Donnert, Erich, Die Universität Dorpat-Jurév 1802-1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Hochschulwesens in den Ostseeprovinzen des russischen Reiches. Lang, Frankfurt am Main 2007. 256 S., 35 Abb. Besprochen von Christian Neschwara. ZRG GA 126 (2009)
Donnert, Erich, Die Universität Dorpat-Jurév 1802-1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Hochschulwesens in den Ostseeprovinzen des russischen Reiches . Lang, Frankfurt am Main 2007. 256 S., 35 Abb. Besprochen von Christian Neschwara.
Der vorliegende Band stellt einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der Geschichte der ältesten baltischen Universität dar. Ihr Autor, langjähriger Professor an den Universitäten Halle, Jena und Leipzig, zählt zu den namhaftesten deutschen Baltikum-Forschern. Aus der wechselvollen Geschichte der im estnischen Dorpat 1632 gegründeten Universität hat er den Zeitabschnitt herausgegriffen, in dem diese – seit 1802 als kaiserliche Universität eingerichtet – in den Ostseeprovinzen und im Russischen Reich eine hervorragende Bedeutung als Träger westeuropäischer Kulturvorstellungen sowie Bildungs- und Wissenschaftsstandards eingenommen hat. Trotz des Status als Reichsuniversität konnte sie ihre innere Autonomie zunächst weitgehend wahren, eine geschickte Berufungspolitik sorgte auch dafür, dass der Lehrkörper überwiegend aus deutschbaltischen bzw. aus Wissenschaftern deutscher Staaten zusammengesetzt blieb. Erst mit einer einschneidenden Reform im Jahr 1893, womit auch die Umbenennung des Standortes in Juŕev verbundenen war, hat sie diese Selbstbestimmung verloren. Eine strikte Russifizierung führte zu einem raschen Austausch der (deutsch-)baltischen Universitätselite durch entsprechende neue Kräfte aus Russland. Nach dem Untergang des Russischen Reiches bestand die Universität – nach dem Fehlschlag der Fortführung als deutsche Hochschule unter deutschem Besatzungsregime – 1919 im unabhängigen Estland fort und überdauerte schließlich auch das Sowjetregime.
Die Universität Dorpat hat eine wechselvolle Geschichte: Zunächst als schwedische Akademie mit deutsch(-lateinischer) Unterrichtssprache und schwedisch-finnischem Lehrkörper mitten im Dreißigjährigen Krieg ins Leben getreten, mußte sie nach der russischen Invasion schon 1656 wieder geschlossen werden. 1690 wurde sie an dem neuen Standort Pernau als deutschbaltische Anstalt wiedereröffnet, getragen vom est-, liv- und kurländischen Ritterstand und den Bürgergemeinden der baltischen Hansestädte. Nach zwei Jahrzehnten, ohne eine ernsthafte Konkurrenz für die dem baltischen Raum am nächsten liegenden deutschen Universitäten in Greifswald und Rostock sowie im ostpreußischen Königsberg zu sein, wurde sie infolge des Nordischen Krieges 1710 abermals geschlossen. Nach der Eingliederung der est-, liv- und kurländischen Gebiete als Ostseeprovinzen in den Verband des Russischen Reiches blieben Initiativen zur Reaktivierung der Universität Dorpat für etwa ein Jahrhundert erfolglos. Erst in Verbindung mit einer gesamtrussischen Reform- und Modernisierungsoffensive unter Zar Alexander I. gelang schließlich 1802 der Neuaufbau der Universität an ihrem ursprünglichen Standort. Ungeachtet des Umbaus zu einer russischen Reichsuniversität unter Aufsicht eines staatlichen Kurators konnte sie sich als geistiges Zentrum für die Entwicklung von Kultur, Bildung und Wissenschaft im baltischen Raum profilieren. Aus dem Kreis ihrer Absolventen rekrutierte sich die deutschbaltische Elite als Träger der Kirchen- und Zivilverwaltung in den Ostseeprovinzen. Nach 1815 und 1848 einsetzende Reaktionstendenzen gegen liberale Strömungen zogen Konsequenzen zunächst hauptsächlich für das studentische Verbindungswesen nach sich. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem in Verbindung mit der seit 1867 einsetzenden Russifizierung des Bildungswesens, wandelte sich auch die Universität von einer teilautonomen Hochschule der deutschbaltischen Oberschicht zu einer kaiserlichen Reichsuniversität unter staatlicher Kuratel mit russischer Unterrichtssprache. Zug um Zug wurden Lehrstühle umgewandelt, am deutlichsten im Bereich der Juristischen Fakultät, wo der Lehrstuhl für Baltisches Recht nun durch einen solchen für Russisches Recht ersetzt wurde. Nach der Reform von 1893 befand sich nur noch ein Lehrstuhl unter der Leitung eines Deutschen; alle andere Professoren waren bereits russischer Herkunft. Auch die autonome Wahl der Universitätsorgane wurde beseitigt. Tendenzen vereinzelten Widerstandes im Kreise der Studenten und von Opposition aus dem Kreis der Professoren traten nun zunehmend hervor, insbesondere nach der Reform von 1893: Nichtrussische Professoren verweigerten die Abhaltung von Lehrveranstaltungen in russischer Sprache; zahlreiche deutsche und deutschbaltische Hörer kehrten der Universität den Rücken. Einen bedeutenden Verlust durch Abwanderung erfuhr die (deutsch-)baltische Bildungs-Elite auch in Folge der Revolution von 1905/6.
Der Darstellung der äußeren Geschichte der Universität (17–73) folgt ein ausführlicher Überblick (81–198) über die Entwicklung der einzelnen Wissenschaften in Orientierung an den Fach- und Studienrichtungen bzw. den dafür eingerichteten Lehrstühlen und Instituten. Grob gegliedert in Theologie, Rechts- und Staatswissenschaft, Geschichts- und Sozialwissenschaften, Naturwissenschaften und Medizin eröffnet sich eine Gesamtschau der am Standort Dorpat-Juŕev wirkenden Universitätselite und ihrer Leistungen für den baltischen Kulturraum sowie ihrer Ausstrahlung auf Europa und das Russische Reich. Von den einzelnen Fachrichtungen interessiert aus rechtshistorischem Blickwinkel natürlich der Sektor der Rechts- und Staatswissenschaften (95–105) mit den zahlreichen biografischen Miniaturen der an der Universität Dorpat-Juŕev wirkenden Professoren, welche die Entwicklung und den Wandel der deutschen Rechtskultur im Allgemeinen und im Baltikum insbesondere sowie die Hauptströmungen der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts anschaulich widerspiegeln. Die juristische Fakultät war federführend vor allem in der Aufbereitung der historischen Grundlagen des est-, liv- und kurländischen Privatrechts als autonomes Provinzialrecht der russischen Ostseeprovinzen. Aus dem Kreis der – bis 1893 hauptsächlich deutschen und baltischen – Professoren, ragt vor allem der Rechtshistoriker Friedrich Bunge (98ff.) heraus. Er war Absolvent der Universität Dorpat (1823) und hatte seine Studien anschließend in Heidelberg mit dem Erwerb des Doktorats (1826) vollendet. Als Lektor auch der russischen Sprache gehörte er 1854 der kaiserlich-russischen Kodifikationsabteilung in Sankt Petersburg an, die unter Leitung von Michail Speranskij mit der Herausgabe der Vollständigen Gesetzessammlung des Russischen Reiches (Svod Zakonov) betraut war.
In Verbindung mit den seit 1900 deutlich veränderten Studienbedingungen war Dorpat als Universitätsstandort vor allem für Hörer aus dem Deutschen Reich nicht mehr reizvoll, auch große Teile der deutschbaltischen Hörerschaft kehrten der Universität – aus politischen Gründen – den Rücken. Die sinkenden Studentenzahlen konnten erst knapp vor und während des Weltkrieges durch den Zustrom von Hörern anderer Nationalitäten abgefangen werden, zunächst vor allem estnischer, lettischer und litauischer sowie polnischer, und nach 1905 auch russischer, georgischer und armenischer Herkunft. Bemerkenswert hoch war – als Folge der nach der Revolution von 1905 bewirkten Liberalisierung des Hochschulwesens – auch der Anteil jüdischer Studenten (1916: 23%). Die Universität gehörte nun auch zu den ersten Hochschulen Russlands, an denen Frauen als Gasthörerinnen zugelassen waren; das von ihnen am stärksten frequentierte Studienfach war die Medizin. Auf Initiative der historisch-philologischen und der juristischen Fakultät wurden 1908 – zum Zweck der Ausbildung von Frauen zu Gymnasiallehrerinnen – mit großem Erfolg (bis 1915) private Hochschulkurse betrieben.
Es wäre zu wünschen, dass es ein Anliegen auch der künftigen Forschung sein wird, sich der weiteren Geschichte und dem Wirken der Universität Dorpat, vor allem in der kurzen Zeit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten von 1919 bis 1940, anzunehmen. Das vorliegende Werk sollte dazu Anregungen geben.
Wien Christian Neschwara