Beckermann, Benedikt, Verfassungsrechtliche Kontinuitäten im Land Oldenburg – Entstehung, Strukturen und politische Wirkungen der Verfassung des Freistaates Oldenburg vom 17. Juni 1919 (= Schriften zum Landesverfassungsrecht 5). Nomos, Baden-Baden 2016. 529 S. Besprochen von Werner Schubert.
Beckermann, Benedikt, Verfassungsrechtliche Kontinuitäten im Land Oldenburg – Entstehung, Strukturen und politische Wirkungen der Verfassung des Freistaates Oldenburg vom 17. Juni 1919 (= Schriften zum Landesverfassungsrecht 5). Nomos, Baden-Baden 2016. 529 S. Besprochen von Werner Schubert. ZIER 6 (2017) 65. IT. 2016-11-21 erhalten 16243a
Die Verfassungen der Länder in der Weimarer Zeit weisen untereinander, aber auch gegenüber der Reichsverfassung Besonderheiten auf, die sich nur vollständig erfassen lassen, wenn die jeweilige Landesverfassung in einer eigenen Monografie erfasst wird. Da eine solche für die Oldenburger Verfassung vom 17.6.1919 bisher nicht vorlag (vgl. S. 25f.), ist es zu begrüßen, dass sich Beckermann dieser Thematik angenommen hat. Ziel der vorliegenden Arbeit Beckermanns ist es zunächst, die verschiedenen Themenfelder des Verfassungstextes (einschließlich wichtiger Teile des materiellen Rechts) „einheitlich umfassend darzustellen“ (S. 26). Um eine „fundierte Beurteilung“ der einzelnen Verfassungsgeschichte zu ermöglichen, setzt Beckermann diese zu den einzelnen Normen der Reichsverfassung und der übrigen Landesverfassungen in Beziehung (S. 26f.). Nach dem einleitenden Teil (S. 23-34) befasst sich Beckermann zunächst mit den verfassungsrechtlich bedeutsamen Aspekten des (Groß-)Herzogtums Oldenburg (S. 35-61). 1773 ging die Grafschaft Oldenburg an den Fürstbischof Friedrich August von Lübeck, der das Stammland der Herrscherfamilie (Eutin) mit dem Kernland vereinte. 1803 kamen im Zuge der Säkularisation das Oldenburger Münsterland (Vechta und Cloppenburg) sowie 1815 das Gebiet des linksrheinischen Fürstentums Birkenfeld an der Nahe hinzu. Gerne hätte man Näheres über die Zugehörigkeit Oldenburgs zum französischen Empire erfahren. Die Geschichte der Entstehung des Staatsgrundgesetzes von 1848 wird näher erläutert, das inhaltlich S. 42ff. im Einzelnen analysiert wird. Das 1852 revidierte Staatsgrundgesetz, das „trotz der im Verhältnis zur Verfassung von 1849 gemachten Rückschritte“ als liberal galt, blieb bis 1918 in Kraft (S. 44f.).
Der alte Landtag verabschiedete nach Bildung eines Direktoriums als Übergangsregierung (S. 52f.) Ende Januar 1919 ein Gesetz zur Wahl einer Verfassung gebenden oldenburgischen Landesversammlung, die am 23. 2. 1919 durchgeführt wurde. In der neuen Landesversammlung hatten die Parteien der sog. Weimarer Koalition eine Mehrheit von über 85% der Sitze (S. 57); fast die Hälfte der gewählten Männer war bereits Mitglied des vorrevolutionären Landtags gewesen.
In Teil C der Untersuchungen befasst sich Beckermann mit den Vorentscheidungen in Weimar (Freiräume und Grenzen der Verfassungsgestaltung in den Mitgliedstaaten; S. 63-83). Aufgrund der Homogenitätsklausel des Art. 13 WRV war der Spielraum für die Landesverfassungen zwar erheblich eingeschränkt; jedoch verblieb den Ländern noch ein nicht unerheblicher Bereich zur Ausgestaltung der Landesverfassungen. – Im umfangreichen Kapitel C behandelt Beckermann die Verfassung des „Freistaates Oldenburg“ (S. 85-323). Nach einem kurzen Überblick über die Entstehung der Verfassung vom 17. 6. 1919 (S. 85-89) werden die „Normen des Verfassungstextes, aber nicht zuletzt auch des einschlägigen weiteren materiellen Verfassungsrechts unter Anlehnung an die Systematik der Abschnitte des Verfassungstextes dargestellt und analysiert“ (S. 33). Nach einem kurzen Abschnitt über die Grundlagen der Verfassung analysiert Beckermann umfassend die Bestimmungen für den Landtag und das Staatsministerium als zentrale Organe der Verfassung (S. 91ff., 121ff.). Der Landtag hatte „eine im Ländervergleich eher schwache Stellung“ (S. 445). Das Quorum für die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses lag bei einem Drittel der Landtagsminderheit. Landtagsmitgliedschaft und Regierungsamt waren inkompatibel; jedoch hatten die Minister, die aus dem Landtag ausschieden, ein Rückkehrrecht. Ein Recht zur Gesetzesinitiative stand einer Minderheit des Landtags nicht zu. Im Übrigen konnte ein Gesetz nur erlassen werden, wenn das Staatsministerium einem vom Landtag verabschiedeten Gesetz zustimmte (§ 34 Abs. 3 der Verfassung). Versagte der Landtag dem gesamten Staatsministerium das Vertrauen, so hatte es zurückzutreten oder den Landtag aufzulösen (§ 40 Abs. 6 der Verfassung; zu dem gesamten Fragenkomplex erging 1925 eine Entscheidung des oldenburgischen Staatsgerichtshofs, S. 155ff.). Das Auflösungsrecht der Regierung ist im Hinblick auf den mit ihm verbundenen Stabilisierungseffekt als positiv anzusehen (S. 172ff., 448). Weitere Abschnitte des Teils D der Untersuchungen befassen sich mit dem Verhältnis von Kirche und Staat, den unbedeutenden Grundrechtsgewährleistungen, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Verwaltung, dem Verwaltungsaufbau, dem Staatsgerichtshof „als vernachlässigtes Verfassungsorgan“, der kommunalen Selbstverwaltung und dem Recht der Finanzen (Staatsgut und Haushaltsrecht). Erhebliche Kontroversen bestanden im Bereich des Schulwesens als Teil des Staatskirchenrechts. Der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen unter Aufsicht der Religionsgemeinschaften war weiterhin gewährleistet. Die nach Konfessionen getrennte Schulaufsicht und die konfessionelle Lehrerausbildung blieben bestehen, wurden jedoch verfassungsrechtlich nicht gewährleistet (S. 252ff.). Ein Volksvorschlagsrecht/Volksbegehren konnte bereits von 20.000 stimmberechtigten Landeseinwohnern in Gang gesetzt werden.
Im Abschnitt über die Verfassung in der Praxis (S. 325ff.) behandelt Beckermann zunächst die (unpolitischen) Beamtenkabinette von 1923 bis 1932. Die NSDAP, die in der Landtagswahl von 1931 die „mit Abstand stärkste Kraft“ wurde, stellte einen Misstrauensantrag, der mit den Stimmen der NSDAP, DVP und KPD angenommen wurde (S. 346). Gleichwohl blieb das Beamtenkabinett im Amt, da sich für eine Neuwahl des Ministerpräsidenten und für die Selbstauflösung des Landtags keine Mehrheiten fanden. Daraufhin kam es auf Initiative der NSDAP zu einer Volksabstimmung, die sich für die Auflösung des Landtags aussprach (S. 348f.). Bei den Wahlen vom 29. 5. 1932 erhielt die NSDAP die absolute Mehrheit im Parlament (24 von 46 zu vergebenden Sitzen; S. 349f.). Zusammen mit den Stimmen der DNVP und der LVP wurde daraufhin am 16. 6. 1932 Carl Röver zum Ministerpräsidenten gewählt (S. 351). S. 369 stellt Beckermann fest, dass Verfassungsinstrument der plebiszitären Landtagsauflösung sei „nicht von sich aus missbrauchsfällig, sondern nur dann, wenn es von seinen Verteidigern dem Missbrauch preisgegeben“ werde (S. 369). Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kam es im Zuge der Gleichschaltungsgesetze im April 1934 zum Verlust der Eigenstaatlichkeit Oldenburgs (S. 362 f.). Die neue „Verwaltungseinheit“ Oldenburg verlor durch das Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 die Landesteile Birkenfeld und Lübeck und erhielt als Ausgleich Wilhelmshaven (S. 364). Hierzu hätte man gern mehr über die Entstehung des Gesetzes aus oldenburgischer Sicht gelesen.
1946 erhielt Oldenburg einen von der Britischen Militärregierung eingesetzten Landtag, der alsbald eine vorläufige Verfassung aufstellte, die nur in Teilen von der Verfassung von 1919 abwich. Nicht mehr vorgesehen waren das Selbstauflösungsrecht des Landtags und „Elemente direkter Demokratie“ (S. 375f.). Mit einer Verordnung der Militärregierung wurde zum 1. 11. 1946 das Land Niedersachsen gegründet. Über die Entstehung dieser Verordnung sowie über das Verhalten der oldenburgischen Vertreter in den Verhandlungen über die niedersächsische Verfassung fehlen detailliertere Ausführungen (vgl. S. 377f.). Der Versuch, die Eigenstaatlichkeit Oldenburgs entsprechend Art. 29 GG a. F. wieder zu erlangen, scheiterte 1975 in einer Volksabstimmung (S. 379). Im Abschnitt über „Nachwirkungen“ oldenburgischen Verfassungsrechts befasst sich Beckermann ausführlich mit der Garantie der Bekenntnisschulen entsprechend Art. 31 Abs. 1 der niedersächsischen Verfassung, der die Fortgeltung des § 23 der oldenburgischen Verfassung von 1919 gewährleistete, jedoch 1969 aufgehoben wurde (S. 390). Im Abschnitt über die „oldenburgischen Bekenntnisschulen heute“ (S. 393-444) setzt sich Beckermann insbesondere mit den sog. Monopolbekenntnisschulen in Schulbezirken, in denen ausschließlich Schulen dieser Art bestehen, auseinander. Eine von ihm durchgeführte Umfrage unter den oldenburgischen Bekenntnisschulen hat ergeben, dass der „Konflikt zwischen Religionsfreiheit“ der Konfessionsfremden und dem Anspruch auf eine Bekenntnisschule „in der Praxis unterschiedlich gelöst werde: Entweder weichen konfessionelle Inhalte im Schulalltag immer weiter zurück, oder aber sie bleiben präsent und gefährden die Rechtsstellung der konfessionsfremden Schüler“.
Das Werk wird abgeschlossen mit einer Zusammenstellung der „zentralen Thesen, die sich aus den Untersuchungen ergeben“ (S. 445-451), mit dem Abdruck der Verfassung von 1919 für den Freistaat Oldenburg, der vorläufigen Verfassung von 1946 und den Ergebnissen der Umfrage unter den oldenburgischen Bekenntnisschulen im April 2014.
Die engagierte, immer gut lesbare Darstellung hätte noch an Farbe gewonnen, wenn Beckermann auf die Biografie der wichtigsten an der Ausarbeitung der Verfassung von 1919 sowie die Ministerpräsidenten der Weimarer Zeit näher eingegangen wäre. Mit den Untersuchungen Beckermanns liegt insgesamt ein grundlegendes Werk über das Verfassungsrecht Oldenburgs im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor unter besonderer Berücksichtigung der Verfassung von 1919 und damit ein Mosaikstein der Länderverfassungen der Weimarer Zeit vor.
Kiel
Werner Schubert