Kroeschell, Karl, Deutsche Rechtsgeschichte, Band 1 Bis 1250 (= UTB 2734), 13. Auflage, Kroeschell, Karl/Cordes, Albrecht/Nehlsen-von Stryk, Karin, Deutsche Rechtsgeschichte, Band 2 1250-1650, 9. Auflage (= UTB 2735), Kroeschell, Karl, Deutsche Rechtsgeschichte, Band 3 Seit 1650, 5. Auflage (= UTB 2736). Böhlau, Köln 2008. 366 S. 25 Abb., 367 S., 23 Abb., 328 S., 10 Abb. Besprochen von Gerhard Dilcher. ZRG GA 126 (2009)
Kroeschell, Karl, Deutsche Rechtsgeschichte, Band 1 Bis 1250 (= UTB 2734), 13. Auflage, Kroeschell, Karl/Cordes, Albrecht/Nehlsen-von Stryk, Karin, Deutsche Rechtsgeschichte, Band 2 1250-1650, 9. Auflage (= UTB 2735), Kroeschell, Karl, Deutsche Rechtsgeschichte, Band 3 Seit 1650, 5. Auflage (= UTB 2736). Böhlau, Köln 2008. 366 S., 25 Abb., 367 S., 23 Abb., 328 S., 10 Abb. Besprochen von Gerhard Dilcher.
Eine alte Regel lautet: Die Savigny-Zeitschrift bespricht keine Lehrbücher. Dankenswerterweise wurde diese Regel vor einigen Jahren etwas gelockert, als es darum ging, ein Lehrbuch zu besprechen, das eine Unvollständigkeit in Kauf nahm, um in der Zusammenfügung zweier thematisch begrenzter und perspektivisch ausgerichteter, also fast monographischer Problem- und Forschungsberichte eine Darstellung der Rechtsgeschichte des Alten Europa „von unten“, aus der Perspektive von Land und Stadt, Bürger und Bauer, zu unternehmen.[1] Aufgrund einer ähnlichen Analyse der Fachtradition, aber sehr viel früher zog Karl Kroeschell aus der wissenschaftsgeschichtlichen Situation der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts den Schluss, dass die Zeit für eine „klassische“ Darstellung der deutschen Rechtsgeschichte im Stile der großen Lehrbücher der Jahrhundertwende von Richard Schröder und Heinrich Brunner - die in dem Lehrbuch von Hermann Conrad 1962/1966 noch einmal versucht worden war[2] - nicht mehr tragfähig sei. Diese hatten ja versucht, die Rechtsgeschichte (unter germanistischer Perspektive) im Durchgang durch eine zeitliche Epochengliederung und in der am modernen Recht orientierten Auffaltung vom Staat (oder der Verfassung) bis zu Straf- und Privatrecht zur Darstellung zu bringen. Aus Kroeschells Neuansatz ging zunächst der erste Band seiner Deutschen Rechtsgeschichte (bis 1250) im Jahre 1972 hervor, dem schon 1973 der zweite Band (bis 1650) folgte. Der dritte, abschließende Band (ab 1650 bis zur Gegenwart) brauchte länger und kam erst 1989 - das Nachwort legte Zeugnis für die Gründe ab. Schon die Periodisierung der Bände zeigt einen Bruch mit der Konvention: Der erste Mittelalterband wird bis zum Ende der Stauferzeit erstreckt, das Spätmittelalter wird mit der Periode bis zum Westfälischen Frieden als der Zeit von „Krisis und Erneuerung“ (1450-1650) verknüpft und dadurch der Beginn der sogenannten Neuzeit anders interpretiert, und ein ähnliches geschieht in Bezug auf die „Sattelzeit“ (R. Koselleck) und den revolutionären Umbruch um 1800 im dritten Band, in dem die Kapitel Absolutismus und Aufklärung zum bürgerlichen Zeitalter überleiten und somit den genannten Bruch, den Kroeschell selbst in Anlehnung an T. S. Kuhn einen Paradigmenwechsel nennt, einbetten (dazu unter „Wendepunkte der Rechtswissenschaft“ in Bd. 3 S. 138).
Diese drei Bände liegen nun, inhaltlich überarbeitet und äußerlich verändert, nach mehreren Verlagswechseln in der Form der „großen“ UTB-Reihe, gleichzeitig in einer Neuauflage vor. Sie haben den Weg einer großen Erfolgsgeschichte hinter sich, die man in den Vorauflagen in der dichten Abfolge der Neuauflagen und den entsprechenden stattlichen Auflagenhöhen ablesen konnte, ein Nachweis, der in der neuen Form weggefallen ist. Wenn hier in der führenden Zeitschrift des Faches dieses Lehrbuch nunmehr besprochen werden soll, so muss es also vor allem darum gehen, danach zu fragen, in welcher Weise die Darstellung den wissenschaftlichen Stand unseres Faches - damals und heute - darstellt und aus welchen Gründen diese Darstellung einen solchen Erfolg im akademischen Unterricht haben konnte. Jedenfalls die erste Frage stellt sich einer wissenschaftlichen Zeitschrift, und die zweite wird für die Zukunft des Faches an den Universitäten - und damit auch für die wissenschaftliche Zukunft des Faches - von Bedeutung sein.
Gliederung und Aufbau wie auch die Einheitlichkeit von Anlage, Stil und Darstellung bleiben in der Neuauflage gewahrt, indem Band eins und drei von Kroeschell selbst, Band zwei von seinen früheren langjährigen Schülern Karin Nehlsen-von Stryk und Albrecht Cordes überarbeitet worden sind. Die Vorworte weisen noch einmal auf die wissenschaftsgeschichtliche Situation der Entstehung des Grundkonzepts in den sechziger Jahren hin, als es nicht nur um eine Neukonzeption gegenüber der Tradition der historischen Rechtsschule, sondern auch um eine Antwort auf den damals vordringenden neomarxistischen Ansatz ging. Auf die welthistorische Erklärungstheorie gab Kroeschell eine Antwort auch, aber nicht nur aus dem historischen Detail der Quelle.
Eine solche Antwort war aber ebenso gefordert aufgrund der Konsequenz von Kroeschells eigener Arbeit. In einer Reihe von Aufsätzen hatte Kroeschell damals, parallel zu den Studien Ernst-Wolfgang Böckenfördes zur ideologiekritischen Hinterfragung der Wissenschaftsgeschichte[3] und Klaus von Sees zur philologisch-analytischen Aufbrechung der für die historische Rechtsschule maßgebenden Einheit des Germanischen,[4] grundlegende Erklärungsparadigmen der germanistischen Rechtshistorie dekonstruiert: Sippe, Treue, Gefolgschaft, „germanisches“ Eigentum, Rechtsfindung - dies in intensiver Auseinandersetzung sowohl mit der eigenen Fachtradition wie mit den damals führenden Mediävisten und Verfassungshistorikern.[5] Dass damit gleichzeitig eine Reflexion der romantisch-völkisch-nationalen Tradition, die auch in der Rechtsgeschichte sich in die NS-Ideologie verflochten hatte, stattfand, sei hier nur angemerkt. Die notwendige Selbstreflexion des Faches konnte so in der Rechtsgeschichte weit früher als in der allgemeinen Geschichtswissenschaft stattfinden.[6]
Indem Kroeschell nicht mehr in klassischer Weise historisch-dogmenbildend vorgehen konnte und wollte, darum den Kontakt zur Sozialgeschichte suchte, aber das Recht nicht in einer sozialhistorischen Erklärung - wie es nicht nur marxistische Ansätze nahelegten - aufgehen lassen wollte, musste er methodisch einen ganz anderen Weg der Darstellung suchen. Den Weg eines allwissenden Großerzählers der Geschichte des Rechts[7] konnte er mit diesem Selbstverständnis nicht gehen. Vielmehr musste aus diesem erkenntniskritischen Ansatz heraus die Geschichte in thematisch aufgebrochenen Feldern und in wechselnder Perspektive des Betrachters dargestellt werden; der „ferne Spiegel“ der Geschichte (Barbara Tuchman) konnte kein ganzes Bild mehr einfangen, sondern ein solches nur noch aus vielen gebrochenen Facetten bilden.
Der grundsätzliche Weg und das Schema der Darstellung, die Kroeschell hierfür gefunden hat, sind von der ersten bis zur vorliegenden Auflage unverändert beibehalten. Der andauernde Erfolg zeigt, dass auf diesem Wege in der Tat ganz offensichtlich ein kritisches und komplexes Bild der Geschichte des Rechts vermittelt werden kann, das dennoch das Interesse der Lehrenden und Aufnahme durch die Lernenden finden kann. Bekanntlich beruht das Grundgerüst der Kroeschell’schen Darstellung auf gut ausgewählten Quellen (die lateinischen erhalten zur Hilfe eine Übersetzung), welche in einer sehr überlegten Themenabfolge kapitelweise auf den Gang durch die Geschichte führen. Die Darstellung befolgt also in der Tat den Ruf, der einst die Wissenschaftlichkeit der Historie begründet hat: ad fontes! Den Umgang mit Quellen und die Gewinnung von historischer Erkenntnis aus Quellen soll aber ja der Student, sowohl der angehende Jurist wie der Historiker, erst lernen. Vor diese Aufgabe bleibt er oder sie also gestellt, sie wird hier nicht durch eine überwölbende narrative Darstellung abgenommen; freilich sollten Vorlesung oder Seminar im Regelfall solche Hilfen bieten. Vor allem aber ist das innere Gerüst der Quellen von ergänzenden Texterläuterungen umgeben, welche die Lektüre für Studenten - wie für Fachkollegen! - über die Jahrzehnte so anregend gemacht haben. Zum Gerüst selber gehört auch der Kursus einer Quellenkunde, dem einzelne typische Quellen zugeordnet sind und der sich durch jeden der Bände zieht: eine erneute Betonung der Quellengebundenheit jeder historischen Erkenntnis. Im Übrigen strukturiert die Abfolge von Überschriften der einzelnen Kapitel, die dann durch die Quellenbeispiele belegt und anschaulich gemacht werden, ebenso den dargebotenen Stoff wie sie auch das Verständnis selbst lenkt. So enthält der erste Band in der Behandlung von Freiheit, Grundherrschaft, Lehnswesen, Dorf und Stadt auch eine volle Darstellung der mittelalterlichen Gesellschaft. Vor allem aber erhält jedes Kapitel eine Einführung, der dann sehr gezielte und kritisch erörternde Literaturhinweise folgen. Wie Kroeschell jetzt im Vorwort zu Band eins betont, sollen diese Einführungen sich zu einem gut lesbaren Grundriss zusammenfügen, was allerdings bei der Knappheit der Texte wohl nicht ganz gelingt. - Schließlich folgt den jeweiligen Quellen in jedem Kapitel ein Abschnitt „Zur Vertiefung“. In ihm wird in einem sehr unmittelbaren Zugriff ein offenes Forschungsproblem in seinen unterschiedlichen Aspekten dargelegt und erörtert. Auf diese Weise erlebt auch der studentische Leser die Rechtsgeschichte und damit die Geschichte überhaupt als einen Forschungsprozess, in dem es um eine ständige Klärung des Rechts in seiner Geschichtlichkeit geht - eine Klärung, von der Kroeschell zu Recht bemerkt, dass sie gerade angesichts der heutigen Ungeschichtlichkeit im Selbstverständnis der Disziplinen des geltenden Rechts notwendig ist, kann doch auch ein sich ahistorisch verstehendes Recht seiner Geschichtlichkeit nicht entgehen, die sonst verborgen und unreflektiert wirkt und damit, wie geschehen, ideologischen Verwendungen offen ist. In dieser vorgegebenen Geschichtlichkeit liegt somit die Unentbehrlichkeit der Rechtsgeschichte für jede Rechtswissenschaft.
Die Einbeziehung auch des Lernenden in den Forschungsprozess, die das Studium immer an die wissenschaftliche Auseinandersetzung einerseits und die Quellen andererseits rückbindet, entspricht ganz der Humboldtschen Universitätsidee, und es kann als Zeugnis ihrer fortdauernden Lebendigkeit angesehen werden, dass dieses anspruchsvolle Lehrbuch so lange einen solchen Erfolg hat - auch unter diesem Aspekt ist zu wünschen, dass er andauere!
Die Quellen, die das Gerüst des Lehrbuchs darstellen und zusammen mit ihren Übersetzungen umfangmäßig den größten Teil des Textes ausmachen, sind in der Tat mit viel Überlegung und ebenso viel Spürsinn ausgewählt und konnten deshalb unverändert bis in die jetzige Auflage übernommen werden. Es sind darunter „Klassiker“, die in einer Quellensammlung und einer Darstellung nicht fehlen dürfen, und es sind darunter weithin unbekannte, aber gerade dadurch aufschlussreiche Stücke, die auf diese Weise in das Licht der Darstellung gezogen werden und den Reichtum und die Vielfalt der europäischen rechthistorischen Tradition aufweisen. Das jedem Band beigegebene Quellenregister zeigt beides und erlaubt den schnellen Zugriff - wie überhaupt durch die Register einschließlich eines Autorenregisters die Bände vorbildlich erschlossen sind. Es sei hier noch angefügt, dass auch die Einführung in Bedeutung, Hilfsmittel und Literatur der Rechtsgeschichte zu Anfang von Band eins in vorbildlicher Weise dem Studierenden Information, Einordnung und Erläuterung geben.
Für eine erste Einordnung der Quellen bringen die Kapitelüberschriften, die Einführungen und Vertiefungen genügend Informationen; für das volle Verständnis und die Interpretation im einzelnen freilich muss der Leser entweder den Literaturhinweisen nachgehen oder es muss die akademische Lehre dafür Sorge tragen. Die Abbildungen, die der neuen im Format vergrößerten Ausgabe dankenswerterweise beigegeben werden konnten, können vor allem für die vormodernen Teile oft die Andersartigkeit und Fremdheit des damaligen Rechts schlaglichtartig zur Anschauung bringen. Erwähnt sei etwa die archaisch verschlüsselte Darstellung der Freilassung durch Schatzwurf nach der Lex Salica (Bd. 1 S. 59). Sie stellen also eine wirkliche inhaltliche Information, keine bloße Illustration dar.
Die in die darstellenden Teile eingefügten und meist sehr präzise einordnenden, auch kritischen Bemerkungen der „räsonnierten“ Literatur stammen in ihrem Grundstock aus jenen inneren Auseinandersetzungen, in welchen Kroeschell in den sechziger und siebziger Jahren an der Spitze einer jüngeren, nach dem Kriege in die Universitäten eingezogenen Generation von Rechthistorikern um ein neues Bild der Rechtsgeschichte rang, ein Bild, das sich einerseits von der „klassischen" Rechtsgeschichte absetzte und sich andererseits kritisch mit dem Bild einer „neuen Verfassungsgeschichte" des Mittelalters der aus den dreißiger Jahren stammenden Generation von allgemeinen Verfassungshistorikern (genannt seien nur Theodor Mayer, Otto Brunner und Walter Schlesinger) auseinandersetzte. Aus diesen Auseinandersetzungen stammen wichtige und nicht überholte Bemerkungen, die sich durch das ganze Lehrbuch hindurch ziehen. Andererseits weist Kroeschell darauf hin (Bd. 1 S. 224), es sei ein wissenschaftlicher Rückschritt, Otto Brunners Öffnung des Verhältnisses von Recht und mittelalterlicher Gesellschaft mit dem Hinweis darauf abzutun, dass er auf einem zeitbedingten, der NS-Ideologie nahestehenden Volksbegriff beruht habe. Die heutige Geschichtswissenschaft benutzt diesen Hinweis allzu leicht zu einer Abkehr zu einem Gesellschaftsbegriff, in dem das Recht keine Bedeutung und keine Funktion mehr hat. Die Auseinandersetzung mit Fritz Kerns Lehre vom „guten alten Recht“, die sich ebenfalls durch viele Kapitel der ersten beiden Bände zieht, sieht dagegen meines Erachtens zu wenig, wie bahnbrechend Fritz Kern für eine nicht mehr an modernem Recht orientierte Auffassung der mittelalterlichen Rechtsmentalität gewesen ist.
Die kritische Auseinandersetzung mit der Literatur beschränkt sich aber nicht auf diese Grundlagen, sondern verfolgt die rechtshistorische und historische Forschung bis zum heutigen Tage aufmerksam, weist aber dankenswerterweise auch stets die grundlegend gebliebenen klassischen Studien dort nach, wo sie nicht überholt sind. So wird man fast jede wichtigere Arbeit der letzten Jahrzehnte, bis hin zu maßgebenden Dissertationen und Aufsätzen, kritisch eingearbeitet finden; eine große Leistung, die eine Forschung verfolgt und dokumentiert, welche sich für das Mittelalter, für die frühe Neuzeit und für die Moderne inzwischen so weit ausdifferenziert hat und sonst kaum überblickt wird. Durch die „räsonnierende“ Einbettung in die Darstellung steht man andererseits nie vor einem bloßen Materialberg. Dabei bleibt Kroeschell durchaus offen für Ansätze, die seinen eigenen „dekonstruierenden“ wiederum konstruktiv zu überschreiten suchen (Bd. 1, S. 49 a. E.).
Vor allem in dem von Nehlsen-von Stryk und Cordes überarbeiteten zweiten Band finden sich stärkere Veränderungen in Aufbau und Gedankenführung der der Einführung wie der Vertiefung gewidmeten Kapitel, meist begründet durch einen neueren Forschungsstand. Hier geht die Darstellungsweise auch mehr von den konzentrierten punktuellen Bemerkungen zu einem Stil der etwas breiteren Erörterung über, der sicher die Rezeption durch zukünftige Studentengenerationen erleichtert, die sonst stets skizzierte wissenschaftsgeschichtliche Dimension allerdings zuweilen auch verkürzt. Hier zeigt sich, wie in manchen Feldern der neueren Verfassungsgeschichte der Problemstand eine etwas veränderte Perspektive fordert, während das von Kroeschell vorgegebene Stichwort nach wie vor seine zentrale Stellung behalten hat. Als Beispiel mag die Erörterung zu „Repräsentation“ dienen (in Band zwei Kapitel 15: Fürst und Landstände, zur Vertiefung). In dem später konzipierten Band drei konnten neuere Forschungsrichtungen, wie etwa die Kriminalitätsgeschichte (Kap. 3 Verbrechen und Strafen, zur Vertiefung „Räuber und Gauner“) und die Erforschung juristischer Dissertationen der frühen Neuzeit (Kap. 1, zur Vertiefung), von Anfang an maßgeblich eingefügt werden.
Dass auch grundsätzliche Probleme an der Schwelle zur Moderne in dem Stil des mehr punktuellen Zugriffs angemessen dargestellt werden können, zeigt sich etwa in der Erörterung in Band zwei Kapitel 7: Der Polizeistaat, mit dem Teil zur Vertiefung: Polizeisachen und Justizsachen. Hier wird ebenso knapp wie eindringlich unter Heranziehung der neuesten Literatur die Erörterung zum jeweiligen historischen Rechtsbegriff, die Kroeschells Darstellung von Anfang an durchzieht, bis zum Vorabend der Großen Revolution und des Umbruchs fortgeführt. Der Abschnitt endet folgerichtig mit dem Untergang des Alten Reiches.
Dann aber beginnt jene Epoche, die sich nach Hegel auf den Kopf, nämlich auf Gedanken und Ideen gestellt hat, und bekanntlich ist es auch Karl Marx nicht gelungen, sie ganz überzeugend wieder auf die Füße zu stellen. Anders gesagt: es beginnt jene Zeit, die schon zur unmittelbaren Geschichte unserer eigenen Gesellschafts-, Wirtschafts-, Verfassungs- und Rechtsordnung gehört. Diese aber werden gestaltet unter einem Paradigmawechsel der jeweiligen grundlegenden Prinzipien im Verhältnis zum Alten Europa. Dies ist es ja, was das Stichwort von der „Sattelzeit“ (R. Koselleck) i. S. der modernen Begriffsgeschichte sagen will. Der innere Zusammenhang dieser neuen Prinzipien und die Kämpfe um ihre Umsetzung in die rechts- und verfassungsgeschichtliche Wirklichkeit bedürften für mein Gefühl aber einer breiteren Darstellung und Analyse, als es in dem Schema dieses Lehrbuchs möglich ist. Ähnliches gilt auch für die Quellen: Während Rechtsquellen des Alten Europa meistens einen sozialen Ausschnitt der Wirklichkeit ebenso abbilden wie sie ihn regeln, also sowohl Normativität wie Empirie zum Augenschein bringen, stehen die, schon ihrem Anspruch nach „abstrakt-generellen“ Normen des modernen Rechts in gewolltem Abstand zur Wirklichkeit und sind deshalb verständlich nur einerseits aus dem theoretischen Rahmen, aus dem sie konzipiert sind, andererseits vermittels einer Analyse ihrer Verbindung zur entsprechenden gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dies alles sind Aspekte, die Kroeschell durchaus gezielt anspricht. Für mein Gefühl bleibt aber dabei ihre Darstellung in dem vorgegebenen Rahmen - notwendigerweise knapp, punktuell - unbefriedigend. Wohl aus diesem Gefühl heraus weist auch Kroeschell selbst auf seine Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts hin, die eben einen breiter darstellenden und analysierenden Stil verfolgt. Doch bleibt so jedenfalls das 19. Jahrhundert unabgedeckt, weshalb auch viel auf die Darstellung in Willoweits wichtiger Verfassungsgeschichte verwiesen wird. So ist vielleicht der von Kroeschell für dieses Lehrbuch entwickelte Aufbau, der ursprünglich eine durch bestimmte Traditionen und Vorverständnisse bestimmte Darstellung des mittelalterlichen Rechts aufbrechen und eine unmittelbare Begegnung mit der Fremdheit dieser Zeit und ihres Rechts ermöglichen sollte, eher für eine Vermittlung der Strukturen des alten, vorrevolutionären Europa geeignet. Dass auch der der Moderne gewidmete Teil des Lehrbuchs sowohl die Begegnung mit wichtigen Quellen wie eindringende Analysen von Rechtsproblemen vermittelt, sei dabei ausdrücklich betont. Etwa bleibt der Ausklang des Bandes mit der, einmal für die 50er-Jahren rechtsideologisch sicher sehr bezeichnenden naturrechtlichen Eheauffassung des Bundesgerichthofes unbefriedigend, da nicht mehr der folgende Umbruch der Werte und des Rechts im Bereich von Familie und Geschlechterbeziehungen einbezogen wird, der erst die historische Dimension des Problems ergibt.
Kroeschell hat sein Lehrbuch „Deutsche Rechtsgeschichte“ genannt und ist dabei geblieben. Damit kann bei ihm weder eine „germanische“ noch eine „nationale“ Rechtsgeschichte gemeint sein, hat er doch selbst zur Überwindung dieser Positionen beigetragen. Bader/Dilcher, deren Planung und Entwurf, wie anfangs erwähnt, aus derselben wissenschaftsgeschichtlichen Situation Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre stammt, sind ebenfalls bei diesem Titel geblieben und haben das Alte Europa zusätzlich in Bezug genommen, um das europäisch-exemplarische der dargestellten Probleme zu betonen (wobei das Ende der Darstellung bewusst auf den Umbruch zur bürgerlich-nationalstaatlichen Epoche gelegt wurde). Am weitesten bei einer „Europäisierung“ der rechtshistorischen Lehrbücher sind heute sicher die Italiener, die aber mit einem gewissen Recht ihre „nationale“ Rechtsgeschichte der Entstehung und Entfaltung des ius commune als Zentrum einer europäischen Darstellung reklamieren können, dadurch aber natürlich andere Probleme ebenfalls übergreifender Dimension an den Rand rücken müssen, die aus dieser Sicht dem bloßen „Partikularrecht“ zuzuordnen sind. Die erste dem Titel nach „Europäische“ Rechtsgeschichte im deutschsprachigen Bereich (Hans Hattenhauer) nun hat gerade diesen Gesichtspunkt unzureichend behandelt,[8] nimmt dafür aber die verschiedenen „partikularrechtlichen“ Bereiche, auch vergleichend, in den Blick. Ein anderer Versuch (M. Schmoeckel) zentriert stärker auch auf die gelehrte Tradition,[9] versucht das gesamte Spektrum aber unter eher kulturpessimistischer Perspektive als „Suche nach der verlorenen Ordnung“ als übergreifender und darstellungsleitender Perspektive zu erfassen. Damit wird er wohl dem Gerechtigkeitsstreben der Moderne im pluralistischen Rechts- und Verfassungsstaat nicht gerecht. Welche Rolle nun, so darf und muss man heute fragen, spielt das Europäische in Kroeschells Lehrbuch?
Band eins ist europäisch angelegt und konnte es ohne weiteres sein, denn das entspricht seit alters den Quellen- und Problembereichen der mittelalterlichen Rechtsgeschichte von römischem Vulgarrecht zu den Leges, von Grundherrschaft, Städten und Lehnswesen bis zu Königtum, Kaiser und Papst: Das Mittelalter ist europäisch. Kroeschell bezieht bewusst das Erbe der Antike, also Römisches und die Kirche, neben den Themen germanistischer Tradition voll ein und widmet auch der Entstehung des ius commune in der Schule von Bologna ein eigenes Kapitel. Das römische Recht gerät auch bis zu seinem vollen Eintritt mit der Rezeption in die deutsche Rechtsgeschichte nicht aus dem Blick, doch kann die Entfaltung der mittelalterlichen Rechtswissenschaft in Südeuropa natürlich nicht geschildert werden; wenn sich auch unter den Quellen ein Gutachten des Bartolus befindet. Die Entstehung der Strafrechtswissenschaft in Italien tritt erst aus der Sicht ihrer deutschen Rezeption in die Darstellung ein. Der europäische Bezug tritt dann später wieder stärker, sozusagen mit innerer Notwendigkeit, mit der Epoche von Revolution und Reform, mit Napoleon und mit der Kodifikationsbewegung in den Blick der Darstellung. Die deutsche Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts stellt selbst ein europäisches Phänomen dar, wie leider auch die Formen totalitärer Herrschaft im 20. Jahrhundert in Deutschland. Eine Deutsche Rechtsgeschichte mit europäischen Perspektiven also, auch hier mit einer gewissen Konsequenz ähnlich wie bei Bader/Dilcher: Eine rechtshistorische Darstellung als aspektgeleitete, reflektierende Problemgeschichte lässt sich, zumindest zur Zeit, wohl nicht mit einer europäischen Breite der Stoffvermittlung verbinden, wohl aber lässt sich dabei das Bewusstsein der Studierenden exemplarisch auf die europäischen Zusammenhänge lenken - und darauf kommt es vielleicht an. Eine noch kaum angefasste Aufgabe stellt es innerhalb des Europäischen dar, die grundlegenden strukturellen historischen Unterschiede zwischen dem lateinisch-westlichen und dem östlich-orthodoxen Europa, auf die wir heute im Prozess der europäischen Einigung stoßen, erst zu analysieren und dann darzustellen. Von Seiten der allgemeinen Geschichtswissenschaft hat hier Michael Borgolte, Berlin, erste Schritte getan und dabei Judentum und Islam eingeschlossen.[10] Gerade der Rechtsbegriff und das Verhältnis von Staat, Kirche und Gesellschaft spielen hier eine Rolle, deren sich die Politik heute kaum bewusst ist, und das Mittelalter erweist sich als weiterwirkende Periode grundlegender Entscheidungen.
Diese allgemeineren Bemerkungen stehen nicht zufällig am Ende einer Besprechung, die dem dreibändigen, grundrissartigen Lehrbuch von Kroeschell gewidmet ist. Sie gehören vielmehr hierher, weil die gesamte Art der Darstellung auf einem Wissenschaftsbegriff aufbaut und ihn dem aufmerksamen Leser auch ständig vermittelt, der solche Grundsatzfragen aufwirft. Dies in eine klar gegliederte, quellenorientierte und bis zu den Problemdiskussionen durchstoßende Darstellung eingeschmolzen zu haben, stellt die große Leistung dieses Werkes dar. Es ist dadurch überdies zugleich ein Zeugnis dafür, wie seit den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts neue Generationen von Rechthistorikern alte und neue Problembereiche mit verändertem Verständnis und Methoden angingen und damit eine lebendige und problembewusste Wissenschaft weitergeben können.
Königstein im Taunus Gerhard Dilcher
[1] Besprechung von Karin Nehlsen-von Stryk in dieser ZS 118 (2001), S. 479-489 zu Karl S. Bader/Gerhard Dilcher: Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt, Bürger und Bauer im alten Europa, 1999.
[2] Hermann Conrad, Deutsche Rechtgeschichte Bd. 1, 1962, Bd. 2, 1966.
[3] Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert: zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, 1961, 2. Auflage 1995.
[4] Klaus von See, Altnordische Rechtswörter: philologische Studien zur Rechtsauffassung und Rechtsgesinnung der Germanen, Tübingen 1964.
[5] Die Aufsätze sind gesammelt erschienen in Karl Kroeschell, Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht, Berlin 1995. Dazu die Laudatio von Gerhard Dilcher, Die juristischen Bücher des Jahres – Eine Leseempfehlung, NJW 1996, 3256, hier 3258f.
[6] Vor allem die Tagungsbände Michael Stolleis und Dieter Simon (Hrsg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Disziplin, 1989 und Joachim Rückert und Dietmar Willoweit (Hrsg.), Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen, 1995, jeweils mit Beiträgen Karl Kroeschells.
[7] So durchaus anregend Uwe Wesel, Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht, 1997.
[8] Hans Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 4. Auflage, 2004. Dazu kritisch Peter Landau, Europäische Rechtsgeschichte aus Kieler Sicht, Rechtshistorisches Journal 12 (1993), S. 166-191.
[9] Matthias Schmoeckel, Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung : 2000 Jahre Recht in Europa, 2005. Dazu kritisch Gerhard Dilcher, Rezension in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 94. Band (2007), S. 102 - 103.
[10] Michael Borgolte, Christen, Juden, Muselmanen : die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr., München 2006; Ders. Stiftungen in Christentum, Judentum und Islam vor der Moderne : auf der Suche nach ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden in religiösen Grundlagen, praktischen Zwecken und historischen Transformationen, Berlin 2005.