Severin-Barboutie, Bettina, Französische Herrschaftspolitik und Modernisierung. Verwaltungs- und Verfassungsreformen im Großherzogtum Berg (1806-1813) (= Pariser Historische Studien 85). Oldenbourg, München 2008. VI, 410 S., 5 Ill. Besprochen von Werner Schubert. ZRG GA 126 (2009)
Severin-Barboutie, Bettina, Französische Herrschaftspolitik und Modernisierung. Verwaltungs- und Verfassungsreformen im Großherzogtum Berg (1806-1813) (= Pariser Historische Studien 85). Oldenbourg, München 2008. VI, 410 S., 5 Ill. Besprochen von Werner Schubert.
Das Großherzogtum (GHT) Berg verdankt wie auch das Königreich Westphalen und das Großherzogtum Frankfurt seine Gründung und Existenz dem französischen Kaiser. Bislang hat insbesondere das Königreich Westphalen wegen seiner Verfassung und aufgrund der Programmatik, mit der es von Napoleon bedacht wurde, die Aufmerksamkeit der Geschichts- und Rechtswissenschaft gefunden. Dagegen ist dem GHT Berg – sieht man einmal von der vor über 100 Jahren erschienenen Monographie von Charles Schmidt, Le Grand-Duché de Berg (1806-1813), Paris 1904 (deutsche Übersetzung, Neustadt an der Aisch 1999) ab – geringere Beachtung geschenkt worden. Deshalb ist es zu begrüßen, dass mit dem Werk von Severin-Barboutie wieder eine umfassendere Arbeit über das GHT Berg vorliegt. Ausgangspunkt der Studie ist die Frage nach Funktion, Wesen und Wirkung der französischen Herrschaft am Niederrhein: „Am Beispiel der französischen Herrschaftspolitik im GHT Berg sollen die Zusammenhänge zwischen Reformpolitik, dem Ausbau staatlicher Macht und der Modernisierung von Staat und Gesellschaft im frühen 19. Jahrhundert untersucht werden“ (S. 9). Im ersten Kapitel stellt die Verfasserin die Gründung und allgemeine Entwicklung des neuen Staates dar, der am 15. 3. 1806 gegründet wurde und 1808 seine größte Ausdehnung erreichte (17.300 qkm; 1811: 14.000 qkm). Der erste Großherzog war bis Mitte 1808 der Prinz Joachim Murat, ein Schwager Napoleons. Am 15. 7. 1808 übernahm Napoleon selbst die Herrschaft, übertrug jedoch die Herzogswürde im März 1809 seinem vierjährigen Neffen Louis Napoleon, für den er die Regentschaft führte. Während Berg unter Murat ein souveräner, von Frankreich allerdings abhängiger Staat war, wurden die Gesetzgebung und wichtige Teile der Innen- und Finanzpolitik unter Napoleon weitgehend von Paris aus bestimmt, zuletzt von 1810 an von dem Senator Roederer mit einem eigenen Minister-Staatssekretariat. Im zweiten Kapitel beschreibt Severin-Barboutie die Ausgangslage in den einzelnen Territorien (teilweise noch bestehende landständische Verfassung; Verwaltungsbehörden in den preußischen und nicht preußischen, insbesondere bergischen Gebieten; Wirtschafts- und Sozialordnung, Gewerbeaktivitäten). Auf dieser Grundlage untersucht die Verfasserin in den beiden folgenden Abschnitten die französische Reformpolitik in den Bereichen Verwaltung (S. 85ff.) und Verfassung (S. 255ff.). Schon unter Murat kam es zur Einführung der Ministerialverfassung und zur Reorganisation der mittleren Verwaltungsebene, wozu man zunächst auf die preußische Provinzialverfassung zurückgriff (Übersicht S. 132), die 1808 durch die Gliederung in Departements abgelöst wurde, an deren Spitze Präfekten standen (Übersicht S. 159). Bereits im Oktober 1807 erfolgte eine Kommunalverfassungsreform unmittelbar nach französischem Muster. Breiten Raum widmet die Verfasserin der Besetzung der Verwaltungsposten und der Neugestaltung der Verwaltung vor Ort (S. 163-253). In dem Kapitel: „Auf dem Weg zum Verfassungsstaat? Verfassungspolitik und konstitutionelle Entwicklung“ (S. 255ff.) arbeitet die Verfasserin zunächst heraus, dass der Plan Murats, Berg mit einer geschriebenen Verfassung auszustatten, sehr schnell am Widerstand der französischen Regierung in Paris scheiterte. Auch in der Folgezeit lehnte Napoleon den Erlass einer Verfassung ab (S. 259ff.). Die konstitutionelle Entwicklung erfolgte vielmehr durch Einzelgesetze, die zum Teil über die Reformgesetzgebung Westphalens hinausgingen. In dem Abschnitt über die politische Mitsprache geht die Verfasserin zunächst auf die Anordnung eines Repräsentativorgans im Jahre 1812 ein, dessen Einberufung jedoch nicht mehr erfolgte (S. 270ff.) und anschließend auf die Mitsprachepraxis durch Petitionen und Delegationen nach Paris. Am spektakulärsten war die Intervention einer Bauerndelegation, die zur Klarstellung der Agrargesetzgebung von 1808 aufgrund eines von Napoleon in Auftrag gegebenen Gutachtens des französischen Generalstaatsanwalts am Pariser Kassationshof Merlin de Douai führte (S. 287f.). Im Abschnitt über die Neuordnung der Justizverfassung arbeitet die Verfasserin heraus, dass die französische Justizorganisation erst nach dem Inkrafttreten des Code Napoléon (1. 1. 1810) zum 1. 1. 1812 eingeführt wurde (S. 297ff.). 1812/13 verteidigte der Düsseldorfer Generalstaatsanwalt Sethe, 1819-1852 Präsident des rheinischen Revisions- und Kassationsgerichtshofs in Berlin, die Unabhängigkeit der Strafjustiz gegenüber den bergischen Ministern und bekam in einem Fall auch Recht durch ein Gutachten Merlins. Auf nur wenigen Seiten befasst sich Severin-Barboutie abschließend mit den Änderungen in der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung (u. a. Abschaffung des Feudalsystems, Einführung des Code Napoléon und des französischen Steuersystems).
In den „Schlussbetrachtungen“ (S. 257ff.) stellt die Verfasserin fest, dass Murat bis Anfang 1808 zunächst unterschiedlichen Vorbildern und Modellen folgte und nach Gründung des Königreichs Westphalen dem französisch-westfälischen Vorbild folgen wollte, während unter Napoleon seit Mitte 1808 eine Hinwendung zum rein französischen Modell erfolgte, von dem abzuweichen die Pariser Ministerialbürokratie grundsätzlich nicht gestattete. Auf diese Weise unterschied sich die Reformpolitik im GHT Berg von derjenigen des Königreichs Westphalen, so dass die beiden von Napoleon errichteten Staaten nicht gleichgestellt werden sollten: „Vielmehr muss das Großherzogtum Berg als eine besondere Spielart französischer Herrschaftspolitik bzw. als eine andere Modellstaatsvariante betrachtet werden als sein westfälischer Nachbar“ (S. 370). Im Übrigen stellt die Gesetzgebung und Reformumsetzung zumindest für den bergischen Teil des Großherzogtums mehr als eine nur ephemere Erscheinung dar, wie die Tatsache zeigt, dass auch der bergische Teil der Rheinprovinz nach 1814 vehement für die Beibehaltung des französischen Rechts eintrat. Die Darstellung von Severin-Barboutie geht auf zahlreiche Reformgesetze des Großherzogtums Berg ein, wenn sich auch der Rechtshistoriker mitunter vor allem für die Kommunalgesetzgebung und die Verfassungsentwürfe detailliertere Informationen gewünscht hätte. Aufschlussreich sind die Analysen der Reformumsetzung auf den unteren Verwaltungsebenen, die von der Rechtsgeschichte oft vernachlässigt wird. Mit dem Werk Severin-Barbouties liegt über die wichtigsten Bereiche der Reformpolitik des Großherzogtums Berg auch eine methodisch wegweisende Studie vor, an der die deutsche Rechtsgeschichte der napoleonischen Zeit nicht vorbeigehen sollte.
Kiel
Werner Schubert