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Longerich, Peter, Wannseekonferenz. Der Weg zur „Endlösung“. Pantheon, München 2016. 221 S., Ill. Besprochen von Werner Augustnovic.

Longerich, Peter, Wannseekonferenz. Der Weg zur „Endlösung“. Pantheon, München 2016. 221 S., Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Im Jahr 2012 trafen sich anlässlich des 70. Jahrestages der Wannsee-Konferenz rund einhundert Teilnehmer in der heutigen Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, um im Rahmen einer Fachtagung den Stellenwert des seinerzeitigen, auf Staatssekretärsebene angelegten, etwa eineinhalbstündigen Koordinierungstreffens im historischen Kontext der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ zu diskutieren und zu klären. Die Erkenntnisse der Tagung wurden in einem Sammelband zusammengefasst, den Norbert Kampe und Peter Klein als Herausgeber unter dem Titel „Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Dokumente, Forschungsstand, Kontroversen“ (2013) publiziert haben. Hierin sind auch alle für den Vorgang wesentlichen Dokumente (das sind insgesamt 25 einzelne Zeugnisse mit der exklusiv überlieferten, 16. Ausfertigung des Konferenzprotokolls als Zentraldokument), kommentiert von Norbert Kampe und Bettina Stangneth, als Faksimile oder Abschrift abgedruckt. Die triviale, aber außerhalb der Fachkreise bis heute verbreitete Vorstellung, auf der Wannsee-Konferenz sei gleichsam die Vernichtung des europäischen Judentums beschlossen worden, war im Zuge der Fachtagung von 2012 längst kein Thema mehr, hatte doch die Forschung erwiesen, dass seit Kriegsbeginn bereits Hunderttausende Juden systematisch ermordet worden waren. Die Frage, welche Bedeutung der Wannsee-Konferenz dann tatsächlich zukomme, wurde von den Teilnehmern des Symposiums allerdings nicht einhellig beantwortet; je nachdem, welchen Tatsachen jeweils Gewicht beigemessen wurde, schwankte das Spektrum der Einschätzungen zwischen „gering“ (Andrej Angrick) und „wichtig“ (Jan Erik Schulte). Konstatiert wurde aber unter anderem, dass Reinhard Heydrich als Gastgeber diverse, in die Praxis der Judenvernichtung zentral involvierte Dienststellen aus dem Machtbereich seines Vorgesetzten, des Reichsführers-SS Heinrich Himmler, aus welchen Gründen auch immer nicht zur Konferenz eingeladen hat.

 

Nun greift der bekannte Holocaust-Forscher und Biograph von Hitler, Goebbels und Himmler, Peter Longerich, erneut diese Widersprüche auf, die er durch Integration in ein schlüssiges Gesamtbild aufzulösen versucht. Dazu bettet er die Wannsee-Konferenz ein in das Kontinuum nationalsozialistischer Unterdrückungs- und Vertreibungsmaßnahmen gegen die Juden von der Machtübernahme 1933 sowie der Einschaltung des Sicherheitsdienstes (SD) unter Heydrich ab 1937 bis zu der von ihm als signifikant erachteten Eskalation der Vernichtungspolitik im Frühsommer 1942. In diesem Kontext hält Peter Longerich die ursprünglich exklusiven Positionen von Intentionalisten und Strukturalisten für kompatibel: „Demnach ist der Holocaust nicht aufgrund einer einzelnen zentralen Entscheidung in Gang gesetzt worden, sondern er ist – im Rahmen einer langfristig orientierten, aber immer wieder Veränderungen unterworfenen antijüdischen Politik der Nationalsozialisten – das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses, in dem Hitler, die zentrale Führungsinstanz des ‚Dritten Reichs‘, im engen Zusammenspiel mit anderen Teilen des Machtapparates, schrittweise aus einer noch vagen Absicht zur Vernichtung der Juden ein konkretes Mordprogramm entwickelte und in Gang brachte. In diesem Entscheidungsprozess […] kommt dem Treffen der fünfzehn Männer am 20. Januar 1942 eine hohe Bedeutung zu“ (S. 13f.). Diese fünfzehn (vom Verfasser auch näher vorgestellten) Männer (Heydrich, Meyer, Leibbrandt, Stuckart, Neumann, Freisler, Bühler, Luther, Klopfer, Kritzinger, Hofmann, Müller, Eichmann, Schöngarth, Lange) als Repräsentanten der Zentralinstanzen im Reich, der zivilen Besatzungsbehörden im Osten und der Schutzstaffel, „zehn mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium, unter ihnen wiederum neun Juristen, von denen acht einen Doktortitel führten“, seien in Detailfragen zwar unterschiedlicher Meinung gewesen, doch keiner von ihnen habe Anstalten erkennen lassen, „das Gesamtprojekt, den Mord an elf Millionen Juden, infrage“ zu stellen (S. 8).

 

Heydrichs Sicherheitsdienst habe zunächst die Maßnahmen zur Vertreibung der als jüdisch definierten Bevölkerungsteile aus Deutschland über ein Konzept der Auswanderung systematisiert, das bis Kriegsbeginn etwa 250.000 Menschen zum Verlassen des Landes zwang. Nach Ausbruch des Krieges wurden radikalere territoriale Modelle favorisiert, die bereits das Sterben der betroffenen jüdischen Zielgruppe durch unwirtliche Existenzbedingungen einkalkulierten und billigend in Kauf nahmen: ein Judenreservat im Distrikt Lublin als Basis zur Weitervertreibung über die sowjetische Grenze, der Madagaskar-Plan und schließlich die Deportation in die Weiten der Sowjetunion nach dem bald erhofften „Endsieg“ - für Heydrich Grundlage seiner Planungen. Neben der von Hitler über Göring in seiner Funktion als Beauftragter für den Vierjahresplan zu Heydrich verlaufenden Befehlskette habe sich aber konkurrierend eine weitere herausgebildet, die von Hitler direkt zu Himmler verlief. Im Krieg gegen die Sowjetunion nur mit Vollmachten zur polizeilichen, aber nicht, wie erhofft, auch zur politischen Sicherung ausgestattet, kompensierte Himmler dieses Manko durch eine exzessive Auslegung seiner ihm als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) zugebilligten Kompetenzen über die ihm direkt unterstellten (Höheren) SS- und Polizeiführer ([H]SSPF). Aufgrund außenpolitischen Kalküls, vornehmlich um den zu erwartenden Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, sei Hitler von seiner ursprünglichen Absicht, Deportationen erst nach dem „Endsieg“ durchzuführen, aber abgegangen und habe bereits im September 1941 Weisung erteilt, „daß möglichst bald das Altreich und das Protektorat von Westen nach dem Osten von Juden geleert und befreit werden“ sollten (S. 34). Zwar sei weder diese Order noch seine später, nach erfolgter Kriegserklärung Deutschlands an die Vereinigten Staaten, am 12. Dezember öffentlich wiederholte Drohung, „Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muss die notwendige Folge sein“ (S. 58), nach Ansicht des Verfassers als „Bekanntgabe seiner ‚Grundsatzentscheidung‘ zur Ermordung der europäischen Juden zu sehen“ (S. 59), aber es sei „die weitere Entwicklung vorgezeichnet [gewesen], ohne dass für die Ermordung der europäischen Juden schon ein Gesamtplan oder eine fixe Zeitvorstellung vorlag“. Um Platz für die Deportierten zu schaffen, musste man sich zunächst der Juden im Osten entledigen; es etablierten sich Tötungszentren ebenso wie diverse Mordtechnologien (Gas) mit Himmler als Spiritus rector: „Sowohl in Lodz, in Riga wie in Mogilew ist die steuernde Hand Himmlers nachweisbar […]. Es war Himmler, der im September und Oktober 1941 den untergeordneten regionalen Organen eigene Initiativen zur Bewältigung ihrer jeweiligen ‚Judenfrage‘ abverlangte, steuernd eingriff und so die ihm angebotenen ‚Lösungen‘ wieder zu einer einheitlichen Politik zusammenführte. Diese Entwicklung entsprach exakt den Vorstellungen Hitlers, der mit seinen öffentlichen und internen Äußerungen die weitere Radikalisierung der ‚Judenpolitik‘ vorantrieb“ (S. 54ff.). Somit bestand „zum Jahresende 1941 […] Handlungsbedarf, die beiden Entwicklungslinien in der ‚Judenpolitik‘, für die die Namen Himmler und Heydrich standen, wieder zusammenzuführen“ (S. 56). Bekanntlich verstarb Reinhard Heydrich dann am 4. Juni 1942, viereinhalb Monate nach der Wannsee-Konferenz, an den Folgen eines auf ihn verübten Attentats. Damit sei auch sein „Konzept einer europäischen ‚Endlösung‘ im Rahmen eines Gesamtplans, vorzunehmen im Wesentlichen nach den Ende des Krieges, vorbehaltlich einer Genehmigung durch Göring, endgültig obsolet geworden. […] Nun […] hatte der Reichsführer SS, der bezeichnenderweise die Führung des RSHA [= Reichssicherheitshauptamts] selbst übernahm, völlig freie Hand: Er konnte die […] Deportationswellen in den verschiedenen Ländern, die Heydrich noch als ‚Ausweichlösungen‘, als Vorgriffe auf die ‚kommende Endlösung‘ bezeichnet hatte, zu einem europaweiten Mordprogramm weiterentwickeln, ohne […] auf die Position Heydrichs Rücksicht nehmen zu müssen“ (S. 152f.).

 

Aus dieser Gesamtkonstellation würden sich in Verbindung mit der von Peter Longerich vorgenommenen inhaltlichen Analyse des fünfzehn Seiten starken Protokolls im Hinblick auf die Einordnung der von Heydrich ursprünglich für den 9. Dezember 1941 anberaumten, dann auf den 20. Januar 1942 verschobenen Wannsee-Konferenz einige Ableitungen ergeben. Die Sonderstellung des Wannsee-Protokolls bestehe darin, dass hier gleichsam „eine Momentaufnahme eines im Wesentlichen im Verborgenen ablaufenden Entscheidungsganges vorliege“, in der „in kaum verklausulierter Form über einen Gesamtplan zur Ermordung der europäischen Juden gesprochen wurde, und zwar in einer Art und Weise, die deutlich macht, dass dieses Jahrhundertverbrechen über SS, Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst hinaus aktiv durch Reichskanzlei, Justiz, Innenministerium, Auswärtiges Amt, zivile Besatzungsbehörden, Vierjahresplan (also die oberste Instanz in der Rüstung) sowie Partei mitgetragen und mitverantwortet wurde“ (S. 9). Heydrich, der seine Federführung bei der Vorbereitung der „Endlösung“ hervorstrich, machte die hohe Ministerialbürokratie so offiziell zu seinen Komplizen. Das Fernbleiben enger Himmler-Vertrauter bedeutete nicht, dass dessen inzwischen Realität gewordener, den Konferenzteilnehmern sicherlich bekannter, in den Dienst des Krieges gestellter Radikalisierungsschub in der „Judenfrage“ außen vor blieb; Heydrich habe ihn integriert, indem er den Eindruck zu erwecken suchte, „die inzwischen in Gang gekommenen Deportationen und die hierauf in verschiedenen Regionen begonnenen oder vorbereiteten Massenmorde an einheimischen Juden seien Experimente, die sich in ein von ihm gesteuertes Gesamtprogramm zur ‚Endlösung‘ einfügten“ (S. 57). Aus den Zahlen der im Konferenzprotokoll enthaltenen statistischen Aufstellung über die Juden in den einzelnen Ländern (insgesamt über 11.000.000) ergebe sich noch „eindeutig: Bei der ‚Endlösung der europäischen Judenfrage‘ handelte es sich um ein Projekt, das in Gänze erst nach dem Ende des Krieges zu bewerkstelligen gewesen wäre“ (S. 103). Dessen ungeachtet leitete die Wannsee-Konferenz, so Peter Longerich, „eine Weichenstellung ein, in deren Verlauf das Wann, das Wie und das Wo der ‚Endlösung‘ neu bestimmt wurde. Die Vernichtung der europäischen Juden wurde nun zu einem Projekt, das nicht mehr in großen Teilen nach Kriegsende, sondern vollständig bereits während des Krieges durchgeführt werden sollte […,] nicht mehr in den besetzten sowjetischen Gebieten […], der Schwerpunkt wurde vielmehr in das besetzte Polen verlegt; statt die europäischen Juden durch katastrophale Lebensbedingungen und Erschießungen umzubringen, boten sich die verschiedenen, in den letzten Monaten (weiter)entwickelten Gasmord-Technologien an. […] Entschieden wurde die Frage, in welcher Form die ‚Endlösung‘ zu vollziehen war, nicht auf der Konferenz selbst, sondern in den folgenden Monaten“ (S. 129f.).

 

Viele der von Peter Longerich zu seinem Gesamtbild komponierten Gedankengänge gehen auf Erkenntnisse von Forschern wie Edouard Husson („Heydrich-Plan“) oder den bereits erwähnten Andrej Angrick (er hat darauf hingewiesen, dass Himmlers Höhere SS- und Polizeiführer und das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt in der Praxis der „Endlösung“ Heydrichs Reichssicherheitshauptamt überflügelten) zurück, wie im eingangs genannten Tagungsband von 2013 nachzulesen ist. Schlüssig erscheint die durch zahlreiche Vernetzungen belegte Beobachtung des Verfassers, dass Heydrich und Himmler auf verschiedenen Wegen an einer „Endlösung der Judenfrage“ arbeiteten; ein solches Vorgehen entspricht ganz dem üblichen Schema nationalsozialistischer Politik und auch Hitlers Führungsstil, nämlich Aufgaben von verschiedenen Institutionen parallel bearbeiten zu lassen und schließlich der radikalsten und effizientesten Lösung den Vorzug zu geben. Schwieriger bleibt hingegen – immer noch – die Beantwortung der Frage nach einer größeren oder geringeren Bedeutung der Wannsee-Konferenz. Außer Frage steht dabei der Wert des Protokolls als ein zentrales historisches Dokument, das die Judenvernichtung als staatlich sanktioniertes und koordiniertes Gesamtprojekt erkennen lässt; das offenbart, dass die Nazifizierung der Ministerialbürokratie zu jenem Zeitpunkt keineswegs nur eine oberflächliche sein konnte, sondern vielmehr eine ganz tiefgreifende gewesen sein muss, da von niemandem auf der Konferenz dem offenkundigen und unerhörten Vorhaben, sich der europäischen Juden über kurz oder lang durch Mord zu entledigen, die Unterstützung versagt worden ist. Wenn aber, wie der Verfasser immer wieder hervorhebt, Himmlers zum Zeitpunkt der Wannsee-Konferenz längst in Vollzug befindliches, radikales Agieren Heydrichs moderateren, auf einen längeren Zeithorizont ausgerichteten Planungen sowieso überlegen war, was hätte sich ohne das Wannsee-Treffen substantiell überhaupt geändert? War nicht Himmlers Zug schon zuvor längst auf Schiene, die letzte Konsequenz somit ohnehin nur mehr eine Frage der Zeit? Vielleicht werden uns einmal ergänzende, bislang noch nicht aufgefundene Quellen dahingehend näher Aufschluss geben können. Das letzte Wort in Sachen Wannsee-Konferenz mag so trotz der aktuellen verdienstvollen Darlegung Peter Longerichs wohl noch nicht gesprochen sein.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic