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Tyerman, Christopher, God’s War. A new History of the Crusades. The Belknap Press of Harvard University Press. Cambridge/Massachusetts 2006. XVI, 1023 S., Ill. Besprochen von Petra Roscheck. ZRG GA 126 (2009)

Tyerman, Christopher, God’s War. A new History of the Crusades. The Belknap Press of Harvard University Press. Cambridge/Massachusetts 2006. XVI, 1023 S., Ill. Besprochen von Petra Roscheck.

 

Im Vorwort zum dritten Band seiner Geschichte der Kreuzzüge hat Stephen Runciman den Rezensenten ins Stammbuch geschrieben: „Es ist abwegig und unangebracht, wenn Kritiker sich darüber beklagen, dass der Autor nicht das Buch geschrieben hat, welches sie geschrieben hätten, wenn sie sich mit dem Stoff befaßt hätten“ (zitiert nach der kongenialen deutschen Übersetzung von Peter de Mendelssohn). Mit Recht, denn es ist unrealistisch zu erwarten, dass die Darstellung und Analysierung sämtlicher Aspekte von den politischen Hintergründen, den militärischen Gesichtspunkten und komplizierten diplomatischen Verflechtungen über die gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Gegebenheiten bis hin zu den kirchengeschichtlichen und theologischen Voraussetzungen einer Bewegung, die das gesamte Abendland vom Hilfegesuch Kaiser Alexios’ I. bis zur Einnahme Konstantinopels durch die Osmanen, dazu noch die Nachzeichnung der Entwicklung der Kreuzfahrerstaaten und der Ritterorden - und all dies unter Berücksichtigung der abend-, der morgenländischen und der griechischen Sichtweise! - von einem einzelnen Forscher auch nur annähernd bewältigt werden könnte. Andererseits zeigt natürlich die Leidenschaftlichkeit, mit der die Diskussion geführt wird, sowohl die dauerhafte Aktualität des Themas sowie ein stets lebendiges, über die Grenzen der Fachwelt hinaus reichendes Interesse, als auch die schiere Unerschöpflichkeit des Sujets.

 

Anders als Runciman, der in seinem Meisterwerk, an dem immer noch alle Publikationen zur Geschichte der Kreuzzüge gemessen werden, den byzantinischen Blickwinkel bevorzugt hat, betont nun einführend Christopher Tyerman, sich auf die westeuropäische Perspektive beschränken zu wollen. Augenscheinlich angestrebt wird folglich ein „lateinisches“ Pendant zu Runcimans „griechischem“ Œuvre, indessen eine fachlich kompetente, nüchtern-sachliche Betrachtung, die von den orientalischen Quellen ausgehen würde, weiterhin Desiderat bleibt.

 

Der ausgewiesene britische Spezialist der angelsächsischen Kreuzzugsforschung verficht dabei in der Debatte über eine Auslegung dieser historischen Bewegung, in der sich die sogenannten Traditionalisten, die den Peregrinatio-Gedanken mit seiner Konzentrierung auf Jerusalem als reales und geistiges Ziel für grundlegend erachten, und die sogenannten Pluralisten gegenüberstehen, die sämtliche päpstlich autorisierte oder initiierte armierte Unternehmungen als Kreuzzüge und in diesen, pointiert formuliert, ein gegen innere und äußere Feinde eingesetztes Instrument päpstlicher Machtpolitik sehen, eine dritte Position: Auf letzterer Interpretation aufbauend und sie weiterentwickelnd, vermutet Tyerman den Ursprung des Kreuzzugsgedankens zum einen in der militant säkularen Mentalität und wachsenden Religiosität der frühmittelalterlichen Kriegeraristokratie und zum anderen in der monastischen Radikalität der kirchlichen Reformbewegungen des 10. und 11. Jahrhunderts (so ausführlich in seiner 1988 erschienenen ersten umfangreichen Monographie „England and the crusades. 1095-1588“, S. 3). Die aus dieser Grundhaltung erwachsenen Expeditionen beschreibt er nämlich als ein heterogenes, vielfältige und zum Teil kontroverse Ziele verfolgendes Phänomen. Explizit ausgeführt hat der Verfasser seine Theorien dann zehn Jahre später unter dem Titel „The Invention of Crusades“ und resümiert deshalb verständlicherweise diese in der hier vorliegenden Gesamtschau nur.

 

Seine thesengemäß auch die Kämpfe gegen die Albigenser, die spanische Reconquista sowie die Feldzüge gegen die Wenden umfassende Darstellung beginnt der Verfasser mit einem kurzen Überblick über die Geschichte des europäischen Mittelmeerraumes, des Investiturstreites und des Reformpapsttums als den beiden entscheidenden Faktoren, außerhalb derer die Kreuzzüge „nicht zu verstehen seien“ (S. 7). Es folgen eine knappe Skizzierung der theologischen Grundlagen unter Einstreuung einiger allerdings aus dem Kontext gerissener Bibelzitate, die zur Illustrierung der Debatte um die Begriffe des bellum iustum und des bellum sacrum gedacht waren, und der noch kürzer ausfallende Versuch einer Definition des islamischen Dschihad. Wie in der gesamten bisherigen Kreuzzugsforschung misslingt auch hier das Aufgreifen einer Thematik, welche die Methodologie der Geschichtsforschung übersteigt und besser der Feder des exegetisch, kirchenhistorisch und -rechtlich geschulten Theologen bzw. des ausgewiesenen Islamforschers anvertraut bleiben sollte.

 

Die eigentliche Abhandlung entspricht in Gliederung (Schilderung der einzelnen Kreuzzüge in chronologischer Reihenfolge, jedoch unter besonderer Herausstreichung ihres Bußcharakters) und Betrachtungsgegenständen (neben den einzelnen Unternehmungen Aufstieg, Verteidigung und Niedergang der Kreuzfahrerstaaten) der herkömmlichen Vorgehensweise, von der sie auch die Gepflogenheit übernimmt, sich am eingehendsten mit den 1097 bis 1099 durchgeführten armierten peregrinationes zu beschäftigen und alle nach dem Fall von Akkon organisierten Militärexpeditionen nur noch zu streifen. Müßig wäre es zu erwähnen, dass Tyerman gründlich und sachkundig die abendländische Historiographie ausgeschöpft hat, doch ist zu betonen, dass des weiteren wenig bekanntes Urkundenmaterial hinzugezogen wurde.

 

Vielleicht in bewusster Abgrenzung von Runcimans leidenschaftlicher, zuweilen gar polemischer Narration ist auf längere Quellenzitate verzichtet worden. Indes: die in nüchternerem und dennoch angenehmem Stil gehaltene Darstellung ist gleichfalls nicht frei von überzogenen Urteilen, so wenn die Sachsenkriege Karls des Großen als „Genozid“ gewertet (S. 37), Guibert von Nogent als „Vornehmtuer, Müttersöhnchen, in seinem Amt als Abt versagender Fabulist“ (S. 243) sowie Niketas Choniates und Nikolaus Mesarites als „zwei der hysterischsten griechischen Augenzeugenı (S. 553) abqualifiziert werden. Zu unausgewogen ist zudem die Bewertung der päpstlichen Politik wie auch des Kampfes gegen die Albigenser, nicht hinreichend fundiert die Einschätzung der Katharerlehre als fließende Grenze zwischen Rechtgläubigkeit und Häresie. Einerseits wird vorschnell Froissarts Berichten die Glaubwürdigkeit abgesprochen, andererseits kritiklos die Liste der Bernard de Casenac angelasteten Greueltaten übernommen und, methodologisch gravierender, die Bedeutung des Chançon d’Antioche, der Estoire des Engleis (beide werden [S. 246] als zwar packende, doch historisch praktisch wertlose „Abenteuergeschichten“ abgetan) und anderer zeitgenössischer Werke dieser Quellengattung als unschätzbare Nachrichtenlieferanten für die Militär-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte verkannt.

 

Offensichtlich ist der von Tyerman anvisierte Leserkreis nicht unbedingt die Fachwelt und auch nicht ein Publikum, das über den angelsächsischen Kreis hinausreichen würde. Dies zeigt der Umstand, dass bei der Anführung historiographischer Zeugnisse nur dann auf die lateinische bzw. griechische oder altfranzösische Edition verwiesen wird, wenn keine englische Übersetzungsausgabe vorliegt und in das Schrifttumsverzeichnis nur sehr wenige fremdsprachliche Titel Eingang gefunden haben. Auch ist der Bogen, der von der Reconquista zur frankistischen Ideologie (S. 673) und von den Wendenkriegen zur nationalsozialistischen Propaganda (S. 689) geschlagen wird, da keine historisch abgesicherte Erläuterung folgt, eher effekthascherisch als begründet zu nennen. Gleiches gilt generell für die gelegentlich anklingenden neuzeitlichen Reminiszenzen: Wenn Tyerman den (im übrigen authentisch nicht zweifelsfrei überlieferten) Predigtstil Peters des Eremiten als eine Mischung aus der Rhetorik Gladstones und Disraelis charakterisiert (S. 496), so ist der ohnehin mehr als gewagte Vergleich für die allermeisten Leser außerhalb der Britischen Inseln ohne Aussagekraft, und König Ludwig IX. von Frankreich als den Nelson Mandela seiner Zeit (S. 805) zu bezeichnen ist ebenso originell wie absurd.

 

Uneingeschränkt zuzustimmen ist Tyermans abschließendem Hinweis auf die gesellschaftlich und kulturell prägende sowie identitätsstiftende Rolle der Kreuzzugsbewegung. Die Schlussfolgerung, sie sei nicht etwa zu Ende gegangen, weil sie unmodern geworden wäre, sondern einem mit dem Verlust der Kontrolle, welche die westliche Kirche über die Gesellschaft ausgeübt habe, sowie mit einem Niedergang der päpstlichen Autorität einhergehenden Säkularisationsprozess geschuldet, lässt hingegen die zahlreichen bedeutenden politischen, militärischen und diplomatischen Fakten und Gesichtspunkte gänzlich außer acht.

 

Nichtsdestoweniger sei Tyermans mit knappen, doch stets aufschlußreichen Anmerkungen (S. 923-985), einer Auswahlbibliographie (S. 986-990), fünf Seiten Herrscherlisten sowie einem Namen- und Sachregister ausgestattete Monographie den Studierenden zur Vorlesungs- oder Examensvorbereitung als nützliches Hilfsmittel mit Nachdruck empfohlen. Und gerade in diesem Zusammenhang ist unbedingt die Leistung des Verlags herauszuheben, der ein tausendseitiges, mit 31 ausschließlich farbigen (echten, nicht, wie bedauerlicherweise üblich geworden, eingescannten) Abbildungen, 24 Karten und Skizzen versehenes und auf hochwertigem Papier gedrucktes Buch für den studentenfreundlichen Preis von nur 35 Dollar anzubieten vermag.

 

Der Fachmann hingegen wird, namentlich aufgrund der hier gewählten stark verengten Perspektive der Darstellung, für eigene Untersuchungen aus den vorausgegangenen, wertvolle Informationen liefernden Werken des britischen Historikers ungleich größere Anregungen ziehen und nach wie vor einen höheren Genuss bei der Lektüre von Runciman finden.

 

Zweifellos, und dies bleibt - eingedenk der oben zitierten Ermahnung - dem Rezensenten als Fazit, liefert Tyermans Geschichte der Kreuzzüge grundsolide Forschungsarbeit. Aber der im Untertitel „A new history of the crusades“ hervortretende Anspruch greift eindeutig zu hoch, handelt es sich hier doch eher um „Another history of the crusades.“

 

Saarbrücken                                                                                                  Petra Roscheck