Juristenausbildung in Osteuropa bis zum Ersten Weltkrieg, hg. v. Pokrovac, Zoran (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main 225 = Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfers 3). Klostermann, Frankfurt am Main 2007. VIII, 425 S. Besprochen von Werner Schubert. ZRG GA 126 (2009)
Juristenausbildung in Osteuropa bis zum Ersten Weltkrieg, hg. v. Pokrovac, Zoran (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main 225 = Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfers 3). Klostermann, Frankfurt am Main 2007. VIII, 425 S. Besprochen von Werner Schubert.
Der vorliegende Sammelband ist der dritte der vom Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte betreuten Reihe: „Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfers“. Bereits erschienen sind die Bände: „Modernisierung durch Transfer im 19. und frühen 20. Jahrhundert“ (2006) und „Modernisierung durch Transfer zwischen den Weltkriegen“ (2007; hrsg. von Thomasz Giaro). Das von der Volkswagen-Stiftung betreute Forschungsprojekt widmet sich dem Rechtstransfer, der seit Beginn des 19. Jahrhunderts in allen Regionen Osteuropas stattfand. Hierbei geht es um die Frage, auf welchen Wegen westliche Kodifikationen und Rechtslehren in den Osten übertragen wurden, welchen Anteil Gesetzgebung, Rechtswissenschaft, Juristenausbildung und Rechtsprechung an diesen Prozessen hatten und welche Wirkungen die Integration westlicher Rechtsmodelle in den jeweiligen Traditionen Osteuropas hatte. Band 3 der Reihe thematisiert die Juristenausbildung in Osteuropa, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts – mit Ausnahme Österreichs – oft von einer nur geringen, im Westen ausgebildeten Bildungselite ausging.
Der Band wird eröffnet mit einem Beitrag Thomas Simons über die „Thun-Hohensteinsche Universitätsreform und die Neuordnung der juristischen Studien- und Prüfungsordnung in Österreich“ (1850-1855). Die Wiener Studienreform wandte sich gegen bloße „Gesetzeskenntnis“ und Naturrecht und suchte das universitäre Lehr- und Bildungsprogramm „so weit wie möglich aus funktionalen Zusammenhängen und Zweckbindungen jedwelcher Art herauszulösen“ (S. 16). Maßgebend sein sollte das Selbstverständnis der Historischen Rechtsschule, welche die historisch gewachsenen Strukturen anders als das Naturrecht akzeptierte. Insoweit sollte die Reform auch eine „christlich-katholische Restauration des österreichischen Bildungswesens“ fördern (S. 28). Die österreichische Studienreform beeinflusste die zum Habsburger Reich gehörenden Staaten und Regionen, insbesondere Ungarn, das erst 1667 eine ständige rechtswissenschaftliche Universitätsfakultät in Tyrnau erhielt, die 1777 nach Buda und von da nach Pest verlegt wurde (hierüber K. Gönczi, S. 37ff.). Die erst seit Joseph II. studienberechtigten Protestanten erhielten ihre juristische Ausbildung an Gymnasien, die eng mit den Universitäten in Halle und später in Göttingen verbunden waren. Der Lehrbetrieb richtete sich entsprechend den Universitätsreformen Maria Theresia s– mit Modifikationen – nach dem Wiener Muster. Die benutzte Rechtsliteratur kam zum großen Teil aus Deutschland, zumal an der Universität und den Königlichen Akademien bis 1860 die Vorlesungen und Prüfungen weitgehend auf Deutsch stattfanden. Erst seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte sich insbesondere unter dem Dualismus (1867-1918) in Auseinandersetzungen mit den ausländischen Vorbildern eine eigenständige ungarische Gesetzgebung und Jurisprudenz. – Eine systematische und kontinuierliche Ausbildung von Juristen erfolgte in Kroatien (hierüber D. Čepulo, S. 81ff.) erst auf der Kameralschule von Varazin, die bald nach Zagreb verlegt wurde. Von 1776 bis 1850 oblag die Juristenausbildung der Juristischen Fakultät der neu gegründeten Königlichen Akademie der Wissenschaften in Zagreb (S. 102ff.). Die Juristische Fakultät wurde 1850 in die neu gegründete Akademie der Rechtswissenschaften umgewandelt, die ihrerseits 1874 als Rechtswissenschaftliche Fakultät Teil der neuen Universität Zagreb wurde. Das Rechtsstudium in Kroatien war – auch nach dem ungarisch-kroatischen Ausgleich von 1868 – stark vom österreichischen Ausbildungsmodell und der österreichischen sowie deutschen Rechtsliteratur beeinflusst. Zunehmend wurden, da das Unterrichtswesen seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts unter die kroatische Autonomie fiel, auch die Besonderheiten der kroatischen Rechtsentwicklung berücksichtigt. – Die juristische Ausbildung in den böhmischen Ländern (hierüber P. Skřejpková, S. 153ff.) erfolgte zunächst an der 1348 von Karl IV. gegründeten Universität, von der sich 1372 eine eigenständige Juristenfakultät abspaltete, die in der Hussitenzeit 1418 aufgelöst wurde. 1638 erfolgte die Gründung einer neuen Juristischen Fakultät, die 1654 in die neue Universitas Carolo-Ferdinandea eingefügt wurde. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts richtete sich die Juristenausbildung nach den österreichischen Grundsätzen (1784 Einführung der deutschen statt der lateinischen Unterrichtssprache). Maßgeblich geprägt wurden Forschung und Lehre in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts von der österreichischen Universitäts- und Studienreform, in deren Verlauf auch überregionale bekannte Rechtslehrer wie Josef Unger, Alois von Brinz und Anton(in) von Randa, der in deutsch und tschechisch publizierte, nach Prag gelangten. 1882 kam es zur Teilung der Fakultät in eine deutsche und tschechische Juristische Fakultät, der sich auch Anton von Randa anschloss. Der Anhang bringt eine Statistik der Zahl der Jurastudenten ab 1881/82 (wohl nur an der tschechischen Fakultät) und ein Verzeichnis der Inhaber der Spitzenämter an der Universität und Fakultät von 1882 bis 1918 (S. 179ff.). Über das Schicksal der deutschen Juristischen Fakultät fehlen leider weitere Hinweise.
Der Beitrag von A. Wrzyszcz über die Juristenausbildung in Polen befasst sich mit den akademischen Einrichtungen in Wilnius (1803-1832), in Warschau (1808-1831; 1862-1869), in Krakau (1795-1914) und in Lemberg. Am bekanntesten war als Ausbildungsstätte zunächst Warschau, wo 1808 eine Rechtsschule nach französischem Muster zur Ausbildung insbesondere im rezipierten französischen Zivil- und Zivilprozessrecht eingerichtet wurde. Die Universität Warschau, die nach dem November-Aufstand 1830/31 geschlossen wurde, verfügte für das Studium der Rechts- und Verwaltungswissenschaften über ein anspruchsvolles Programm mit zahlreichen Kontakten zu ausländischen Universitäten in Frankreich, Deutschland und England. Das Jurastudium an der Universität Krakau erlangte erst nach der Repolonisierung ab den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts einen größeren Aufschwung. Gleiches gilt für die Juristische Fakultät der Universität Lemberg, welche die Krakauer Fakultät wohl an Ansehen übertraf. Bedauerlich ist, dass Preußen keine Universität in Posen einrichtete, zumal die polnische Rechtswissenschaft erheblich von der deutschen Rechtsliteratur beeinflusst war. Die Vorlesungen über das französische Zivilrecht spielten in Warschau und Krakau anhand des Handbuchs des französischen Civilrechts von Zachariä eine erhebliche Rolle. Ein Teil der Lemberger Professoren schrieb auch auf Deutsch, so vor allem Sokolowski, der 1893 eine fundierte Kritik des ersten BGB-Entwurfs veröffentlichte. – M.-D. Bocşan befasst sich mit der Juristenausbildung ab 1850 in Rumänien (S. 251ff.), die nach der Vereinigung der Donaufürstentümer (1859) an den juristischen Fakultäten in Bukarest und Jassy erfolgte. Eine Vielzahl rumänischer Studenten ging weiterhin nach Frankreich oder Belgien (teilweise auch nach Österreich und Deutschland), um dort Rechtswissenschaft zu studieren. Im zweiten Teil seines Beitrags untersucht Bocşan den Anteil der rumänischen Jurastudenten in den zu Ungarn gehörenden Universitäten bzw. Akademien (Großwardein [Oradea], Hermannstadt, Budapest und Klausenburg), der im Hinblick auf das Sprachenproblem nicht sehr groß war.
In Russland fand erstmals eine wissenschaftliche Ausbildung von Juristen mit der Gründung der Akademie der Wissenschaften in Petersburg im Jahre 1725 statt. Jedoch begann die eigentliche Geschichte der russischen Juristenausbildung erst mit der Gründung der Moskauer Universität 1755 (hierüber A. D. Rudokvas/A. S. Kartsov, S. 273ff.) und im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch an den Universitäten Kasan, Charkov, St. Petersburg und Kiew. Hinzu kamen noch besondere Rechtsschulen und Akademien, die ebenfalls eine juristische Ausbildung vermittelten. 1913 verfügten die russischen Universitäten über 111 rechtswissenschaftliche Professuren (bei knapp 7.000 Studenten im Jahre 1898; S. 294). Das Universitätsstatut von 1863 gab der Juristenausbildung eine feste inhaltliche Struktur, die Ende des 19. Jahrhunderts stark auf das römische Recht und das Zivilrecht ausgerichtet wurde. Dies erklärt auch den Erfolg der deutschen Pandektenrechtsliteratur, die weitgehend ins Russische übersetzt wurde (Werke von Puchta, Marezoll, Windscheid, Ihering, Sohm). In größtem Ansehen standen die „Pandekten“ Julius Barons und anschließend die römisch-rechtlichen Werke Heinrich Dernburgs (S. 296ff.). Die Kultusbürokratie sah im römischen Recht eine „wirksame Alternative zur Verbreitung der ,neuen sozialistischen Ideen’“ (S. 311). Gleichzeitig sollte das römische Recht nicht nur eine stabilisierende Rolle übernehmen, sondern auch das russische Rechtssystem insgesamt modernisieren. – Die Abhandlung A. S. Kartsovs befasst sich mit dem Russischen Seminar an der juristischen Fakultät der Berliner Universität (S. 317ff.; 1887-1896), über das bereits eine umfangreiche Monographie Florian Kolbingers (Im Schleppseil Europas? Das Russische Seminar für römisches Recht bei der juristischen Fakultät der Universität Berlin in den Jahren 1887-1896, 2004; hierzu M. Avenarius, ZRG GA 122 [2005], S. 789ff.) vorliegt. Bei der Einrichtung dieses von Pernice, Eck und Dernburg betreuten Seminars ging es darum, zukünftige Professoren für die Lehre des römischen Rechts an den russischen Universitäten ausbilden zu lassen. Von den 27 Berliner Stipendiaten erhielten 14 eine ordentliche Professur; weitere 5 unterrichteten an russischen Universitäten. Zwei von ihnen publizierten auch auf Deutsch, nämlich C. J. Petrazicki und Paul Sokolowski, der 1911/12 das „System des römischen Rechts“ von H. Dernburg in der 8. Auflage bearbeitete. In Erweiterung des Werkes Kolbingers bringt Kartsov aufschlussreiche Einzelheiten über die Beurteilung der deutschen Professoren durch die Stipendiaten (S. 348ff.). Die Schließung des Seminars, das teilweise als reaktionäre Maßnahme galt und bei der russischen Professorenschaft zunehmend auf Kritik gestoßen war, erfolgte 1895/96 mit dem Regierungswechsel nach dem Tod Alexanders III. – Über die Juristenausbildung an der deutschen Universität Dorpat (Tartu), die 1802 von Alexander I. neu gegründet wurde, berichtet M. Luts (S. 357ff.). Das Jurastudium in Dorpat war primär gemeinrechtlich, weniger provinzialrechtlich geprägt. Die Neuausrichtung des Jurastudiums in den 1820er Jahren beruhte auf dem von Dabelow befürworteten Humboldtschen Bildungsideal. Nützlich ist die Liste der Lehrstuhlinhaber bis 1893 mit biographischen Hinweisen (S. 386ff.). Die juristische Fakultät der Universität Tartu (Jur’jev) wurde im Zusammenhang mit der Justizreform von 1889 zwischen 1889 und 1895 reorganisiert und der Unterricht auf russisch angeordnet (hierüber T. Anepaio, S. 391ff.). Im Einzelnen befasst sich Anepaio mit der Zusammensetzung der Professorenschaft – der Zeitraum von 1889 bis 1911 wurde als das „goldene Zeitalter der Jur’jevschen Schule der russischen Romanistik“ bezeichnet (S. 410) –, mit der neuen russisch abgefassten Studienliteratur und der Zahl der lettischen und estnischen Jurastudenten.
Das Werk vermittelt nicht nur einen guten Überblick über die Juristenausbildung in Osteuropa bis 1914, sondern gleichzeitig auch über die Einflüsse der deutschen und österreichischen Rechtswissenschaft auf die sich herausbildenden nationalen modernen Rechtskulturen Osteuropas sowie auf die Geschichte der jeweiligen rechtswissenschaftlichen Fakultät und deren Lehrpersonal. Bedauerlich ist, dass Beiträge über die Juristenausbildung in Serbien und Bulgarien fehlen. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Einzelbeiträge in den Bänden der Reihe „Rechtskulturen des modernen Osteuropa“ eine geschlossene monographische Länderdarstellung nicht ersetzen können. Für die nicht mit der Rechtsgeschichte der behandelten Staaten vertrauten Leser wäre eine breitere Einführung in die Thematik durch den Herausgeber nützlich gewesen. Im Rahmen der Reihe „Rechtskulturen des modernen Osteuropa“ sollen als nächstes Bände über die Rechtswissenschaft und die Gerichtssysteme bis zum Ersten Weltkrieg erscheinen (S. VIII).
Kiel
Werner Schubert