Baumann, Anette, Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690-1806) (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich 51). Böhlau, Köln 2006. XII, 230 S. Besprochen von Filippo Ranieri. ZRG GA 126 (2009)
Baumann, Anette, Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690-1806) (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich 51). Böhlau, Köln 2006. XII, 230 S. Besprochen von Filippo Ranieri.
Die hier anzuzeigende Monographie befasst sich mit den sozialen Gruppen der Advokaten und Prokuratoren am Reichskammergericht während der Wetzlarer Phase dieser Reichsinstitution. Die Verfasserin, Leiterin der Forschungsstelle für Reichskammergerichtsforschung in Wetzlar, hatte bereits umfangreiche Vorarbeiten zum selben Thema publiziert. Man siehe etwa: A. Baumann, Anwälte am Reichskammergericht. Die Prokuratorendynastie Hoffmann in Wetzlar, 2001; A. Baumann, Das Reichskammergericht in Wetzlar (1693-1806) und seine Prokuratoren, in dieser Zeitschrift, Germ. Abt. 115 (1998), S. 474-497. Andere Studien hat die Verfasserin zur Frühphase der Tätigkeit des Reichskammergerichts veröffentlicht, etwa Advokaten und Prokuratoren am Reichskammergericht in Speyer (1495-1690): Berufswege in der frühen Neuzeit, in dieser Zeitschrift, Germ. Abt. 117 (2000), S. 550-563; A. Baumann, Die Prokuratoren am Reichskammergericht in Speyer und Wetzlar. Stand der Forschung und Forschungsdesiderate, in: A. Baumann und P. Oestmann u. a. (Hrsg.), Reichspersonal, Funktionsträger für Kaiser und Reich, 2004, S. 179-197. Schließlich sei von ihr noch Die Prokuratoren am Reichskammergericht in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens, in: B. Diestelkamp (Hrsg.), Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und in den ersten Jahrzehnten seines Wirkens (1451-1527), 2003, S. 161-196, erwähnt. Zum Thema, dem die vorliegende Monographie gewidmet ist, ist kürzlich ferner auch die Dissertation von Andreas Klass, Standes- oder Leistungselite? Eine Untersuchung der Karriere der Wetzlarer Anwälte des Reichskammergerichts 1693-1806, 2002, erschienen (siehe dazu die Stellungnahme des Rezensenten in dieser Zeitschrift, Germ. Abt. 120 (2003), S. 642-646). In einer Einleitung schildert die Verfasserin die Ziele der Untersuchung und beschreibt kurz die derzeitige Forschungssituation auf diesem Gebiet. Anschließend werden die Quellen, die herangezogen worden sind, aufgelistet. Im Vordergrund der Arbeit der Verfasserin stehen vor allem die Neuverzeichnungen der kammergerichtlichen Prozessakten, wo normalerweise auch die jeweiligen prozessualen Vertretungen der Parteien vermerkt werden. Auf dieser Grundlage lässt sich eine nicht vollständige, aber durchaus zuverlässige quantitative Vorstellung des jeweiligen Geschäftsanfalls der jeweiligen Anwaltskanzlei in Wetzlar gewinnen. Darüber hinaus sind eine Vielzahl von Wetzlarer Archivbeständen herangezogen worden, vor allem zur Familiengeschichte einzelner Anwaltsfamilien. Die Untersuchung selbst gliedert sich in zwei Abschnitte: Die Arbeit der Anwälte in einem ersten Teil und die Anwälte und das Schicksal des Reichskammergerichts in einem zweiten Teil.
Im ersten Abschnitt beginnt die Verfasserin mit einer kurzen Schilderung der Ausbildung der Advokaten und Prokuratoren. Hier konnte sie sich im Wesentlichen auch auf die bereits erwähnte Dissertation von Andreas Klass stützen. Erwähnenswert ist die Aufnahmeprüfung zur Zulassung als Anwalt an der Wetzlarer Instanz. Die Kandidaten hatten, übrigens ebenso wie die Präsentierten für das Amt des Assessorats, eine Aktenrelation anzufertigen und vorzutragen und sich einer allgemeinen und einer besonderen Prüfung zu unterziehen. Lesenswert sind die darauf folgenden Abschnitte über die Beziehungen der Anwälte zu ihrer Mandantschaft, und hier insbesondere über die Strukturierung der Mandantschaft bei den jeweiligen großen Wetzlarer Anwaltskanzleien. Es folgt eine Schilderung der Tätigkeit der Anwälte im Alltag. Hier stand insbesondere die Arbeit als Solicitanten und die Lehrtätigkeit bei der Juristenausbildung in Wetzlar, vor allem bei den Praktikanten am Reichskammergericht, im Vordergrund. Die Anwälte hatten bekanntlich die Schriftsätze anzufertigen. Die nach einer angemessenen Anwaltstätigkeit als Prokuratoren zugelassenen Anwälte durften auch am Gericht plädieren und trugen zudem die Verantwortung für die Prozessführung während des kammergerichtlichen Verfahrens. Am Beispiel der „Lütticher Affäre“ (S. 60ff.) macht die Verfasserin deutlich, dass die Anwälte am Reichskammergericht auch mit politischen und verfassungspolitischen Problemen im Rechtsleben des Alten Reichs befasst waren. Zugleich fungierten die Anwälte als Vermittler von Nachrichten und sonstigen Informationen für die Mandanten, und sie spielten als Prokuratoren eine nicht zu unterschätzende Rolle bei den Strategien zur Vorbereitung der Präsentationen für das Amt eines Kammergerichtsassessors. Der letzte Abschnitt des ersten Teils gilt der finanziellen Situation der Prokuratoren (S. 81ff.). Die Einkünfte der Prokuratoren unterlagen rigiden Vorschriften. Allerdings durften die gut platzierten Prokuratoren auch andere finanzielle Einkünfte erschließen.
Der zweite Teil konzentriert sich auf die soziale Stellung von Anwälten und Prokuratoren. Die Darstellung beginnt mit der Anfangsphase nach der großen Unterbrechung, die der Besetzung von Speyer folgte. Erst im Jahre 1693 beginnt die Etablierung des Gerichts in Wetzlar, wobei die Anfangsphase für das Gericht, aber auch für das Kameralpersonal, keinesfalls leicht war und durch zahlreiche Konflikte mehrfach zum Stillstand gebracht wurde. Insbesondere werden hier die Vorgeschichte und der Ablauf der großen Visitation des Gerichts zwischen den Jahren 1708-1711 sowie der sog. Pietismus-Streit geschildert. Erst nach der großen Visitation von 1711 erfolgte eine Phase der Konsolidierung und des Aufbaus auch der Wetzlarer Anwaltschaft. Es sind die Jahrzehnte, in welchen einige große Juristenfamilien sich in Wetzlar etablieren und große Kanzleien ihre Tätigkeit zunehmend entfalten. Erwähnt seien hier die Zwierlein und die zahlreichen Anwälte von Bostell. Diese großen Kanzleien hatten auch eine geradezu monopolartige Stellung bei den großen Mandaten, vor allem hinsichtlich der mächtigen Reichsstände. Die Schilderung der Verfasserin gilt hier insbesondere den jeweiligen Strategien zur Durchsetzung der jeweiligen Wirtschaftsinteressen dieser Kanzleien und dem sukzessiven Aufbau der Mandantschaft. Die soziale Stellung der Anwälte war in der Wetzlarer Zeit nicht zuletzt belastet durch die ungleiche Behandlung mit den übrigen Gruppen des Kameralpersonals. Waren im 16. Jahrhundert noch Anwälte und Assessoren am Speyerer Reichskammergericht in etwa als gleichwertig angesehen wurden, so entwickelte sich offensichtlich im Laufe der Jahrzehnte in Wetzlar eine eindeutige Ausdifferenzierung mit einer spezifischen sozialen Überlegenheit der Assessoren im Verhältnis zur Anwaltschaft. Die damit verbundenen Konflikte, die geradezu typisch sind für die ständische Gesellschaft der Zeit, charakterisieren die Wetzlarer Phase des Gerichts bis zu deren Ende. Die Anwaltschaft in Wetzlar war auch ein Kristallisationspunkt für das kulturelle Leben dieser kleinen Reichsstadt. Diesem spezifischen Aspekt gilt der dritte Abschnitt des zweiten Teils (S. 142ff.). Dies verstärkt sich offensichtlich nach der zweiten großen Visitation nach dem Jahr 1767. Es gibt sowohl bei Anwälten als auch bei Assessoren eindeutige Vertreter der Aufklärung und sogar einen Kreis von Freimaurern und Illuminaten. Einige Prokuratoren, aber eigentlich auch etliche der damaligen Assessoren, traten publizistisch mit Schriften zu Themen der Reichsreform hervor. Das Ende des Gerichts 1806, eine Zeit, die eigentlich historisch bereits mit dem Zusammenbruch des französischen Königreichs und mit den Auswirkungen der französischen Revolutionskriege auf das Reichsterritorium beginnt, stürzt nicht nur das Gericht, sondern auch und vor allem die Wetzlarer Anwälte und Prokuratoren in eine Existenzkrise. Das Wegbleiben der Mandate bedeutet zugleich den Zusammenbruch der finanziellen Existenz und einen nicht endenden Streit zwischen Anwälten und Assessoren um ihre Versorgung nach dem Sustentationsedikt. Zu diesem Thema aus der Warte der letzten Kameralassessoren liegt inzwischen die grundlegende Dissertation Erich Oliver Maders, Die letzten „Priester der Gerechtigkeit“. Die Auseinandersetzung der letzten Generation von Richtern des Reichskammergerichts mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, 2005, vor. Eine kurze Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse schließt die Untersuchung ab. Die Monographie wird mit einigen Anhängen abgerundet (S. 185ff.). Erwähnt seien hier die Tabelle der Prokuratoren, die in alphabetischer Reihenfolge mit Angaben zum jährlichen Mandatenzugang aufgelistet werden ebenso wie die Tabelle der Advokaten, die später keine Prokuratoren wurden. Eine umfangreiche Literaturliste und eine Auflistung der herangezogenen Quellen schließen die Arbeit ab.
Die soziale Gruppe der Anwälte und der Prokuratoren am Reichskammergericht bot, nicht zuletzt wegen der formalen Voraussetzungen für deren Zulassung und wegen der für diese Gruppe typischen sozialen Geschlossenheit, ein ideales Objekt für eine historisch-prosopographische Untersuchung. Die hier angezeigte Monographie leistet in der Tat auch eine wesentliche historische Analyse dieser Gruppe hinsichtlich ihrer sozialen Geschlossenheit und ihrer internen sozialen Dynamik. Recht aufschlussreich sind einige genealogische Tabellen, die die familiären Beziehungen der Anwaltsfamilien zueinander zeigen und zugleich die soziale Geschlossenheit der Gruppe bestätigen. Die Anwälte und die Prokuratoren in Wetzlar stehen im 18. Jahrhundert in einer Übergangsphase der Gesellschaft des Alten Reiches am Ende einer sozialständischen Epoche und unmittelbar vor dem bürgerlichen Aufbruch, welcher mit der französischen Revolution und mit der napoleonischen Zeit anfangen wird. Gerade in dieser Übergangszeit zeigt sich auch die Ambivalenz der sozialhistorischen Funktion des Reichskammergerichts in der letzten Phase seines Wirkens. Bei der Aufstellung der Tabellen werden auch das Repertorium der Juristen im Alten Reich erwähnt, das vor etlichen Jahren der Rezensent aus dem damaligen Frankfurter Dissertationenprojekt herausgegeben hat. Inwieweit diese Quelle der juristischen Dissertationen und Disputationen auch wirklich systematisch herangezogen wurde, lässt sich allerdings aus den Nachweisen nicht richtig ersehen. Alle diese Anwälte hatten eine Universitätskarriere hinter sich, und aus dem überlieferten Dissertationen- und Disputationsmaterial ist eine Vielzahl von Informationen – nicht nur über die Studienorte, sondern auch über die jeweiligen juristischen Interessen während der Studienzeit – zu gewinnen. Neben der am Anfang erwähnten Dissertation von Andreas Klass liefert die hier vorliegende Monographie eine vorzügliche prosopographische Erschließung dieser Gruppe des Kameralpersonals in Wetzlar und insoweit einen durchaus wertvollen Beitrag zu einem Teilaspekt der Rechts- und Sozialgeschichte des Alten Reiches in seinen letzten Jahrzehnten.
Saarbrücken Filippo Ranieri