Ploenus, Michael, „...so wichtig wie das tägliche Brot“. Das Jenaer Institut für Marxismus-Leninismus 1945-1990 (= Schriften der Stiftung Ettersberg Europäische Diktaturen und ihre Überwindung). Böhlau, Köln 2007. 355 S. Besprochen von Adrian Schmidt-Recla. ZRG GA 126 (2009)
Ploenus, Michael, „...so wichtig wie das tägliche Brot“. Das Jenaer Institut für Marxismus-Leninismus 1945-1990 (= Schriften der Stiftung Ettersberg Europäische Diktaturen und ihre Überwindung). Böhlau, Köln 2007. 355 S. Besprochen von Adrian Schmidt-Recla.
Staatliches Ziel eines jeden Studiums an einer Universität in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik war die Formung von dem „Sozialismus treu ergebenen, wissenschaftlich qualifizierten Kadern“. Diesem Ziel diente die Indoktrination mit dem marxistisch-leninistischen, säkularen Glaubenskanon von Kindesbeinen an. Dieser Glaubenskanon forderte von jeder „sozialistischen Persönlichkeit“ Grundüberzeugungen, die nach den Vorstellungen von Partei- und Staatsführung zu erlernen waren.
Es handelt sich um die folgenden: „1. Die Arbeiterklasse unter Führung der kommunistischen Partei hat eine historische Mission, nämlich die Beseitigung der kapitalistischen Ausbeuterordnung. 2. Die sozialistische Staatengemeinschaft unter Führung der Sowjetunion ist die größte internationale Errungenschaft. 3. Die DDR ist ein friedliebender Staat innerhalb dieser Gemeinschaft. 4. Der Charakter des Imperialismus ist unverändert reaktionär, aggressiv und menschenfeindlich. 5. Der Marxismus-Leninismus ist die einzige wissenschaftliche Weltanschauung.“ Dies festzuhalten und an die in diesen Worten manifestierte Hybris und Totalität des Weltbildes zu erinnern, ist auch heute noch wichtig, nachdem im Nachgang zur medialen Ostalgiewelle der Jahre 2003-2005 die Schakale in Gestalt von ehemaligen Stasi-Obristen 2007 wieder einmal ungehindert und auf Art. 5 Abs. 1 GG gestützt heulen durften.
Diese fünf – und andere, aus ihnen abgeleitete – vermeintlich wissenschaftlich fundierte Phrasen sind die Folie, auf denen die gesamte Schul- und Hochschulausbildung in der ehemaligen DDR fußte. Wer verstehen will, wie ostdeutsche Bildungsbiographien funktionierten, muss diesen säkularen Glaubenskanon in seinen Verästelungen und institutionellen Inkarnationen innerhalb der Hochschulen der ehemaligen DDR als zwingende Determinante zur Kenntnis nehmen. Michael Ploenus hat mit seiner akribischen zeithistorischen Arbeit über das Institut für Marxismus-Leninismus an der Friedrich Schiller-Universität Jena wesentliche Details über die an diesem Kanon ausgerichtete Hochschulstruktur und die Hochschulpolitik im Staat der SED zusammengetragen und ein vorurteilsfreies Bild des seinerzeitigen status quo gezeichnet.
Warum sollten historisch interessierte Juristen dieses Buch heute zur Hand nehmen und sich mit etwas theoretisch so unvergleichlich Plattem wie dem historischen und dialektischen Materialismus in der Ausprägung, die seine Exegeten in der ehemaligen DDR ihm gegeben haben, beschäftigen?
Erstens um die Grundlagen (auch) der Juristenausbildung in der DDR und damit spezifische Erscheinungsformen des „sozialistischen Rechts“ zu verstehen. In der ehemaligen DDR ausgebildete Juristen lernten nicht nur in ihrem Fachstudium, dass die Gesellschaft auf Machtmengen aufgebaut war, und dass die herrschende Macht einer Kontrolle durch das Recht nicht bedurfte. Sie lernten abstrakt-generelle Normen im Dienste eines Unrechtsstaates anzuwenden. Sie wurden insbesondere im obligatorischen „marxistisch-leninistischen Grundlagenstudium“, dessen zielgerichtete Entwicklung und Steuerung durch die SED Ploenus ebenso wie seine gedankliche Hohlheit und schauderhafte, heute nur noch Kopfschütteln hervorrufende Qualität schildert, jahrelang indoktriniert.
Zweitens um die Beobachtungen, die Bernd Rüthers in der Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts in seinen „Wendeexperten“ niedergelegt hat, auf einer immer breiter werdenden Datenbasis nachprüfen zu können und damit der eigenen Rolle als theoretische oder praktische Stütze der jeweiligen gesellschaftlichen Formation gegenüber kritisch zu bleiben.
Drittens um der im Vergleich mit anderen (deutschen) Diktaturen immer wieder virulenten Frage nach der theoretischen Möglichkeit einer sogenannten „inneren Emigration“ des abhängig beschäftigten oder verbeamteten Wissenschaftlers nachgehen zu können. Nur wer den tatsächlichen Totalitätsanspruch eines Staates und den Grad der tatsächlich-alltäglichen Umsetzung dieses Anspruches begreift, kann schriftliche Lippenbekenntnisse, Sarkasmen und Identifikationen sicher erkennen.
Michael Ploenus’ anschaulich und streckenweise packend geschriebenes Buch bietet gerade hierfür Material in Fülle und erhellt einen wichtigen Teilaspekt der Wissenschaftsgeschichte am Beispiel der Friedrich Schiller-Universität. Lehrstückartig beschreibt Ploenus auch die jämmerlichen Versuche, Teile der Jenaer Sektion Marxismus-Leninismus nach der friedlichen Revolution im Herbst 1989 in eine Sektion Sozial- und Politikwissenschaften hinüberzuretten – Versuche, die wie in Thüringen so auch in Sachsen und Sachsen-Anhalt am damals zwiespältig beurteilten, in der Rückschau aber klar begrüßenswerten beherzten Zugriff der neuen Landesregierungen scheiterten.
Der Rezensent erinnert sich noch an die wehleidigen letzten Vorlesungen von ML-Dozenten vor im Wintersemester 1990 erstmals frei immatrikulierten Jurastudenten an der Universität Leipzig noch im Januar und Februar 1991 (!), die den Abwicklungsbeschlüssen zufolge ihre Katheder zu räumen hatten und nun die Pluralität der Meinungen einforderten, die sie selbst jahrzehntelang bekämpft hatten. Es war damals nötig und richtig, die theoretische Verflachung, die gedankliche Gleichschaltung und die Knechtsmentalität gegenüber der proletarischen Diktatur aus den Geistes- und Sozialwissenschaften an den Universitäten der ehemaligen DDR schnell und dauerhaft zu entfernen. Wer geglaubt hat, dass diese Debatte ausgestanden sei, der sei an den 2004 erschienenen Aufsatz Andreas Wackes über die Ost-West-Beziehungen rechtshistorischer und altertumswissenschaftlicher Fachvertreter nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (in: Orbis iuris Romani 9/2004, S. 245-267) erinnert.
Leipzig Adrian Schmidt-Recla