Original Ergebnisseite.

Schreiber, Carsten, Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsens (= Studien zur Zeitgeschichte 77). Oldenbourg, München 2008. VIII, 501 S. Besprochen von Martin Moll. ZRG GA 126 (2009)

Schreiber, Carsten, Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsens (= Studien zur Zeitgeschichte 77). Oldenbourg, München 2008. VIII, 501 S. Besprochen von Martin Moll.

 

Angesichts einer Forschungsliteratur über den Nationalsozialismus, die mittlerweile ganze Bibliotheken füllt und selbst für den Fachmann nicht mehr überschaubar ist, vermag man sich kaum vorzustellen, dass es zu diesem Thema noch weiße Flecken geben oder der Fund einer einzigen Quelle zu wesentlich gewandelten Erkenntnissen führen könnte. Und doch ist es so. Wer die einleitenden Bemerkungen Schreibers zu der von ihm entdeckten Quelle und deren Relevanz anfangs mit Skepsis liest, wird bald eines Besseren belehrt.

 

Mit sichtlichem Stolz schildert der Verfasser, wie er 1998 durch einen glücklichen Zufall eine Personenkartei des für Sachsen zuständigen Leitabschnitts des Sicherheitsdienstes (SD) der SS entdeckte und wie er das Bundesarchiv auf die falsche Einordnung dieses Bestandes hinweisen konnte: Trotz der durchgehenden Verwendung der SS-typischen Sigrune und zahlreicher Stempel „Geheime Reichssache“ hatten die Archivare die in der Hinterlassenschaft der DDR-Staatssicherheit aufgefundene Kartei fälschlich als Produkt des SED-Staates klassifiziert. Die Kartei – von sämtlichen SD-Leitabschnitten ist nur diese eine erhalten geblieben – beinhaltet Karteikarten mit Personenangaben zu nicht weniger als 2.746 für den SD tätig gewesenen Männern und Frauen. Völlig zu Recht nahm Schreiber an, dass dieser singuläre Fund erstmals quellengestützte und vertiefende Einsichten in das regionale Netzwerk des SD, dieses wichtigen Teils des NS-Herrschafts- und Unterdrückungsapparates, erlauben werde. Was der Verfasser als Leipziger Dissertation vorgelegt hat, kann nunmehr in einer überarbeiteten und gekürzten Druckfassung nachgelesen werden.

 

Vom Forschungsansatz her reiht sich die Arbeit in die seit den 1990er Jahren aufgekommene „Neue Täterforschung“ ein, die sich vor allem den Planern und Exekutoren der nationalsozialistischen Terror- und Vernichtungspolitik widmet(e). Der SD, de iure als Teilorganisation der SS eine Parteiinstitution ohne direkte staatliche Exekutivgewalt, fand bislang eine verglichen mit der Gestapo geringe Aufmerksamkeit, was wohl der unbefriedigenden Quellenlage geschuldet ist. Galt der SD früher oft als zahnlos, so kann Schreiber nachweisen, dass jener allein schon wegen der für die NS-Herrschaft typischen Arbeitsteiligkeit und wegen der bis zur Ununterscheidbarkeit reichenden Verschmelzung mit anderen Apparaten eine überaus bedeutsame Rolle spielte. Dies belegt allein der Umstand, dass die Gestapo lediglich in vier sächsischen Städten über ortsfestes Personal verfügte, während der SD dort in nicht weniger als 484 Gemeinden präsent war (S. 448).

 

Nach Auswertung der Personalkartei des sächsischen SD verwundert nicht, woher die Unterschätzung dieser Organisation herrührt: Nur ein Bruchteil der rund 2.750 für den SD Tätigen waren hauptamtliche Mitarbeiter, die Masse hingegen versah ihren Dienst entweder ehrenamtlich oder war als „V-Mann“ mehr oder minder lose eingebunden. Folgerichtig unterscheidet Carsten bei den erhobenen Personen zwischen deren Status und Funktion innerhalb des SD – dass sich beides deckte, war eher die Ausnahme als die Regel.

 

Dank dieser Personalstruktur des SD erhielt das Regime praktisch einen Geheimdienst zum Nulltarif (S. 447). In Sachsen mit seinen damals rund 5 Millionen Einwohnern kam statistisch ein SD-Mitarbeiter auf 1.769 „Volksgenossen“, weniger als ein Zehntel der Dichte, die später die Stasi mit ihren „IM’s“ erreichen sollte.

 

Vielfach wurde aus dem Befund eines mehr als grobmaschigen Netzes der falsche Schluss gezogen, der SD habe primär – wie sein Führungspersonal nach 1945 in offenkundig apologetischer Absicht Glauben machen wollte – als Meinungsforschungsinstitut fungiert, dessen etwa zweimal wöchentlich vorgelegte „Meldungen aus dem Reich“ ein weitgehend verlässliches, weil objektives Barometer der Volksstimmung darstellten. Diese Meldungen wurden und werden denn auch von der Forschung gern zitiert, der für sie verantwortliche Apparat fand weit weniger Aufmerksamkeit.

 

Weit über Sachsen hinausgehend und seine regionalen Erkenntnisse stets auf einen größeren Zusammenhang beziehend, schildert Schreiber die Genese des von Reinhard Heydrich 1931 ins Leben gerufenen Nachrichtendienstes, der sich von Anfang an als Elite verstand, was nicht nur leere Worte waren. Freilich zeigt die aus der Kartei erschließbare Rekrutierungspraxis, dass weder der Rassenwahn noch politische Verdienste der „alten Kämpfer“ je den Ausschlag gaben. Der SD rekrutierte vielmehr NS-nahe Funktionseliten, wobei den unteren Verwaltungseliten (etwa den Landräten), Medizinalbeamten, Wirtschaftsführern und Juristen eine herausgehobene Rolle zufiel. Wie Schreiber überzeugend nachweist, hatten Viele aus diesen Kreisen keinerlei Bedenken, in welcher Form auch immer für den SD tätig zu sein.

 

Welche Formen diese Mit- und Zuarbeit annahm, lässt sich weniger simpel definieren. Angelehnt an zeitgenössische, SD-interne Typologien unterscheidet Schreiber folgende Spielarten von zusammenfassend als Nachrichtenträger bezeichneten Personen: Zubringer, Agenten, Vertrauenspersonen, Mitarbeiter, Außenstellenleiter und Beobachter (S. 175). Jede dieser Personengruppen wird nicht bloß theoretisch definiert, sondern als Gruppe wie auch anhand sprechender Fallbeispiele praxisnah präsentiert. Der Verfasser behandelt den Rekrutierungsvorgang ebenso wie die eigentliche Arbeit für den SD, die (mitunter fehlende) Führung von oben, die soziale Zusammensetzung der Nachrichtenträger (Alter, Geschlecht, regionale und schichtspezifische Herkunft etc.) und vieles mehr. Ein abschließendes Kapitel beschreibt einfühlsam die Motivlage, die zwischen den Polen Ideologie und Interesse angesiedelt war.

 

Um das Profil seiner Untersuchungsgruppe noch schärfer zu konturieren, stellt Schreiber an zahlreichen Stellen seiner Arbeit erhellende Vergleiche sowohl mit dem Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes als auch mit der Stasi an. Die Reichhaltigkeit der Resultate kann in einer Rezension unmöglich angemessen wiedergegeben werden, besonders auffällig ist die starke Präsenz der sogenannten, zwischen 1900 und 1910 geborenen „Kriegsjugendgeneration“, der hohe Akademikeranteil sowie die überraschende lokale Verwurzelung des SD-Personals in Sachsen, das an dem SS-typischen Rotationsverfahren nur begrenzt teilnahm – mit der wichtigen Ausnahme der weit verbreiteten Einsätze in den okkupierten Gebieten während des Krieges.

 

Die manchmal nicht ganz logische Abfolge der behandelten Themen stört den Lesefluss nicht ernsthaft und wird mehr als wettgemacht durch die klare und wohltuende Sprache, stellenweise angereichert durch ein wenig Süffisanz. Gestützt auf eine überaus reichhaltige Literatur- und Quellenbasis (letztere erschöpft sich keineswegs in der SD-Kartei) gelingt Schreiber in der Tat ein wichtiger Beitrag zur Sozial- und Herrschaftsgeschichte des NS-Regimes. Stets vorsichtig abwägend, quellennah argumentierend und vorschnelle Urteile vermeidend, zeichnet er das verborgene Netzwerk der „Frontinstanz“ SD, was eine Fülle von Rückschlüssen auf das reichsweite Agieren des Dienstes gestattet. Der Verfasser hütet sich vor jeder Dämonisierung des von ihm untersuchten Apparates, vielmehr arbeitet er das Spannungsfeld heraus, in welches der elitäre SD geriert, als er sich von der direkten Gegnerbekämpfung abwandte und stattdessen, vor allem während des Krieges, ein Abbild der Vorgänge innerhalb der gesamten „Volksgemeinschaft“ liefern sollte. Der Anspruch dieser exzellenten, Theorie und Empirie vorbildlich verbindenden Arbeit, „mit dem legendenumwobenen ‚braunen Netz’ eine(n) der letzten weißen Flecken in der unübersichtlichen Topographie des NS-Terrors ausgefüllt“ zu haben (S. 449), ist keinesfalls zu hoch gegriffen.

 

Graz                                                                                                  Martin Moll