Deinhardt, Katja, Stapelstadt des Wissens. Jena als Universitätsstadt zwischen 1770 und 1830 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 20). Böhlau, Köln 2007. X, 424 S. Besprochen von Lieselotte Jelowik. ZRG GA 126 (2009)
Deinhardt, Katja, Stapelstadt des Wissens. Jena als Universitätsstadt zwischen 1770 und 1830 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 20). Böhlau, Köln 2007. X, 424 S. Besprochen von Lieselotte Jelowik.
Einem Goethe-Wort verdankt das Buch seinen Titel: Eine „Stapelstadt des Wissens und der Wissenschaft“ nannte Johann Wolfgang v. Goethe in einem Brief vom 29. Juli 1800 an Friedrich Schiller die Universitätsstadt Jena. Aber nicht um das an der Universität angehäufte Wissen, sondern um das städtische Umfeld der in Jena betriebenen Wissenschaft geht es in dem Buch, wie dessen Untertitel ausweist. Die Arbeit – eine philosophische Dissertationsschrift von 2005/06 – reiht sich in die Forschungsergebnisse ein, die aus dem im Jahre 1998 gegründeten Jenaer Sonderforschungsbereich „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ bereits hervorgegangen und als Publikationen im Anhang aufgeführt sind.
Den Leser erwartet eine stadtgeschichtliche Studie, in deren Mittelpunkt die Frage nach den typischen Merkmalen einer Universitätsstadt und deren Widerspiegelung am Beispiel Jenas steht. Den „Typus Universitätsstadt“ – ein zentraler Begriff der Arbeit – sieht Deinhardt dort verwirklicht, wo Stadt und Universität in einer Art Symbiose leben, also in ihrer Existenz aufeinander angewiesen sind. Die Universität ist für die städtische Einwohnerschaft der Haupterwerbszweig; von ihr leben Handwerker, Dienstboten, Gastwirte und Zimmervermieter. Im modernen Sprachgebrauch ausgedrückt: Die Universität ist der größte „Arbeitgeber“ und dominiert schon allein in dieser Eigenschaft die Stadt. Dieser Zustand wechselseitiger Abhängigkeit war freilich kein auf Jena beschränktes Charakteristikum, sondern – wie in universitätsgeschichtlichen Untersuchungen mehrfach beschrieben – im vorindustriellen Zeitalter für alle Städte, die eine Hohe Schule beherbergten, mehr oder weniger typisch.
Dieses symbiotische Verhältnis von Stadt und Universität setzte sich freilich nicht in einem ebensolchen Miteinander in rechtlicher, sozialer und gesellschaftlicher Beziehung fort. Wenn Deinhardt von den „beiden Welten Stadt und Universität“ spricht (S. 16), so ist damit bereits das Grundproblem ihrer Arbeit angedeutet. Stadt und Universität, beide korporativ verfasst, leben gewissermaßen in getrennten Welten, deren Grenzen sich nur zögerlich auflösen, ein Prozess, der über den Untersuchungszeitraum hinaus anhält. Zu diesem Befund gelangt die Verfasserin im Ergebnis der Untersuchung verschiedener städtischer Organisations- und Tätigkeitsfelder, das in fünf Kapiteln aufbereitet ist. Sie beinhalten unter nicht immer eindeutig formulierten Überschriften Darlegungen zur städtischen Bevölkerung, Sozial- und Wirtschaftsstruktur („Geteilte Lebensstrukturen – gemeinsame Lebensgrundlagen?“ - S. 23ff.) ebenso wie zur Entwicklung der städtischen Verfassung („Der Typus der Universitätsstadt – eine Besonderheit städtischer Verfassung?“ – S. 119ff.). In weiteren Kapiteln werden Gremien und Personen der städtischen Verwaltung („Die Stadt im Spannungsfeld von Interessen“, S. 153ff.), Finanzprobleme und Armenfürsorge („Themenfelder städtischer Politik“, S. 261ff.) sowie die wirtschaftlichen, verwandtschaftlichen und geselligen Beziehungen zwischen Stadt- und Universitätsbevölkerung („Die geteilte Gesellschaft? – Die Beziehungen zwischen ...“, S. 335ff.) behandelt. Über die Dominanz der Universität im Wirtschaftsleben der Stadt hinaus fördert die Untersuchung freilich kaum unverwechselbare Spezifika einer Universitätsstadt zutage. Geschuldet ist dieser Befund nicht etwa mangelnder wissenschaftlicher Umsicht oder Sorgfalt der Verfasserin, sondern vielmehr den reichlich herangezogenen und offenbar gründlich ausgewerteten Quellen selbst. Sie widerspiegeln die Jenaer Stadtgeschichte in der „Phase des Übergangs von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft“ (S. 5, 153) und damit den Beginn jenes langdauernden Prozesses, in dem die überkommenen korporativen Schranken zwischen Stadt und Universität sich erst allmählich auflösten. Wie schleppend dieser Prozess verlief, zeigt die städtische Verfassungsentwicklung zwischen 1810 und 1825. Nicht nur „blieb die Universität aus dem städtischen Verfassungsrahmen ausgeklammert“ (S. 152); selbst die Öffnung des Stadtbürgerrechts für Angehörige der Universität wurde wegen des damit drohenden Verlustes oder auch nur der Beschränkung akademischer Privilegien eher zögerlich angenommen und geriet „zu einem zentralen Streitpunkt zwischen Stadt und Universität“ (S. 137).
Ein Leitgedanke der Arbeit sollte es sein, die „Verwobenheit der beiden Welten Stadt und Universität“ zu hinterfragen (S. 16). Mit diesem Vorhaben stößt die Verfasserin freilich alsbald an die Grenzen, die durch die „administrativ wie juristisch separierte(n) Korporationen“ (S. 187) innerhalb der Stadt gezogen waren. So finden sich allenfalls punktuelle Aussagen zur Rolle von Universitätsangehörigen im sozialen Gefüge der Stadt, zudem meist dort, wo ihre Mitwirkung an städtischen Aufgaben staatlich angeordnet oder sonstwie nicht zu vermeiden war, wie z. B. im Rahmen der Polizeikommission (S. 186ff.) oder der städtischen Armenfürsorge (S. 284ff.). Dem Übergangscharakter des Untersuchungszeitraumes entsprachen auch die noch weitgehend an den überkommenen Korporationsgrenzen orientierten gesellschaftlichen Beziehungen innerhalb der Stadt. Zwar hatten die gemeinsamen Erfahrungen der napoleonischen Besetzung und der Befreiungskriege „den Wandel des Verhältnisses von Stadt- und Universitätsbevölkerung (beschleunigt)“ (S. 342), aber die sie trennenden korporativen Schranken bestanden prinzipiell fort. Durch „grenzüberschreitende“ Heiraten oder Patenschaften entstanden allenfalls „zaghafte Verbindungen“ (S. 347) zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen, und eine „gemeinsame Geselligkeit gab es am Ende des Untersuchungszeitraumes nur partiell“ (S. 364). Kurzum, es herrschten Verhältnisse, die mit dem Begriff der „geteilten Gesellschaft“ durchaus zutreffend erfasst sind.
Die Verfasserin konnte auf ein breites und solides Fundament stadtgeschichtlicher Forschung, auch zu Jena, zurückgreifen, deren Ergebnisse in die Arbeit eingeflossen sind. Sie selbst bereichert den vorgefundenen Forschungsstand (S. 17ff.) auf der Basis einschlägiger Archivalien von immerhin 7 staatlichen, Stadt- und Kirchenarchiven, vor allem des Stadtarchivs Jena. Ihre Erkenntnisse, z. B. über das Funktionieren städtischer Verwaltung in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts oder die Auseinandersetzungen um das städtische Bürgerrecht dürften über das Lokalkolorit Jenas hinaus für den Allgemein- wie den Rechtshistoriker gleichermaßen relevant sein.
Entgegen dem entsprechende Erwartungen weckenden Titel scheint die Universität Jena selbst in der Arbeit in den Hintergrund zu treten, doch erweist sich ihre integrative Behandlung, in die problembezogene Vergleiche mit anderen Universitätsstädten wie Göttingen oder Gießen eingebettet sind, letztlich als ein Gewinn für die Arbeit, wenngleich viele stadtgeschichtliche Details mitunter den Blick auf die Universität verstellen.
Alles in allem aber eine gelungene stadtgeschichtliche Studie, der ebensolche Nachfolger für andere Universitätsstädte zu wünschen sind.
Halle (Saale) Lieselotte Jelowik