Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft, hg. v. Borgolte, Michael/Schiel, Juliane/Schneidmüller, Bernd/Seitz, Annette (= Europa im Mittelalter10). Akademie Verlag 2008. 595 S. Besprochen von Thomas Vogtherr. ZRG GA 126 (2009)
Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft, hg. v. Borgolte, Michael/Schiel, Juliane/Schneidmüller, Bernd/Seitz, Annette (= Europa im Mittelalter, Bd. 10). Akademie Verlag, Berlin 2008, 595 S. Besprochen von Thomas Vogtherr.
Ein geisteswissenschaftliches Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter dem Titel „Integration und Desintegration im europäischen Mittelalter“ legt hier in einer durchaus ungewöhnlichen Form erste Ergebnisse seiner Arbeit vor. Ungewöhnlich ist die Form, weil bewusst jenseits der Interdisziplinarität nach transdisziplinären Arbeitsformen (zum Unterschied beider vgl. S. 20f.) gesucht wurde. In drei Arbeitsforen haben mehr als zwei Dutzend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus mediävistischen Disziplinen gemeinsam gearbeitet und „kollaborativ“ ihre Texte verfasst, d. h. (zumeist) gemeinsam verantwortete Untersuchungen zu Teilthemen vorgelegt. Ein vorsichtiges und durchaus verfahrenskritisches Vorwort der beiden Sprecher Borgolte und Schneidmüller legt über dieses Verfahren Rechenschaft ab (S. 11-13; vgl. auch die Einführung durch Michael Borgolte und Juliane Schiel, S. 15-23). Tiefer noch führt in die Entstehensumstände der Bericht eines unmittelbar Beteiligten ein (Jan Rüdiger, S. 305-314). Herausgekommen ist „kein herkömmlicher Sammelband, in dem im Stil einer ‚Buchbindersynthese’ allenfalls thematisch locker aufeinander bezogene Beiträge vereint sind“ (S. 11), vielmehr soll es sich um „eine neuartige Textform“ handeln, „gewissermaßen um drei in sich abgeschlossene Publikationen, deren Format sich bewusst zwischen Sammelband und Monografie bewegt“ (S. 22). Wenn dafür noch – offensichtlich in Unkenntnis vorhandener Parallelen anderenorts! – ein eigenes Schreibprogramm entwickelt wurde (S. 21), ist der Aufwand beträchtlich, und das Ergebnis muss auch daran gemessen werden, ob es einen diesem Mehraufwand angemessenen Mehrertrag erbringt.
Das „Arbeitsforum A: Wahrnehmung von Differenz – Differenz der Wahrnehmung“ (S. 25-194) bringt Untersuchungen zu drei Themenkomplexen, zur „Wahrnehmung im interkulturellen Kontakt“ im Umkreis der Mendikanten (S. 29-85), zu „Strategien interreligiöser Fremd- und Selbstdeutung zwischen räumlicher Nähe und Distanz“ (S. 85-131) sowie zur „Differenz im Eigenen“ anhand hagiografischer und höfischer Texte (S. 132-164). Wie zu den anderen Arbeitsforen, so gehören auch hier eine Einleitung, eine Zusammenfassung und eine reiche Bibliografie zum Rahmen der Untersuchungen. Was dann in den Einzelstudien geboten wird, ist über weite Strecken konventionell: Die Analyse von Schriften des Thomas von Aquin und des Bonaventura zu theoretischen Aspekten von Wahrnehmung und Differenz ist ein klassisches erkenntnistheoretisches Thema. Die Wahrnehmung von Differenz beim Mongolenreisenden und –missionar Riccold von Monte Croce († 1320) zu untersuchen, ergänzt die früheren Arbeiten von Felicitas Schmieder, Marina Münkler und Folker Reichert, ohne grundstürzend Neues zu Wege zu bringen. Die kunsthistorische Analyse der Mendikantenkirche S. Caterina im apulischen Galatina schließlich will die Differenzwahrnehmung in Architektur und Bildkunst in Apulien während des 14. Jahrhunderts präziser in den Griff bekommen und bedient sich dazu – freilich souverän – der bekannten kunsthistorischen Beschreibungs- und Analysetechniken.
So ließe sich fortsetzen und Beobachtung an Beobachtung reihen: Was hier unter dem Signum einer „transkulturellen Europawissenschaft“ geleistet werden soll, hat seine Basis in disziplinären Untersuchungen höchst unterschiedlicher Qualität. Nur selten – dazu aber unten – gelingt es, einen wirklich über die disziplinären Beschränkungen hinausgehenden Blickwinkel zu eröffnen, der die Unterschiedlichkeit des wissenschaftlichen Ansatzes von traditionellen Verfahrensweisen überzeugend wirken lässt. Vieles andere wirkt in der kulturwissenschaftlichen Zuordnung der Untersuchungsgegenstände eher gequält. Wenn innerhalb des Arbeitsforums B über „Kontakt und Austausch zwischen Kulturen im europäischen Mittelalter“ (S. 195-304) eine Fallstudie zur Vertreibung der Juden aus Frankreich und England um 1300 abgedruckt wird (S. 228-251), ist das mindestens ungewöhnlich, denn hier geht es um offenkundig weit mehr als den euphemistischen „Kontakt und Austausch“. Wenn dann noch dem Vertreibungsedikt König Edwards I. von England bescheinigt wird, „die Argumentation des Königs ist im Kulturbereich Recht zu verorten“ (S. 231), sträuben sich dem Rezensenten nicht nur aus sprachlichen Gründen die Haare. Hinter einer solchen, in dieser Tendenz im Band durchaus nicht allein stehenden Äußerung steht der Versuch, einen sehr allgemeinen Kulturbegriff unhinterfragt auf alle denkbaren menschlichen Emanationen anzuwenden und ihn damit so weit zu inflationieren, dass er gegenstandslos zu werden droht. Das könnte sich im Verlaufe des derzeit unübersehbar im Gange befindlichen cultural turn der meisten Geisteswissenschaften bitter rächen. Freilich gehört noch ein weiterer Zusatz zu dieser Bemerkung über Edward I. von England: Unter den sehr verschiedenen Bereichen möglicher „Kulturen“ ist der des Rechts im vorliegenden Band unterrepräsentiert. Rechtsgeschichte und (moderne) Kulturwissenschaft scheinen sich nicht recht miteinander zu vertragen, könnte man daraus schließen und müsste den Rechtshistorikern empfehlen, mehr als bisher mögliche kulturwissenschaftliche Implikationen ihrer eigenen Wissenschaft aktiv auszuloten, und sei es nur, um begründet sagen zu können, weswegen dieser Ansatz für sie womöglich nicht in Frage kommt. Dass allem Anschein nach keine Rechtshistoriker(innen) an dem Schwerpunktprogramm beteiligt sind, mag man – ein wenig beunruhigt – am Rande notieren.
Freilich ist nach derartiger Kritik auch Lob angebracht. Es soll dem dritten Arbeitsforum „Gewalt im Kontext der Kulturen“ (S. 305-555) gezollt werden, das sich durch sehr weitgehende inhaltliche Kohärenz, durch kluge Einzeluntersuchungen und durch erhebliche thematische wie disziplinäre Breite auszeichnet. Was im bereits genannten Prolog Jan Rüdigers über die Chancen und Probleme solcher Art Arbeit gesagt wird (S. 305-314), verdient weit über das Thema hinaus Beachtung, übrigens besonders dort, wo Rüdiger „das Nicht-Können als Rechtfertigung des Nicht-Wollens einer gesamteuropäischen Mediävistik in seiner argumentativen Kraft ein wenig zu schwächen“ verspricht (S. 312). Was dann im Einzelnen folgt, ist fast durchweg ertragreich und erfreulich lesbar. Dass Gewaltakte ebenso destruktiv wie gleichzeitig konstruktiv seien, erschreckt den zu Recht zu Ende denkenden Daniel König (S. 342-344), der damit auf den Begriff bringt, was eine konventionelle mediävistische Sichtweise lange Zeit sprachlich hinwegformulierte. So könnte man diesen „Sammelband im Sammelband“ weiter durchgehen, dessen Blick von althochdeutschen Glossen und Namengebungen über den sattsam bekannten, hier aber zu Recht herangezogenen Bericht über die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer 1099 bis hin zu spätmittelalterlichen Quellen aus dem byzantinischen Raum reicht. Wo nicht – was gelegentlich geschieht – allein längliche Quellenzitate ohne eigentliche inhaltliche Analyse geboten werden, ist die Stringenz der Untersuchungen beachtlich, öffnet sie auch neue Perspektiven und zeigt sie, dass das Konzept der transdisziplinären Arbeit seine Berechtigung hat.
„Mittelalter im Labor“: Der Titel des Bandes schließt es im Grunde aus, als Ergebnisse zu würdigen, was hier vorgelegt wird. Man könnte die Analogie fortsetzen und nach der Anlage der Versuchsreihen fragen, nach der Validität der erhobenen Daten und danach, ob die Datenreihen dazu ausreichen mögen, ein neues Forschungsparadigma zu begründen. Das tut, nachdenklich und gedankenreich wie immer, Bernd Schneidmüller gemeinsam mit Annette Seitz in einem Schlusswort über die „Transkulturelle Mediävistik“ (S. 557-566). Er spricht von einem „Wagnis“, von „den offenen Flanken dieses Buchs“, vom „provokativ gewählten Titel“ (alles S. 557) und macht deutlich, dass hier nichts Abschließendes gesagt und geschrieben werden konnte und sollte. Die Risiken liegen auf der Hand; auf sie will auch diese Rezension hinweisen. Die Chancen sind ebenso deutlich. Ob sie in den oftmals angekündigten Qualifikationsarbeiten der Mitarbeiter dieses Bandes ergriffen werden, wird sich zeigen. Ein interessanter Anfang ist gemacht, dem man die Anerkennung kritischer Begleitung auch der nächsten Schritte schuldig ist.
Osnabrück Thomas Vogtherr