang angenommen und auch die vom südwestdeutschen Neukantianismus beeinflusste „Philosophie des Rechts“ von 1925 einschließe (S. 204f.).

 

Besondere Hervorhebung verdient Waplers Untersuchung der individuellen bzw. kollektivistischen Ausrichtung des Rechtswertes, der namentlich bei Lask qua sozialem Status nur kollektivistisch ausfallen kann und Lask damit als „Vertreter einer absoluten formalen Wertgeltung“ erscheinen lässt (S. 217ff.). Mit seinem typischen „sowohl-als-auch“ habe Radbruch in seiner spannungsreichen relativistischen Parteienlehre einen Bezug auf entweder die individualistische, überindividualistische oder transpersonale Weltanschauung eröffnet und nach ersten Ansätzen 1934 und 1937 ab 1945 zu einem eindeutig individualistischen Ausgangspunkt gefunden (S. 222ff. u. 261ff.). Als einziger „rechtsphilosophischer Werttheoretiker“ habe bereits vor 1945 Max Ernst Mayer (1875-1923) im Rahmen seines Humanitätsideals eine individualistische Rechtsauffassung vertreten (S. 241). Binders Reise führte dagegen in einem „fließenden Übergang vom Neukantianismus zum Neuhegelianismus“ (S. 235) unter Aufgabe des Sein/Sollen-Dualismus nach 1933 zur rassisch geprägten völkischen Rechtslehre (S. 250ff.). Selbst ein neukantianisch gegenstandskonstituierender Standpunkt hat Wapler zufolge nicht gegen den Nationalsozialismus immunisiert, wie das Beispiel Rickerts zeige. Entscheidend gewesen sei die individualistische oder gemeinschaftsgebundene Rechts- und Staatsauffassung, weshalb jeder, der sich des neukantianischen Wertbegriffs bediene, seine „anti-individualistischen und antidemokratischen Wurzeln“ kenne sollte (S. 261), wie übrigens auch die angezeigte Arbeit, deren sachlicher Gehalt und Behandlung einer Fülle von Autoren hier lediglich angerissen werden konnte.

 

Jena                                                                                       Walter Pauly