Rechtsveränderung im politischen und sozialen Kontext mittelalterlicher Rechtsvielfalt, hg. v. Esders, Stefan/Reinle, Christine (= Neue Aspekte der europäischen Mittelalterforschung 5). LIT-Verlag, Münster 2006. VI, 197 S. Besprochen von Arno Buschmann. ZRG GA 126 (2009)
Rechtsveränderung im politischen und sozialen Kontext mittelalterlicher Rechtsvielfalt, hg. v. Esders, Stefan/Reinle, Christine (= Neue Aspekte der europäischen Mittelalterforschung 5). LIT-Verlag, Münster 2006. VI, 197 S. Besprochen von Arno Buschmann.
Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes sind (mit einer Ausnahme) aus den Vorträgen der auf dem 44. Deutschen Historikertag im Jahre 2002 in Halle veranstalteten Sektion „Traditionen-Visionen“ hervorgegangen, die sich in besonderem Maße mit der Frage nach dem Verhältnis von Tradition und Veränderung in der Rechtswelt des Mittelalters beschäftigte. Im Mittelpunkt standen die Bemühungen, die verschiedenen Aspekte der mittelalterlichen Rechtsveränderungen in ihrem politischen und sozialen Zusammenhang zu behandeln und hierbei vor allem die Formen, Voraussetzungen und Ergebnisse der Veränderungsprozesse des Rechts zu erörtern. „Leitfragen“ für die Untersuchungen sollten die Frage nach der Beschaffenheit des traditionalen Rechts, nach den allgemeinen Gründen für Rechtsveränderungen, nach deren mentalem und sozialem Hintergrund, nach den leitenden Ideen bei der Auseinandersetzung mit dem traditionalen Recht und schließlich nach der Durchsetzung der neuen Normen sein. Anders als bei den Untersuchungen moderner Gesetzgebungsvorgänge sollten nicht legislative Programme und deren Realisierung, sondern Fallbeispiele vom Frühmittelalter bis in die frühe Neuzeit Gegenstand behandelt werden. Diese Fragestellungen sind denn auch maßgebend für die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes.
Es beginnt mit einem Beitrag von Stefan Esdres, der sich mit der Frage nach der Struktur, der Funktion und dem Anteil der Teueidleistungen an den Rechtsveränderungen im fränkischen Großreich befasst. Esdres vertritt die These, dass die Treueidleistungen, deren Ursprung er im Anschluss an die neuere Forschung in den Eidesleistungen des römischen Militärwesens sieht, wesentlich zur Umformung und Neugestaltung der politischen und rechtlichen Organisation der fränkischen Herrschaft geführt hätten, wobei die Treue zum Herrscher als eigentliche Leitidee für die Veränderung bestehenden Rechts gedient habe. Die Person des Herrschers sei der Kristallisationspunkt für die Aufrichtung einer einheitlichen, in ihrem Kern militärischen Administration des fränkischen Großreiches gewesen. Der folgende Beitrag Steffen Patzolds ist der fränkischen Kapitulariengesetzgebung gewidmet und hier insbesondere den Eingriffen Karls des Großen und Ludwigs des Frommen in die verschiedenen Leges des fränkischen Großreiches. Patzold meint, dass als Motivation für die kaiserlichen Maßnahmen vor allem die christliche Idee einer Förderung des Seelenheils der Bevölkerung angesehen werden müsse. Leitidee sei die „emendatio“ gewesen, d. h. die Verbesserung, Berichtigung und Ergänzung der überlieferten Texte mit dem Ziel einer Verbesserung der Rechtspraxis, von der Patzold meint, dass sie im Ergebnis zu Neuerungen, allerdings dem Rechtsverständnis der Zeit entsprechend nur mit Zustimmung der Bevölkerung, geführt habe. Die sprachliche Umsetzung dieser Textverbesserung ist für ihn einerseits ungenau und unsystematisch, anderseits Ausdruck des Wandels von der Oralität zur Literalität und damit verbunden vom Umgang mit der Technik der Schrift. Detlev Kraack beschäftigt sich in seiner Abhandlung mit der Struktur, den Spannungen wie dem konkreten Funktionieren der Herrschaftsorganisation Friedrichs I. Barbarossa im „nordalpinen Reich“ - gemeint ist das Heilige Römische Reich nördlich der Alpen – und deren Entwicklung in den einzelnen Regionen. Sein Hauptaugenmerk richtet er auf die Frage nach der Wirkung der königlichen Herrschaft und Herrschaftsorganisation in den Regionen des Reiches, die er vor allem am Beispiel der Grafschaftverwaltung in Friesland, aber auch an Hand ausgewählter Beispiele aus Bayern und Westfalen darzustellen versucht. Sein Fazit ist, dass sich aus den Quellen keine genauen Aussagen über das Funktionieren der königlichen Herrschaft in den Regionen machen, sich aber auf der anderen Seite modern anmutende prozessrechtliche und verwaltungstechnische Instrumentarien nachweisen lassen, in denen man erste Ansätzen staatlichen Funktionierens erblicken könnte. Ein ganz anderes Thema behandelt Regina Schäfer in ihrem Beitrag. Sie untersucht die Funktion der Regalien „als statusstabilisierende Faktoren“ in den spätmittelalterlichen Adelsherrschaften, zunächst bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts und dann deren Entwicklung nach dem Einsetzen der Territorialisierungsbestrebungen der großen Dynastien mit den sich daraus ergebenden Konflikten zwischen den Territorialherren und kleinen Adelsherrschaften. Ein solcher Konflikt wird beispielhaft an Hand des Streits um die Rechte am an der Main-Mündung gelegenen Dorf Kostheim erläutert. Schäfers Untersuchungen führen zu dem Ergebnis, dass sich die Selbstbehauptung der kleinen Adelsherrschaften vor allem in der Intensivierung der Herrschaft äußert, bei der für Schäfer der demonstrativen Wahrnehmung der Hoheitsrechte, namentlich der Regalien, und der verstärkten Bindung an den König eine besondere Rolle beigemessen wird. Insgesamt meint sie, hätten die kleinen Adelsherrschaften auf verlorenem Posten gestanden und sich einer Anlehnung an die Territorialherrschaften, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht entziehen können. Mit den Bemühungen um die Errichtung eines dauerhaften Friedens beschäftigt sich im Anschluss daran Christine Reinle. Zu Recht sieht sie in ihnen eine der wichtigsten Herausforderungen der mittelalterlichen Herrschaft überhaupt. Schwerpunkt ihrer Abhandlung ist die Untersuchung der Rahmenbedingungen für die Gottes- und Landfrieden und hier insbesondere der Wandlungen des Verhältnisses von Frieden und Recht vom 11. bis zum 15. Jahrhundert, hauptsächliches Ziel die „Neufüllung“ der alten Begriffe von Fehde und Frieden und deren politische und mentale Konstellationen. Für die Fehde betont sie, dass diese als Mittel der Austragung von Rechtsstreitigkeiten auf allen Ebenen der Gesellschaft anerkannt war, was am Beispiel einer bayerischen Bauernfehde exemplifiziert wird. Wesentliches Element für die Wandlung des Verhältnisses von Fehde, Frieden und Recht ist für sie nicht nur der Einfluss der rezipierten Rechte, sondern vor allem die Wirkung der geistlichen, namentlich der katechetischen Literatur, die nach ihrer Ansicht entscheidend zur Verbreitung der neuen Leitidee von Frieden und Recht und zum Verbot der Fehde als legitimes Rechtsmittel beigetragen haben. Die Durchsetzung des Verbots sei allerdings nur allmählich gelungen und habe im Ergebnis dazu geführt, dass sich danach das Gewaltpotential in zwischenstaatliche Kriege verlagert habe. Dieter Schelers im Anschluss an Reinles Abhandlung abgedruckter Beitrag ist den im Rheinland und Westfalen häufig anzutreffenden „Leibgewinn- oder Behandigungsgütern“ gewidmet, über deren Rechtsnatur im Zusammenhang mit der Bauernbefreiung schon im 19. Jahrhundert unter den Beteiligten wie unter den Juristen heftig gestritten wurde. Kern des Streites war die Frage, ob es sich um Güter feudaler Abhängigkeit handelte oder um solche, die auf Grund eines privatrechtlichen Vertrages genutzt wurden. In der bisherigen Forschung wurden sie zumeist unter dem Gesichtpunkt der „Rentengrundherrschaft“ oder einer „versteinerten Grundherrschaft“ erörtert. Scheler versucht am Beispiel der „Behandigungsgüter“ in den Herzogtümern Kleve und Geldern und in der Grafschaft Moers die typischen Konflikte zwischen dem Ober- und Untereigentümer darzustellen und deren Befriedung durch die Gesetzgebung einschließlich der sozialen Folgen der gesetzlichen Regelung zu schildern. Als Ergebnis stellt er fest, dass sich im Verlauf der Zeit aus dem Hofrecht der Grundherrschaften ein eigenes Latenrecht der Grundholden herausgebildet habe, das deren Bauerngüter als „Behandigungsgüter“ den Lehnsgütern als Gütern mit geringen Abgabeverpflichtungen und ohne Verpflichtung zur Leistung von Diensten stark angenähert und zur Entstehung eines eigenen, für den linken Niederrhein charakteristischen Rechtskreises geführt habe.
Im Mittelpunkt aller besprochenen Beiträge des Sammelbandes steht - wie bei den Beratungen des Historikertages - die Antwort auf die Frage nach Art und Umfang der mittelalterlichen Rechtsveränderungen und den für diese maßgebenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Ursachen. Mit Recht haben die Herausgeber darauf verzichtet, den Titel der Sektionsveranstaltung des Historikertages „Traditionen – Visionen“ für ihren Band zu verwenden, der vor allem wegen der Verwendung des Terminus „Visionen“ den erörterten Fragen nicht entsprochen hätte. Es geht nicht um die Frage von „Visionen“ als Ausgangspunkte von Rechtsveränderungen, sondern um die Ursachen für den Wandel von Rechtstraditionen und der diesen zugrundeliegenden Vorstellungen und Kräfte. Die einzelnen Beiträge sind anregend konzipiert und gut dokumentiert, in Einzelheiten freilich nicht so neu, wie die Verfasser meinen. Dass etwa die fränkische Reichsadministration einen militärischen Ursprung hat, kann man schon in den großen rechtsgeschichtlichen Lehrbüchern des 19. Jahrhunderts lesen. Ob die Quellen wirklich keine Aussagen über das Funktionieren der fränkischen Administration zulassen, sei dahingestellt. Auch die Vorstellung vom Vorhandensein von „Leitideen“ bei den Rechtsveränderungen erscheint dem Rezensenten zu modern und nicht quellengerecht wie überhaupt etliche Ausführungen zu sehr von heutiger geschichtstheoretischer Analytik geprägt sind. Ob die Befriedung im Innern zur Verlagerung der Gewaltausübung nach Außen und damit zu den Staatenkriegen der Neuzeit geführt hat, ist eine vielfach geäußerte Hypothese, deren Begründung noch aussteht. Bei der Behandlung von ländlichen Rechtsverhältnissen ist es immer hilfreich, wenn man die Literatur zum deutschen Privatrecht des 19. Jahrhunderts heranzieht, deren Kenntnis vor manchen Fehleinschätzungen bewahrt. Dies und andere Bemerkungen ändern jedoch nichts daran, dass es sich bei dem vorliegenden Sammelband um eine wichtige und anspruchsvolle Forschungsdokumentation handelt, aus der mancherlei Anregungen gewonnen werden können.
Salzburg Arno Buschmann