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Klein, Martin D., Demokratisches Denken bei Gustav Radbruch (= Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 4 Leben und Werk - Biographien und Werkanalysen 9). BWV Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2007. IX, 354 S. Besprochen von Walter Pauly. ZRG GA 126 (2009)

Klein, Martin D., Demokratisches Denken bei Gustav Radbruch (= Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 4 Leben und Werk - Biographien und Werkanalysen 9). BWV Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2007. IX, 354 S. Besprochen von Walter Pauly.

 

An Monographien zu Gustav Radbruch besteht gegenwärtig angesichts der Untersuchungen von Hanno Durth („Der Kampf gegen das Unrecht“, 2001) und Marc André Wiegand („Unrichtiges Recht“, 2004) kein Mangel, die sich übrigens beide wie jetzt auch Klein dem verfassungstheoretischen Denken Radbruchs zuwenden: laut Untertitel Durth seiner „Theorie eines Kulturverfassungsrechts“, Wiegand seiner „rechtsphilosophischen Parteienlehre“. Aber nicht erst von daher dürfte sich verstehen, dass Radbruch „mehr“ war „als eine Formel“ (S. 1). Wenig Neues vermag denn auch der fünfzigseitige, den biographischen Grundlagen gewidmete Teil zu erbringen, darin nicht unähnlich den sich anschließenden hundert Seiten zu den rechtsphilosophischen Grundlagen, die weitgehend im Banne von Radbruch-Zitaten und Verwertungen von Sekundärliteratur stehen. Verdienstvoll wird u. a. die Schwankungsbreite zwischen „einem naturrechtlichen Rechtsverständnis nicht grundsätzlich abgeneigt“ (S. 130) einerseits und „keinen naturrechtlichen Rechtsbegriff vertreten“ (S. 133) durchmessen, um dem Leser am Ende die „Position des Sowohl-als-auch“ (S. 135) zu offerieren. Ebenfalls gibt es „einige Anzeichen für eine freirechtliche Einstellung“ (S. 143), wenn Radbruch dann auch gegenüber der Freirechtsbewegung in der Weimarer Zeit „zunehmend kritischer“ (S. 147) geworden sei. Der Hauptteil der Arbeit gilt auf annähernd hundertfünfzig Seiten dem demokratischen Denken bei Radbruch, wobei zunächst in das Weimarer Demokratieverständnis breit eingeführt wird. Geschildert wird im Anschluss Radbruchs relativistische Position, die zu verschiedenen Idealtypen politischer Ideologie mit unterschiedlichen obersten Zwecken, d. h. Macht, Freiheit oder Kultur, führt (S. 184), zu denen nur ein Bekenntnis möglich sei, jedoch keine wahre Erkenntnis – bei Radbruch ein starkes Argument für die demokratische Staatsform. Ausführlich entfaltet wird die individualistische Rechts- und Staatsauffassung, die ein Spektrum politischer Richtungen vom Anarchismus bis zum aufgeklärten Despotismus umspannt, sich jedoch eigentlich auf Liberalismus, Demokratie und einen individualistisch konzipierten Sozialismus beziehen lasse  (S. 190). Demgegenüber erscheinen die überindividualistische wie auch transpersonale Rechts- und Staatsauffassung unausgearbeitet und unzeitgemäß (S. 194ff.). Ertragreich wird Radbruchs Konzeption durch die Inbeziehungsetzung des theoretischen Ausgangspunktes mit der soziologisch vorfindlichen Parteienlandschaft, die ihn zu einer realitätsorientierten, den Parteienstaat bejahenden Lehre gelangen lässt.

 

In diesen Zusammenhang gehört auch Radbruchs prominente Feststellung im ersten Band des von Gerhard Anschütz und Richard Thoma herausgegebenen „Handbuch des Deutschen Staatsrechts“ (1930), die „Überparteilichkeit der Regierung“ sei die „Lebenslüge des Obrigkeitsstaates“ gewesen. Das parteienstaatliche Credo lässt Radbruch die Parteien als Verfassungsorgane verorten und eine verfassungsrechtliche Verankerung ihrer Funktionen fordern (S. 216ff.). Hieraus folgt nicht zuletzt eine deutliche Inpflichtnahme der Bürger, die u. a. eine Wahlpflicht umschließt (S. 208ff.), sowie eine weitreichende Mediatisierung der Abgeordneten durch die Parteien, da diese im System der Verhältniswahl doch nur als deren Exponenten gewählt würden (S. 222). Wiedergegeben werden auch die atemberaubenden Deduktionen, die Radbruch 1934 aus dem von ihm philosophisch-politisch postulierten Erkenntnis- und Wertrelativismus vornimmt und die zu Positivismus, Liberalismus, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Intoleranz gegenüber Intoleranz und schließlich Sozialismus führen sollen (S. 240ff.). Kleins Kritik, namentlich an der Ableitung des Sozialismus, Radbruch hätte seine Gedanken weiter ausführen müssen, um ihnen Überzeugungskraft zu verleihen (S. 245), bleibt blass. Beachtlich erscheint die von Radbruch vorgenommene Begrenzung demokratischer Disposition über die eigene Verfassungsform, die trotz aller relativistischer Offenheit nicht zu einer dauerhaften Überführung in eine Diktatur berechtige. Diese Entradikalisierung des Relativismus schützt damit jene Pluralisierung des Gemeinwohl-, Volks- und Parteibegriffs, die als Markenzeichen nicht nur des Weimarer Radbruch gelten kann. Radbruchs Ablehnung eines richterlichen Prüfungsrechts in Weimar erklärt Klein nicht nur mit dessen Parlamentarismusverständnis, sondern ebenso aus der justizpolitischen Situation, d. h. aus einer einseitigen Politisierung der zeitgenössischen Justiz (S. 256). Statt, wie zeitgenössisch beliebt, von einer Krise des Systems zu sprechen, lenkte Radbruch seine Kritik auf die Unfähigkeit der deutschen Gesinnungsparteien, Verantwortung zu übernehmen und Kompromisse zu schließen und verlangt damit seinerseits von diesen die Übernahme eines relativistischen Standpunktes, wie er seiner Rechtsphilosophie zugrunde liegt  (S. 262ff.). Bemerkenswerterweise hat Radbruch nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Weimarer Widerstand sowohl gegen ein Zweiparteiensystem als auch gegen ein Mehrheitswahlrecht deutlich relativiert, wenn nicht gar aufgegeben (S. 282ff.). Im Schlussteil untersucht Klein die insgesamt eher geringe Rezeption der Radbruchschen Demokratielehre in der Bundesrepublik, für die bei Gerhard Leibholz angesichts erheblicher konzeptioneller Differenzen in puncto Repräsentationsverständnis nur wenig Raum blieb, während sich bei Konrad Hesse trotz beachtlicher Parallelen lediglich recht allgemein gehaltene direkte Bezugnahmen fanden (S. 308). Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht (E 5, 85, 224) Radbruch im KPD-Urteil aus dem Jahr 1956 dafür zitiert, dass es keine beweisbar richtigen politischen Grundanschauungen geben würde, weshalb auch die politischen Parteien zur Toleranz verpflichtet seien. Die intolerante Seite der Toleranz scheint Klein zufolge seither nicht mehr gefragt gewesen zu sein (S. 311), was sich unter neuen Vorzeichen, namentlich wenn die Säkularität des Staates auf dem Spiel steht, wieder ändern mag.

 

Jena                                                                                                   Walter Pauly