Levin, Aline, Erinnerung? Verantwortung? Zukunft? Die Beweggründe für die gemeinsame Entschädigung durch den deutschen Staat und die deutsche Industrie für historisches Unrecht (= Rechtshistorische Reihe 356). Lang, Frankfurt am Main 2007. 194 S. Besprochen von Thomas Olechowski. ZRG GA 126 (2009)
Levin, Aline, Erinnerung? Verantwortung? Zukunft? Die Beweggründe für die gemeinsame Entschädigung durch den deutschen Staat und die deutsche Industrie für historisches Unrecht (= Rechtshistorische Reihe 356). Lang, Frankfurt am Main 2007. 194 S. Besprochen von Thomas Olechowski.
Die Diskussion um den Ersatz der materiellen, vom NS-Regime verschuldeten Schäden durch die Wirtschaft und/oder die öffentliche Hand war besonders zur Zeit der Jahrtausendwende fast täglich in den Schlagzeilen, und bis heute wird dem Thema in der Öffentlichkeit breites Interesse entgegengebracht. Die Wissenschaftler, die sich hier profilieren konnten, waren vor allem Zivilrechtler, Völkerrechtler und natürlich Zeithistoriker. Hingegen hat im rechtshistorischen Schrifttum die Frage der „Wiedergutmachung“ nur vereinzelt Niederschlag gefunden. Blickt man etwa auf das - zwar nicht repräsentative, hier aber naheliegende - Verzeichnis der nun schon auf 356 Bände angewachsenen „Rechtshistorischen Reihe“, so ist der gegenständliche Band - nach Band 343 (vgl. dazu die Besprechung in dieser Zeitschrift 2008, ##) - erst der zweite zum genannten Themenkreis. Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht die mit Bundesgesetz vom 2. August 2000 (BGBl 2000 I 1263) errichtete deutsche Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, deren Stiftungszweck es ist, „über Partnerorganisationen Finanzmittel zur Gewährung von Leistungen an ehemalige Zwangsarbeiter und von anderem Unrecht aus der Zeit des Nationalsozialismus Betroffene bereitzustellen“ (§ 2). Dem Gesetz waren lange Verhandlungen vorausgegangen, die von der Autorin ausführlich und übersichtlich nachgezeichnet werden. Richtigerweise sieht sie dabei in der „Schweizer Bankenaffäre“ den „auslösenden Impuls“ (41) für die ab 1998 erhobenen Sammelklagen gegen deutsche Unternehmen wie VW, Thyssen, Krupp, Siemens, BASF, Bayer, Hoechst u. v. a. Viele politische Faktoren, wie etwa auch die im selben Jahr erfolgte Wahl Gerhard Schröders zum Bundeskanzler, waren mit ursächlich für die letztlich erfolgte Einigung auf Errichtung einer Stiftung, welche die Entschädigungsleistungen erbringen sollte. Von deutscher Seite wurde dabei stets betont, dass die Schaffung von „Rechtssicherheit“ gegenüber den v. a. aus den USA zu erwartenden Klagen unabdingbare Voraussetzung für eine Einigung sei, d. h. die Unternehmen wollten „vor gerichtlicher Inanspruchnahme geschützt“ werden (66), was die US-Regierung mit dem Hinweis auf die Unabhängigkeit der Gerichte nicht hundertprozentig garantieren konnte. Zuletzt gab sie aber doch eine Erklärung ab (im sog. Berger/Nolan-Brief vom 16. Juni 2000), die von deutscher Seite als hinreichend akzeptiert wurde (67) - der Errichtung der Stiftung stand nichts mehr im Wege. Die Autorin bezweifelt daher zu Recht die von der deutschen Wirtschaft mitunter vorgetragene Sichtweise, dass man den ehemaligen Zwangsarbeitern „aus moralischen bzw. humanitären Gründen“ helfen wollte; „es sieht vielmehr danach aus, dass sich die Unternehmen ,freikaufen' wollten ... Nichts entlarvt die von der deutschen Industrie herausgekehrten (sic) ,Geste der Versöhnung' und die ,humanitären Ziele' der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft mehr als eben diese von Anfang an erhobene Forderung der Rechts- und Vermögensnachfolger der Profiteure von damals“ (127).
Ich will meine Kritik an diesem Buch mit auf dem ersten Blick vielleicht Nebensächlichem beginnen: Der auffallend hohen Zahl an Flüchtigkeitsfehlern. Dabei mag man falsche Deklinationen, wie etwa die oben zitierte, noch als Kavaliersdelikt abtun, auch wenn sie gehäuft vorkommen. Wo aber „20 Millionen“ statt „20 Milliarden“ steht (56), wird der Leser stutzig, und spätestens, wenn er „scheinbar“ liest, wo er „anscheinend“ vermutet hätte (69), muss er sich fragen, ob die Autorin stets das meint, was sie schreibt (vgl. auch 124). - Dieses Bild findet seine Ergänzung in den Zitaten: Auch dort mag eine Zitierung eines deutschen Bundesgesetzes ohne Angabe der Fundstelle im Bundesgesetzblatt eine lässliche Sünde sein (68). Wie aber steht es bei einem Urteil des Landgerichts Bonn (71), einer „Presseerklärung“ (52), oder einem „H. R. 126 Holocaust Insurance Act vom 6. 1. 1999“ (61), die sämtlich ohne nähere Angaben ihrer Publikation angeführt werden? Das Auffinden von Quellen und Literatur darf nicht zur Geheimwissenschaft werden! Mehrfach (z. B. 81f.), wird ein „Interview“ mit dem Sprecher der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, Manfred Gentz, erwähnt. Wo und wann ist dieses publiziert worden? Handelt es sich um „oral history“? Wenn ja, hat die Autorin die in der Wissenschaft längst etablierten Regeln für derartige Interviews nicht beachtet. - Kurzum: Es ist aufgrund der mangelhaften Zitierweise kaum erkennbar, ob Quellen im Original studiert, oder bloß nach der Sekundärliteratur zitiert worden sind. Damit aber komme ich zum Hauptkritikpunkt: Es bleibt in der gesamten Arbeit unklar, inwieweit die Autorin den bisherigen Wissensstand bloß zusammengefasst und inwieweit sie ihn durch eigene Forschungen angereichert hat. Positiv muss hervorgehoben werden, dass sich die Autorin in einer überaus heiklen Materie stets um eine ausgewogene Darstellung bemüht hat, die im Ergebnis als fair angesehen werden kann. So nimmt sie durchaus kritisch zum Einsatz der Medien als politische Druckmittel Stellung (30f.) und geht auch auf die Debatte um den von Norman G. Finkelstein eingeführten Begriff „Holocaust-Industrie“ ein, wobei sie zum Schluss kommt: „Auch wenn manchmal die eingesetzten Mittel nicht ganz korrekt waren, so konnte dieser Mangel mit dem verfolgten Zweck wieder ausgeglichen werden“ (118). - Irritierend ist der Schluss der Arbeit, wo sich die Autorin fragt, ob das für die Zwangsarbeiter gefundene Modell auch auf andere Fälle historischen Unrechts, wie etwa auf die Forderungen der Nachfahren der afroamerikanischen Sklavinnen und Sklaven, anwendbar ist (170 ff.), zumal hier rechtliche Argumente mit moralischen Erwägungen vermengt werden. Richtig ist aber wohl ihr Ergebnis, „dass das Modell der Holocaust-Klagen auch bei den US-Sklaven anwendbar wäre - vorausgesetzt, man hätte vor über 100 Jahren die Klagen erhoben“ (175).
Wien Thomas Olechowski