Höhlen, Kultplätze, sakrale Kunst. Kunst der Urgeschichte im Spiegel sprachdokumentierter Religionen, hg. v. Bosinski, Gerhard/Strohm, Harald. Fink, Paderborn 2016. 328 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Höhlen, Kultplätze, sakrale Kunst. Kunst der Urgeschichte im Spiegel sprachdokumentierter Religionen, hg. v. Bosinski, Gerhard/Strohm, Harald. Wilhelm Fink, Paderborn 2016. 328 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Seit 2008 organisiert der promovierte Religionswissenschaftler und Privatgelehrte Harald Strohm in Lindau am Bodensee Symposien für Religionsforschung, deren redigierte Tagungsbeiträge in Form mehrerer Sammelbände im Verlag Wilhelm Fink vorliegen. Das inhaltliche Spektrum erstreckt sich, chronologisch aufsteigend gereiht, von „Magie und Religion“ (Lindauer Symposium 2008 / publiziert 2010) über „Herrscherkult und Heilserwartung“ (2009/2010), „Echnaton und Zarathustra“ (2010/2012), „Orakel und Offenbarung“ (2011/2013) und den „Homo religiosus“ (2012/2014) bis hin zum Thema der vorliegenden Schrift, welche die Referate des vom 28. September bis 1. Oktober 2014 veranstalteten, sechsten Lindauer Symposiums versammelt. Ob die im Originalprogramm angekündigten Vorträge des spanischen Prähistorikers Pablo Arias-Cabal und des Leiters der Felsbildforschung der Forschungsstelle Afrika des Instituts für Ur- und Frühgeschichte der Universität Köln, Tilman Lenssen-Erz, entfallen mussten oder aus anderen Gründen nicht in den Druck gelangt sind, bleibt offen. Dem Geleitwort Gerhard Bosinskis folgend, finden sich inklusive der „Hinführung“ Harald Strohms, die den Versuch einer resümierenden Zusammenschau unternimmt, insgesamt zehn Fachbeiträge. Sie behandeln die Mythologie Eurasiens und der beiden Amerika (Michael Witzel, geb. 1943, Indologe, Harvard Univ., USA), Höhlen bei den Maya (Nikolai Grube, geb. 1962, Altamerikanist und Ethnologe, Univ. Bonn), Frauendarstellungen im späteiszeitlichen Europa (Gerhard Bosinski, geb. 1937, Prähistoriker, Univ. Köln), apotropäische Praktiken (Harald Floss, geb. 1960, Prähistoriker, Univ. Tübingen), Wandbilder in neolithischen Pfahlbausiedlungen des Bodensees (Helmut Schlichtherle, geb. 1950, Unterwasserarchäologe, Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart), Mütter im Mythos (Harald Strohm, geb. 1953), Lazarus resurrectus (Bernhard Lang, geb. 1946, katholischer Theologe, Univ. Paderborn), Betrachtungen zu Dostojevskijs „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ (Léon Wurmser, geb. 1937, Psychiater und Psychoanalytiker, West Virginia Univ. Charleston u. Univ. of Maryland, USA) sowie Bekehrung im vorgeschichtlichen Iran (Helmut Humbach, geb. 1921, Indogermanist, Univ. Mainz).
Interdisziplinärer Austausch ist ein unverzichtbares Korrektiv jeder wissenschaftlichen Tätigkeit, denn nur so können eine Zersplitterung des Wissens und die Vergeudung wertvoller Synergien hintangehalten werden. In diesem Sinn versucht auch der vorliegende Band, die Auswertung der vom Jungpaläolithikum (um 40.000 v. Chr.) bis ins Neolithikum vorhandenen, schriftlosen Zeugen (Kult- und Begräbnisstätten, Bildwerke) mit den schriftgestützten, religionswissenschaftlichen Befunden der Folgezeit zu konfrontieren und aus dieser Zusammenführung neue Einsichten zu gewinnen. Besonderen Ertrag verspricht in diesem Kontext die nähere Betrachtung von Motivkonstanten, die gleichsam als räumliche wie zeitliche Universalien in der Geschichte des Menschen nachzuweisen sind. Oder, wie Harald Strohm formuliert: „Denn so wie sich in unseren Genpools und den weltweit verstreuten Sprachfamilien Geflechte kongruenter entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhänge ausmachen lassen: so auch in der Vielfalt der über die Erde verstreuten religiösen Kulte und Narrative“ (S. 28).
Gedanklich anschließend an die Beiträge Helmut Humbachs, Michael Witzels und Nikolai Grubes, vermutet Harald Strohm einen solchen Zusammenhang in den Mythen der „Verkehrten Welt“, der „Vorstellung, dass zu dieser, unserer Welt des Alltags, eine zweite und komplementäre Welt existiere, wobei sich die Komplementarität vor allem in ihrer Gegenläufigkeit zeige“ (S. 29), manifestiert in Himmel und Erde, im zyklischen Wechsel von Tag und Nacht, Sommer und Winter oder – bei Empedokles – von Hass (νεϊκος) und Liebe (φιλία). Kultisch reinszeniert und mit parodistischen Elementen angereichert, habe dieser Mythos Ausdruck im antiken Theater gefunden, aber ebenso in heutigen Karnevalsumzügen und sogar in christlichen Eucharistiefeiern und Prozessionen. Es scheine daher beides zu gelten: „(1) weisen die Fluchtlinien der global verstreuten Schöpfungs- und Verkehrte-Welt-Mythen in die Urzeiten des Paläolithiums zurück. Ihr Jahrtausende langes Überleben ist aber (2) dennoch nur denkbar, weil sie Generation für Generation einen gemeinmenschlichen ‚Nerv‘ trafen und, wie noch heute, so auch schon damals, spezifische seelische Schichten anrühren“. Daher müsse in der Ur- und Frühgeschichtsforschung „ernsthafter ins Kalkül gezogen werden, dass sich in den Höhlenmalereien, Gravuren, Statuetten und Grabbefunden […] nicht nur vorwissenschaftliche Formen der Welterklärung (und auch nicht nur schamanische Praktiken), sondern ‚irgendwie‘ sowohl solche Schöpfungs- als auch solche Verkehrte-Welt-Mythen widerspiegeln“, und das verlange „neue und diese Ergebnisse umsetzende Hypothesen [zu] formulieren“ (S. 42), wie es in den Beiträgen Gerhard Bosinskis, Harald Floss‘ und Helmut Schlichtherles im Ansatz geschehe. Die Gegenwelt erscheine dort in der Gestalt von Höhlen mit kaum passierbaren Eingängen, dominiert von Frauendarstellungen, aber auch von unfertigen Gebilden in einem möglichen Stadium embryonaler Entwicklung, sodass hier „Reinszenierungen von physischen Geburten […] wahrscheinlich“ seien, zumal „entsprechende Felshöhlen mit eben dieser Funktion auch aus der schriftgestützten Religionsgeschichte gut bezeugt sind“ (S. 46). Auch „die Verlebendigung der Welt und Natur sowie die Animalisierung des Menschen“ seien „gemeinmenschliche Phänomene und keineswegs nur Ausdrucksformen früherer oder gar ‚primitiver‘ Menschen“ (S. 47f.), wie nicht allein unsere rezenten, dem Tierreich entlehnten Kosenamen, sondern auch Schimpfwörter belegten.
Mit Blick auf die Ausführungen Bernhard Langs und Léon Wurmsers kommt Harald Strohm auch auf Platons berühmtes Höhlengleichnis zu sprechen. Bei Platon hätten die uralten Motive der Höhle, des Himmels und der Seele „substanzielle Bedeutungsverschiebungen“ im Sinn einer „Umwertung“ erfahren (S. 59): „Aus de[n] einst heiteren und lebensbejahenden Verkehrte-Welt-Mythen wurde nun eine pessimistische und Erlösung in eine transzendente Welt verheißende Religion, die schon bei Platon mit klaren Zügen des priesterlich Elitären, Dogmatischen und Inquisitorischen verquickt war“. Platons Staatsideen intendierten nach Erwin Rohde (1893) letztlich gar „die Aufhebung alles Lebens auf Erden“ (S. 60f.). Der Philosoph wurde damit zum – freilich selbst ambivalenten – Impulsgeber: „Platon und dem Platonismus sollten Prophetien folgen, die […] doch stets dasselbe verkündeten: Transzendenter Himmel mit ‚Wunderland‘, Hölle, berufene Seele, Jammertal… Die Sekten der Gnosis, der […] Manichäismus und auch der Islam wären hier zu nennen [,…] das Christentum“. In Letzterem sei „die Durchmischung des neuen Erlösungsglaubens mit ‚heidnischen‘ oder doch wohl richtiger: mit gemeinmenschlichen Motiven des Religiösen charakteristisch und konstitutiv“ geworden (S. 65), etwa in den Narrativen um Tod und Auferstehung mit zahlreichen Versatzstücken der altbekannten Schöpfungs- und Verkehrte-Welt-Mythen. Die Psychologie in der Tradition Sigmund Freuds wiederum sehe aus Platons Konzeption der autoritären Philosophenherrschaft Bedrohungen der menschlichen Psyche in Form von Überich-Asymmetrien erwachsen, denen über den Weg der Kunst therapeutisch begegnet werde – es sei nicht auszuschließen, so mutmaßt Harald Strohm, den Bogen schlagend, dass bereits den jungpaläolithischen Höhlenmalereien eine vergleichbare Funktion zugekommen sei.
Der mit zahlreichen Schwarzweiß-Illustrationen (Skizzen und Fotografien), Fußnoten und einem gemischten Register ausgestattete Band, dessen Herausgeber den Bekanntheitsgrad der Beiträger offenbar so hoch einschätzen, dass sie auf biographische Hinweise jeglicher Art verzichten zu können meinen, enthält keine expliziten Bezüge zur Rechtsentwicklung. Dennoch legt die enge historische Verbindung des Rechts mit dem Kultischen es nahe, die hier angedachten Gedankengänge zu rezipieren und unter dem Gesichtspunkt eines möglichen rechtsgeschichtlichen Ertrags zu reflektieren.
Kapfenberg Werner Augustinovic