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Ruff, Holger, Sittenwidrige Rechtsgeschäfte in der späten Kaiserzeit (= Rechtshistorische Reihe 139 = Diss. jur. Kiel 2007). Lang, Frankfurt am Main 2007. 507 S. Besprochen von Hans-Peter Benöhr. ZRG GA 126 (2009)

BenöhrRuffsittenwidrigerechtsgeschäfte20080130 Nr. 11989 ZRG GA 126 (2009) 69

 

 

Ruff, Holger, Sittenwidrige Rechtsgeschäfte in der späten Kaiserzeit (= Rechtshistorische Reihe 139 = Diss. jur. Kiel 2007). Lang, Frankfurt am Main 2007. 507 S. Besprochen von Hans-Peter Benöhr.

 

I. Inhalt

Erklärungen über den „Untersuchungsgegenstand und Gang der Darstellung“ und die „Einführung in die Thematik“ mit einem anerkennenswerten „Abriss der historischen Entstehung des § 138 BGB“ leiten diese von Werner Schubert betreute Arbeit ein. Die beiden Hauptkapitel betreffen den „gemeinschaftlichen Verstoß gegen die guten Sitten“ (59-326) und das „sittenwidrige Verhalten nur eines Geschäftspartners“ (327-415). Die „Ergebnisse“ werden abschließend zusammengefasst (417-431).

 

Unter dem „gemeinschaftlichen Verstoß gegen die guten Sitten“ finden wir den „Verstoß gegen die ehe- und familienrechtliche Ordnung“, „die sogenannten Bordellverträge“, „Arztpraxisveräußerungen“, „Geschäfte mit der Folge der Schädigung Dritter“, den „Betrieb einer Gast- oder Schankwirtschaft ohne polizeiliche Erlaubnis“, die „Gewährung von Darlehen zum Zwecke des Spieles“, die Nichterstattung einer Strafanzeige und die Nichtausübung des Zeugnisverweigerungsrechts sowie die Abtretung einer Forderung zur Prozessbenachteiligung des Gegners.

 

Durchwegs als Sittenwächter tritt das Reichsgericht für Ehe und Familie auf. Es hielt die Bestimmungen vierten Buchs des Bürgerlichen Gesetzbuchs weitgehend für zwingend und ließ abweichende Vereinbarungen zur Wohnortbestimmung, zum Getrenntleben oder zur Scheidungserleichterung sowie über das Erziehungsrecht nicht zu. „Die Vertragsfreiheit sei auf dem Gebiet des Familienrechts nicht die Regel“, hieß es. Verdammung erfuhren bekanntlich auch das sogenannte Mätressentestament und die Vereinbarung von Zahlungen zu Lebzeiten, wenn sie zur Belohnung oder für die Fortsetzung von Geschlechtsverkehr erfolgten. Nur selten konnten das Wohl der Kinder, die Versorgung einer Frau oder die beruflichen Erfordernisse eine Abweichung von den Gesetzesbestimmungen und die Vereinbarung von Geldleistungen rechtfertigen.

 

Bei Bordellverträgen war das Reichsgericht weniger „streng“ und legte mehr Wert als bei den ehe-, familien- und erbrechtlichen Rechtsgeschäften darauf, „die Verhältnisse des Einzelfalls genauestens zu prüfen“. Es zeigt sich bereits hier, dass das Reichsgericht keinesfalls die Abwägung im Einzelfall einer starren, allein der Rechtssicherheit verpflichteten Rechtsprechung opferte. Wichtiges Indiz war in diesen wie in vielen anderen Fällen die Höhe der Gegenleistung. Übrigens exerzierte das Reichsgericht am Beispiel der Bordellverträge das Abstraktionsprinzip hinsichtlich der Übereignung der Grundstücke und der Wirksamkeit der Kaufpreisforderungen und der für sie bestellten Hypotheken.

 

Die Veräußerung einer Arztpraxis (für die Kanzlei eines Rechtsanwalts wurde die Frage damals nicht an die ordentlichen Gerichte herangetragen) berge die Gefahr in sich, dass der übernehmende Arzt „sein Augenmerk vor allem und unter Außerachtlassung voller Berücksichtigung der Interessen der seine Hilfe nachsuchenden Personen auf die Erzielung möglichst hoher Einnahmen richtete“. Das Rechtsgeschäft wurde für sittenwidrig erklärt, wenn nicht besondere Umstände diesen Makel entfernten. Entgeltliche Konkurrenzverbote unter Ärzten galten als sittenwidrig, weil Ärzte wie Rechtsanwälte „fundamentale, allgemeine, öffentliche Zwecke, nämlich die der Gesundheitspflege und der Rechtspflege“, ausübten. Standesregeln wurden nicht als Maßstäbe für das „Anstandsgefühl“ oder die Sittenwidrigkeit herangezogen. Vom Schutz der Persönlichkeit der Patienten ist noch nicht die Rede.

 

Interessanter ist fast, welche Rechtsgeschäfte das Reichsgericht zumeist nicht als sittenwidrig ansah:

 

Grundsätzlich wurde gegen Sicherungsübereignung und Sicherungsabtretung nicht das Bedenken der Sittenwidrigkeit noch das des Scheingeschäfts erhoben. Allenfalls bestand damals wie heute im Einzelfall Grund, ihnen Mangel an „der erforderlichen Bestimmtheit und Bestimmbarkeit“ vorzuwerfen. Sie waren sittenwidrig, wenn sie lediglich der Schädigung der Gläubiger dienten. Vorrangig waren die Bestimmungen der Gläubigeranfechtung nach dem Anfechtungsgesetz und der Konkursordnung. 1907 wurde eine für unbillig gehaltene Abtretung sämtlicher künftiger Forderungen, „wenn auch nicht in unmittelbarer Anwendung so doch in Verfolg des Grundsatzes des § 310 BGB sowie nach Maßgabe des § 138 BGB für unzulässig“ erklärt. Die Übertragung sämtlicher gegenwärtiger und künftiger Außenstände, Einrichtungsgegenstände, Rohstoffe und Waren - der 1912 so genannte Knebelungsvertrag - verfiel 1911 dem Verdikt der Sittenwidrigkeit. Die „Übersicherung“ als solche trat damals noch nicht in das Blickfeld der Rechtsprechung. Erst 1932 und 1933 legte das Reichsgericht sieben sittenwidrige Einzeltatbestände der Sicherungsgeschäfte fest. Ruff betont zu recht, das Reichsgericht habe mit der Anerkennung von Sicherungsübereignung und Globalzession und mit der Umschreibung von deren Grenzen den Grundstein gelegt, auf den die spätere Rechtsprechung Stein auf Stein gesetzt hat.

 

Das Reichsgericht - entgegen einem großen Teil der Wissenschaft - fand im allgemeinen auch nichts Sittenwidriges am 1500-Mark-Vertrag: Gehalt und Dienstbezüge waren damals „nur soweit der Pfändung unterworfen als der Gesamtbetrag die Summe von 1500 Mark für das Jahr übersteigt“. Wenn Gehaltspfändungen drohten, vereinbarten Arbeitgeber und Arbeitnehmer häufig, dass ein Einkommen, soweit es 1500 Mark überstieg, direkt an die Ehefrau, die Kinder oder andere Begünstigte gezahlt werden sollte. Das Reichsgericht schützte in einer „berühmten“ Entscheidung 1908 diese Verträge gegen die Anfechtung nach dem Anfechtungsgesetz, später dazu gegen den Vorwurf der Sittenwidrigkeit und des Scheingeschäfts. Es hielt die Verträge aber nur aufrecht, soweit sie dem Angestellten und seiner Familie zum standesgemäßen Lebensunterhalt dienten. Zuwendungen zu einem anderen Zweck oder mit einem höheren Betrag hätten einen Verstoß gegen die guten Sitten dargestellt.

 

Desgleichen billigte das Reichsgericht „Submissionsabsprachen“ gegenüber Ausschreibungen der öffentlichen Hand: „Irgendein Unrecht gegenüber die die Konkurrenz ausschreibende Kreisverwaltung lag nicht vor, da dieser völlig freistand, die Angemessenheit der Angebote, wie ja tatsächlich auch geschehen ist, zu prüfen und danach ihre Entscheidung zu treffen“. Die durch öffentliche Ausschreibungen „entfesselte schrankenlose Konkurrenz durch unreelle Unterbietungen (bildet) eine schwere Gefahr für den Handwerkerstand. Vereinbarungen … angemessene Preise aufrechtzuerhalten, sind grundsätzlich als zulässig anzunehmen … Auch die Geheimhaltung ist selbstverständlich … Und wenn wirklich einmal ein Beamter durch solche Geheimabreden irregeführt werden sollte, so hat er es seiner eigenen schuldhaften Unkenntnis der wirtschaftlichen Verhältnisse zuzuschreiben“.

 

Die Verträge, die mit dem „Betrieb einer Gast- oder Schankwirtschaft ohne polizeiliche Erlaubnis“ zusammenhingen, wurden trotz dem Verstoß gegen die Gewerbeordnung und trotz der Bedrohung mit einer Geldstrafe nicht stets als sittenwidrig und nur gelegentlich als gesetzwidrig (§ 134) angesehen; die Rechtsprechung schwankte hier sehr erheblich. Nur verhältnismäßig selten versagte das Reichsgericht der „Gewährung von Darlehen zum Zwecke des Spielens“, der „Vereinbarung der Nichterstattung einer Strafanzeige“ oder der „Abtretung einer Forderung“ zur Prozessbenachteiligung des Gegners die Anerkennung.

 

In seinem zweiten Hauptkapitel über das „sittenwidrige Verhalten nur eines Geschäftspartners“ (327-416) beschreibt Ruff die Judikatur zu „Wucher“ und „wucherähnlichen Rechtsgeschäften“, Bierlieferungsverträgen und „vertraglichen Konkurrenz- bzw. Wettbewerbsverboten“, zur Ausnutzung einer Monopolstellung, zur sogenannten Polenklausel und zum missbilligten Richten in eigener Sache.

 

Wir begnügen uns damit hervorzueben, dass die „Verpfändung des Ehrenworts zur Bestärkung von Konkurrenzverboten“ sittenwidrig war, weil die „Ehre als ideales Gut einen Teil des Persönlichkeitsrechts des Menschen“ bildet (RGZ 68, 229, 231).

 

Das Ausnutzen einer Monopolstellung wurde nicht in einer repräsentativen Zahl von Fällen behandelt, sondern nur in drei Prozessen wegen des Kaiser-Wilhelm-Kanals: Das Kaiserliche Kanalamt hatte in der „Betriebsordnung für den Kaiser-Wilhelm-Kanal“ jegliche Haftung, auch für ein Verschulden seiner Angestellten, ausgeschlossen. Hingegen hielt das Reichsgericht das Kaiserliche Kanalamt nicht für befugt, „mit rechtlicher Wirksamkeit in das Gebiet hinüberzugreifen, das der Gesetzgebung vorbehalten sei“. Der Schiffsführer des später beschädigten Schiffes hatte außerdem einen entsprechenden Revers unterschrieben. Doch fand das Reichsgericht: „Wo der einzelne ein ihm tatsächlich zustehendes Monopol oder den Ausschluss einer Konkurrenzmöglichkeit dazu missbraucht, dem allgemeinen Verkehr unbillige, unverhältnismäßige Opfer aufzuerlegen, unbillige und verhältnismäßige Bedingungen vorzuschreiben, da können dieselben rechtliche Anerkennung nicht finden“.

 

Wieder sind die Fallgruppen fast interessanter, in denen das Reichsgericht in der Regel die Sittenwidrigkeit gerade verneint und nur bei Hinzutreten weiterer Umstände angenommen hat. So hat das Reichsgericht - stärker an die Gesetzessystematik angelehnt, außerdem auf die kodifikatorische Ablehnung der Unwirksamkeit der laesio enormis gestützt und weniger für den Schutz des Schutzbedürftigen sorgend - wucherähnliche Rechtsgeschäfte, die durch die Unverhältnismäßigkeit von Leistung und Gegenleistung gekennzeichnet sind, denen aber die weiteren, insbesondere subjektiven Elemente des Wuchers fehlen, in der Regel nicht als sittenwidrig angesehen. Ein übermäßiges Anwaltshonorar hingegen galt 1913 als ein erschwerender Umstand, der die Vereinbarung zu einer sittenwidrigen stempelte.

 

In der Kartellbildung fand das Reichsgericht keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Gewerbefreiheit (§ 1 GewO) und keine Sittenwidrigkeit. Es sei nicht untersagt, im Wege gemeinschaftlicher Selbsthilfe die Betätigung dieser (gemeint sind die vorher genannten:  wirtschaftlichen) Kräfte zu regeln und von Ausschreitungen, die für schädlich erachtet werden, abzuhalten, hieß es schon vor Inkrafttreten des BGB. Nicht erlaubt sei jedoch der Zweck der „Beherrschung des Marktes für eine Ware und die Unterbindung freier Betätigung wirtschaftlicher Kräfte“. Auch noch vor 1900 erging die berühmte Entscheidung zum Sächsischen Holzstoff-Fabrikanten-Verband, mit der ähnlichen Einschränkung, falls die „Herbeiführung eines tatsächlichen Monopols und die wucherische Ausbeutung der Konsumenten“ die Folge sein sollten. Die kartellfreundliche Rechtsprechung wurde unter dem BGB unverändert fortgesetzt.

 

Bierlieferungsverträge wurden anerkannt, solange der Wirt nicht übermäßig beeinträchtigt wurde. Denn sie „gehören zu den häufigen Erscheinungen des heutigen Geschäftslebens und dienen innerhalb gewisser Grenzen dem Interesse beider Vertragsteile“, wie weiter ausgeführt wird. Hier findet Ruff 1906 die Formel, „dass Verträge solcher Art in mäßigen Grenzen grundsätzlich dem gesunden Rechtsempfinden des Volkes nicht widerstreiten“ (RGZ 63, 390, 392).

 

Gültig sind „vertragliche Konkurrenz- bzw. Wettbewerbsverbote“, die nicht in Analogie zu den Regeln des Handelsgesetzbuchs und der Gewerbeordnung zu behandeln sind. Das Reichsgericht erkannte 1902, dass jedes Konkurrenzverbot eine Beschränkung der persönlichen Freiheit, speziell der Gewerbefreiheit, bedeute. Doch sei eine solche Beschränkung als „zulässig zu erachten, sofern sie einerseits einem berechtigten Interesse desjenigen entspricht, zu dessen Gunsten sie übernommen wurde und andererseits derart - örtlich, zeitlich, gegenständlich - begrenzt ist, dass sie nicht zu einer unangemessenen Beschränkung der Bewegungsfreiheit, insbesondere zur wirtschaftlichen Vernichtung des Verpflichteten führt“.

 

Auf der Kippe von Vertragsfreiheit und Politik steht die damals sogenannte „Polenklausel“ und die sie betreffende Judikatur. Ruff informiert zunächst über die preußischen Gesetze, mit denen zwischen 1876 und 1912 ein Fonds von schließlich 550 Millionen Mark gebildet wurde, um Grundstücke zu kaufen oder (gegen vollständige Entschädigung in Geld) zu enteignen zur „Stärkung des deutschen Elements … gegen polonisierende Bestrebungen durch Ansiedlung deutscher Bauern und Arbeiter“. Mit diesen staatlichen Bestrebungen stimmten die Vereinbarungen  in privaten Grundstücksverträgen überein, dass der Käufer das Grundstück nicht an einen Nationalpolen weiterverkaufen würde oder eine Vertragsstrafe zu zahlen hätte. Die Gerichte legten derartige Klauseln sogar erweiternd aus als Verbot des Verkaufes an solche Personen deutscher Staatsangehörigkeit, „die von polnischer Abstammung sind und in Anknüpfung an ihre Abstammung den deutschfeindlichen Bestrebungen des Polentums huldigen“.

 

Dann ereignete es sich, dass ein Nationalpole sein Rittergut in der Provinz Posen an einen anderen Polen verkaufte und sich der Käufer bei Meidung einer Konventionalstrafe von 30.000 Mark verpflichtete, das Gut weder an einen Deutschen noch an die preußische Ansiedlungskommission zu verkaufen. Das Reichsgericht unterstellte sogar, dass die Vertragsklausel nur den Verkauf an einen Polen zuließ, „der die deutschfeindlichen Gesinnungen polnischer Kreise betätigt.“ Dennoch erklärten die Gerichte aller Instanzen, wie das Reichsgericht betonte: „Bei nüchterner (so im Originalurteil, während es in der amtlichen Veröffentlichung heißt: „bei einer“), von jeder politischen Stellungnahme unbeeinflussten Erwägung“ sei ein Verstoß gegen die guten Sitten zu verneinen. „Denn es handelt sich um politische Gesetze, die, mögen sie vom nationalen Standpunkte noch so sehr gerechtfertigt sein, sich doch gegen eine Klasse von Staatsbürgern richten, denen es von ihrem Standpunkt aus nicht als sittenwidrig verargt werden kann, wenn sie die staatlichen Maßnahmen bekämpfen“ (RGZ 77, 419).

 

Welche „Erkenntnisse der Untersuchung“ hat nun Ruff gewonnen (417-431)? Das Reichsgericht habe sich durchgehend an die Motive und Protokolle zum BGB gehalten und habe etwa den Motiven zum heutigen § 826 die Formel vom „Anstandsgefühle aller billig und gerecht Denkenden“ entnommen. Es habe oft auf Entscheidungen zum vorkodifikatorischen Recht zurückgegriffen. Das Reichsgericht sei wenig auf die Literatur eingegangen, während diese die Rechtsprechung sehr aufmerksam verfolgt und kommentiert habe.

 

Die Entscheidungen über die hingegebenen Darlehen zu Spielzwecken zeigten deutlich, wie das Reichsgericht auf den ersten Entscheidungen zu einer Fallgruppe aufbaute und in der Folgezeit seine Rechtsprechung präzisierte, indem es jeweils auf die Umstände des Einzelfalls abstellte. Damit erklärte sich das gerade zu § 138 Absatz 1 bemerkbare Verhältnis zwischen Grundsatz und Einschränkung, etwa Grundsatz der Nichtigkeit vieler familienrechtlicher Vereinbarungen, aber Wirksamkeit bei besonderen Verhältnissen, oder - umgekehrt - Grundsatz der Wirksamkeit etwa vieler wirtschaftlicher Vereinbarungen (z. B. Bierlieferungsverträge, Kreditsicherungsverträge und Konkurrenzklauseln), aber Sittenwidrigkeit bei übermäßiger Beschränkung der wirtschaftlichen Freiheit des Partners. Verhältnismäßig selten konstatiert Ruff ein Schwanken der Rechtsprechung, z. B. zum Verhältnis zwischen § 138 zu § 134 bei sogenannten Kastellanverträgen im Gaststättengewerbe oder bei unerlaubten Bietungsabsprachen.

 

Die Wissenschaft habe die Formel des „Anstandsgefühls“ als zu weit kritisiert, an ihre Stelle aber keine besseren Vorschläge gesetzt. Die Frage, wie die vorherrschenden sittlichen Anschauungen zu ermitteln seien, hätten Rechtsprechung und Literatur kaum erörtert. Richterliche Begründungen dafür, warum ein umstrittenes Rechtsgeschäft gegen die guten Sitten verstoße oder warum nicht, fehlten. Hierzu seien nur wenige praktisch brauchbare Kriterien entwickelt worden. Dennoch habe darüber, was im Kern den „guten Sitten“ entsprach oder ihnen widersprach, Einigkeit bestanden. Nur in „juristischen Grenzprozessen“ seien Schwierigkeiten aufgetreten, wenn etwa Oberlandesgericht und Reichsgericht uneins waren. Ruff erinnert zu recht an die Bemerkung in den Motiven (I, S. 211f.): „Dem richterlichen Ermessen wird ein Spielraum gewährt, wie ein solcher großen Rechtsgebieten bisher unbekannt ist.“

 

II. Ergebnisse

Ruffs dankenswerte Zusammenstellung macht wieder einmal deutlich, dass sich das Reichsgericht nicht scheute, die Generalklauseln einzusetzen. Mit sechzig Seiten nehmen die Fallgruppen des „Verstoßes gegen die ehe- und familienrechtliche Ordnung“ in der Dissertation - und daher wohl auch in der Praxis - den weitaus größten Raum ein. Nur halb so umfangreich ist die Berichterstattung zu den 1500-Mark-Verträgen, den Bietungsabkommen bei Zwangsversteigerungen, den sogenannten Bordellverträgen, zu den Vermögensverschiebungen oder Kreditsicherungsgeschäften zum Nachteil Dritter und zu den Arztpraxisveräußerungen. Alle anderen Problembereiche waren sehr viel kürzer abzuhandeln.

 

Welche Antwort liefern nun die Judikate auf Ruffs Hauptfrage, „wie sich die Zivilsenate des Reichsgerichts mit der Generalklausel auseinandersetzen“ (15)?

 

Das Reichsgericht schützt Ehe und Familie gegen Veränderungen der durch das Gesetzbuch vorgegebenen Ordnung. Es schützt die Standesehre und die Gesundheits- und Rechtspflege gegen finanzielle Transaktionen der Ärzte und Rechtsanwälte.

 

Aber es schützt den einzelnen nicht weiter vor sich selbst, als es schon das BGB tut: wucherähnliche Rechtsgeschäfte und Darlehen zu Spielzwecken werden im allgemeinen nicht verurteilt.

 

Bei der Anerkennung der 1500-Mark-Verträge wirkt es bewusst sozialpolitisch progressiv.

 

Im übrigen respektiert es die Selbstorganisation der Wirtschaft (zu der aber – wie gesagt - nicht Ärzte oder Rechtsanwälte zählten), weniger in extrem liberalem als in dem eher protektionistischen Sinn, der damals in Deutschland verbreitet war. Kreditsicherungsgeschäfte, Submissionsabsprachen, Konkurrenzverbote, Kartelle und Bierbezugsverträge bleiben grundsätzlich aufrechterhalten, die Grenze bildet eben das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden.

 

Damit änderte das Reichsgericht fast unbemerkt das Gesetz: Da die Zivilprozessordnung eine Parteivernehmung nicht vorsah, behalfen sich Gläubiger, die selbst vor Gericht aussagen wollten, unter Duldung des Reichsgerichts damit, dass sie ihre Forderung fiduziarisch abtraten und dann als Zeugen auftraten. Da die 1500-Mark-Grenze zu niedrig für den Schuldner-Schutz war, gestattete das Reichsgericht „Lohnschiebungen“ (wie die Gegner sagten), soweit diese dem Angestellten und seiner Familie zum standesgemäßen Lebensunterhalt dienten. Da die Vorschriften des Faustpfandprinips zu rigide erschienen, erkannte es die Sicherungsübereignung an. Da die Wirtschaft auf Kreditsicherungsmittel angewiesen war, erkannte es die Abtretung künftiger Forderungen an. So wie hundert Jahre später der Bundesgerichtshof in bestimmten Konstellationen geschäftsfähige Bürgen schonte, die bei der Bürgschaftsübernahme erst über geringe Geschäftserfahrung und psychologische Selbständigkeit verfügten, so hielt das Reichsgericht ausnahmsweise die Darlehenshingabe zu Spielzwecken an eine Person, die „in einem Alter stehe, das jedenfalls nur wenig hinter der Grenze der Volljährigkeit liege“, für sittenwidrig. Hingegen nutzte es § 138 nicht zur Unterstützung der Rechtsfiguren der culpa in contrahendo, positiven Vertragsverletzung oder Schutzwirkung für Dritte. Im Ganzen bestätigt es sich, dass - anders als man nach den Erfahrungen der dem Inkrafttreten des Code civil folgenden École de l’exégèse hätte erwarten können - die deutschen Richter nicht eine streng positivistische Haltung in der Anwendung des BGB zeigten.

 

Bemerkenswert ist die Standfestigkeit der dritten Gewalt auch gegenüber der zweiten: Eine Abfuhr an den Staat bedeuteten die Billigung von Submissionsabsprachen, die Gewährung von Ansprüchen bei Unfällen im Kaiser-Wilhelm-Kanal und die Anerkennung der Polenklausel entgegen den sogar im Urteil zitierten Staatsinteressen. Man müsste der Richter- und Gerichte-Schelte, die in und nach der Kaiserzeit laut geworden ist, nicht zuletzt durch Richter selbst, noch einmal nachgehen und untersuchen, welche Urteile die Schelte auf sich gezogen hatten.

 

Ruffs  Anliegen hingegen, einer Entwicklung der Entscheidungspraxis nachzugehen, führt ins Leere, abgesehen von der erwähnten Verfeinerung von Grundsatz und Einschränkungen zu den einzelnen Fallgruppen. Die Zeit von anderthalb Jahrzehnten dürfte für eine solche Erwartung zu knapp sein.

 

Das Buch demonstriert den Nutzen des von Schubert und Glöckner publizierten Nachschlagewerk des Reichsgerichts. Denn dessen Band 2 enthält zu § 138 Absätze 1 und 2 auf rund 190 Seiten 647 Einträge, darunter 246 für die Judikatur von 1900 bis 1914.

 

Untersuchungen zur Praxis vor 1900 scheinen zu fehlen. Ruff beendet die Analyse und Zusammenstellung der Entscheidungen 1914, weil schon der Kriegsbeginn Veränderungen in allen Bereichen hervorgerufen hat. Die Umbruchszeit mit dem Ende des Kaiserreichs und die Periode der Weimarer Republik haben unter dem Gesichtspunkt der Sittenwidrigkeit noch keine monographische Bearbeitung gefunden. „Die Sittenwidrigkeit der Rechtsgeschäfte im totalitären Staate“ wurde 1996 von Wanner behandelt. Für den Zeitraum von 1948 bis 1965 liegt eine entsprechende Dissertation von Alexander Herzog aus dem Jahre 2001 vor. Einen vorzüglichen Gesamtüberblick gibt erwartungsgemäß Haferkamp im Historisch-kritischen Kommentar zum BGB. Haferkamp hat außerdem ein Beispiel für eine den zeitlichen Bogen spannende Untersuchung geliefert, die im gemeinen Recht ansetzt, ihren Scheitelpunkt im Nationalsozialismus erhält und ihren Schluss in der Bundesrepublik findet, unter der Fragestellung: „Die heutige Rechtsmissbrauchslehre – Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens“?(Berlin 1995).

 

Natürlich wäre die Fortsetzung der Untersuchung für die fehlenden Perioden wünschenswert. Insbesondere wäre es wichtig zu erfahren, wie im gemeinen und im preußischen Recht die entsprechenden Probleme behandelt wurden. Es wäre weiter zu hoffen, dass gleichartige Arbeiten zu den anderen Vorschriften des BGB, in erster Linie zu den anderen Generalklauseln und den Auslegungsvorschriften wie § 157 unternommen werden. Schließlich darf die historische Rechtsvergleichung, vor allem mit dem französischen Recht, nicht immer außer acht bleiben. Es ist also ein großes Programm, das Ruff eröffnet hat.

 

Ruffs Material könnte auch dem sozialhistorisch interessierten Rechtshistoriker oder dem rechtshistorisch interessierten Soziologen zu Erkenntnissen über die Gesellschaft und ihr Recht am Ende der Friedenszeit dienen.

 

III. Zu dieser Arbeit

Die Arbeit zeugt von äußerster Sorgfalt. Ruff begnügt sich nicht mit der Judikatur „des“ Reichsgerichts, sondern unterscheidet durchgehend und sorgfältig zwischen den Erkenntnissen der einzelnen Senate. Er stellt nicht plakativ die Sittenwidrigkeit bestimmter Fallgruppen dar, sondern beschreibt minutiös Grundsatz und Einschränkungen.

 

Die unveröffentlichten Entscheidungen werden voll berücksichtigt. Alle Entscheidungen werden ausführlich mit Sachverhalt, Instanzentscheidungen und Gründen dargestellt. Die Früchte des Fleißes werden nicht nur mit dem üblichen Literaturverzeichnis, sondern dazu mit einem Entscheidungsverzeichnis von 40 Seiten bewiesen.

 

Erwartungsgemäß werden die BGB-Materialien in die Erörterungen einbezogen. Schuberts Edition der Vorentwürfe zum BGB und Jakobs/Schuberts  „Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen“ werden kaum genutzt, da sie zu der Zeit der besprochenen Entscheidungen noch nicht zur allgemeinen Verfügung standen.

 

Zu jedem Abschnitt liefert Ruff eine kurze Einleitung, um die folgenden Rechtsprobleme richtig einzuordnen. Dadurch, dass Ruff die Literatur zu seinen Fragen voll auswertet, vor allem auch die Rezensionen und Aufsätze in den Fachzeitschriften, die großen Kommentare wie Staudinger, Oertmann und RGRK, die Lehrbücher wie Enneccerus und Dernburg, macht er sich viel Arbeit, um das gesamte rechtliche Umfeld zu beleuchten. Viele Urteilswiedergaben schließt er mit kürzeren oder längeren, oft kritischen (z. B. zu den 1500-Mark-Verträgen), manchmal zustimmenden Stellungnahmen ab. Allerdings hätte sich der eilige Leser öfter Zusammenfassungen auch zu den einzelnen Abschnitten gewünscht.

 

Ruff deutet auch die Schwierigkeiten der Rechtsprechung, § 138 richtig inmitten von § 134 und zwingenden Vorschriften des BGB zu positionieren, an. Er geht - wo erforderlich -  auf § 817 und § 117, auf das Anfechtungsgesetz und die Konkursanfechtung ein.

 

Bei der Darstellung der „Bietungsabkommen bei Zwangsversteigerungen“ erzählt er gewissermaßen nebenbei, wie wegen des Meinungsgegensatzes über die Anwendung des § 134 die Entscheidung der Vereinigten Zivilsenate eingeholt wurde, wie die Berichterstatter des V. und des VI. Zivilsenats ihre Gutachten erstatteten und andere Reichsgerichtsräte weitere Bemerkungen und Darstellungen ablieferten, so dass im Ganzen 43 Seiten zusammenkamen.

 

In seiner gewissenhaften Art berichtet er auch über Fallgruppen, die nur zu wenigen Entscheidungen des Reichsgerichts geführt (z. B. zum „Betrieb einer Gast- oder Schankwirtschaft ohne polizeiliche Erlaubnis“ oder zum Richten in eigener Sache) oder die nur ein geringes Echo in der Fachliteratur gefunden haben (z. B. zum Vertragsbruch und zu Submissionen) oder die nur durch eine einzige Entscheidung repräsentiert sind (z. B. zur Bezahlung für die Zeugnis-Verweigerung oder zur gewissermaßen umgekehrten „Polen-Klausel“). Einige Bereiche sind zwar juristisch und wirtschaftlich bedeutsam, aber weniger unter dem Gesichtspunkt des § 138 als unter dem des § 826. Es ist wichtig, dass Ruff auch die verhältnismäßig vielen Fallgruppen mit Sorgfalt behandelt, in denen das Reichsgericht im Grundsatz die Sittenwidrigkeit abgelehnt hat.

 

Es handelt sich um einen sehr sorgfältigen Bericht über die Rechtsprechung und die sie begleitende Wissenschaft zu § 242 in den ersten anderthalb Jahrzehnten des BGB.

 

Berlin                                                                                                Hans-Peter Benöhr