Heldmann, Konrad, Europa und der Stier oder der Brautraub des Zeus. Die Entführung Europas in den Darstellungen der griechischen und römischen Antike. V&R Academic, Göttingen 2016. 227 S., 7 Abb. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Heldmann, Konrad, Europa und der Stier oder der Brautraub des Zeus. Die Entführung Europas in den Darstellungen der griechischen und römischen Antike. V&R Academic, Göttingen 2016. 227 S., 7 Abb. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Wie der Verfasser in seinem kurzen Vorwort zutreffend betont, ist kein anderes Bildmotiv aus der Antike auch in einer breiteren Öffentlichkeit so bekannt wie Europa auf dem Stier. Dementsprechend gibt es in der wissenschaftlichen Literatur seit langem eine vorherrschende Deutung des zugrundeliegenden Geschehens. Demgegenüber vertritt der Verfasser die Ansicht, dass die antiken Erzähler und ihre Leser die Geschichte von der Entführung Europas in einem entscheidenden Punkt ganz anders verstanden haben, als dies in der modernen wissenschaftlichen Literatur dargestellt wird.
Der in Halle an der Saale 1940 geborene Autor wurde nach dem Abitur in Kassel und dem Studium der klassischen Philologie, Geschichte und Germanistik in Marburg, Heidelberg und Freiburg im Breisgau 1972 mit einer Dissertation über die Tragödien Senecas promoviert und nach einer Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent 1980 habilitiert. 1985 wurde er nach Kiel berufen und dort 2005 in den Ruhestand versetzt. In seinen verschiedenen Veröffentlichungen hat er sich vor allem mit der Redekunst, Homers Niederlage im Dichterwettstreit mit Hesiod, Sallust, Ovid und dem Selbstverständnis antiker Historiker befasst.
Die vorliegende Untersuchung macht es sich zur Hauptaufgabe, die Europa-Erzählungen von Hesiod bis Horaz aus der Perspektive eines Lesers zu untersuchen, der die Version Ovids noch nicht gekannt hat, um erst danach auf die narratologischen Mittel einzugehen, durch die Ovid der berühmten Geschichte einen anderen Sinn gibt, und abschließend einen Blick auf den spätantiken Epiker Nonnos zu werfen, in dessen Dionysiaka die Entführung Europas zum ersten und in der Antike einzigen Male zu einer Liebesaffäre des mit Hera verheirateten Göttervaters Zeus geworden ist. Gegliedert ist die sorgfältige, interessante Studie dabei in fünf Abschnitte über die Liebesleidenschaft des Götterkönigs und die Kränkungen Heras, den Brautraub in der Antike und ihrem Mythos, die Entführung Europas als Brautraub des Zeus, den Brautraub aus Liebeslust bei Ovid und die Theogamie des Zeus unter den Augen Heras. Insgesamt gelangt der Verfasser bei seiner Betrachtung der antiken Dichterwelt, in der viele Menschen viele Götter mit menschlichen Zügen kannten und die Verbindungen von Frauen und Männern noch weniger geregelt waren als im monogamischen Christentum, zu der Überzeugung, dass die Entführung Europas durch Zeus ursprünglich als Brautraub mit dem Ziel einer Eheschließung angesehen wurde, ohne dass die Hintergehung eine Ehefrau von irgendwelcher wesentlichen Bedeutung war.
Innsbruck Gerhard Köbler