Denzler, Alexander, Über den Schriftalltag im 18. Jahrhundert. Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776 (= Norm und Struktur 45). Böhlau, Wien 2016. 612 S. Besprochen von Bernd Schildt.
Denzler, Alexander, Über den Schriftalltag im 18. Jahrhundert. Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776 (= Norm und Struktur, Band 45), Böhlau Verlag Köln–Weimar–Wien 2016, 612 S.
Bei der hier zu besprechenden Arbeit Alexander Denzlers handelt es sich um dessen von Sabine Ullmann und Johannes Burkhardt betreute Eichstätter Dissertation aus dem Jahre 2013. Entgegen der bescheidenen Selbsteinschätzung des Autors als „Studie“ handelt es sich vielmehr um eine breit angelegte Untersuchung über die letzte, ein Jahrzehnt andauernde Visitation des Reichskammergerichts. Vor dem Leser wird eine ungeheure Materialfülle sowohl archivarischer Überlieferung als auch zeitgenössischen Schrifttums und moderner Forschungsliteratur ausgebreitet, was in einem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 489-562) gut dokumentiert ist. Denzler belegt damit aber keineswegs nur seine weit ausgreifende Belesenheit, wie das bei Graduierungsarbeiten gelegentlich vorkommen soll. Bei der Lektüre des Buches wird schnell deutlich, dass das Gelesene durchgängig auch inhaltlich verarbeitet worden ist. Der Verfasser versteht es auf bemerkenswerte Weise, das von ihm beigezogene Material scharfsinnig zu analysieren, aus seinen Untersuchungen Schlüsse zu ziehen und die Ergebnisse in einer die Wissenschaft bereichernden Art und Weise zu präsentieren. Man fühlt sich gelegentlich sogar in das zeitgenössische Visitationsgeschehen selbst hineinversetzt. Mag auch der Einstieg in die Lektüre des Buches wegen des teilweise doch recht barocken Stils der Darstellung und einer wohl (auch) daraus resultierenden etwas inflationären Verwendung von Fremdwörtern nicht unkompliziert sein, der Ertrag für den Leser lohnt die Mühe auf jeden Fall.
In einer ausgesprochen instruktiven Einleitung führt der Autor den Leser unter dem weit gefassten Gesichtspunkt „Über Schriftlichkeit in Vergangenheit und Gegenwart“ an sein Thema im engeren Sinn – nämlich die Visitation des Reichskammergerichts – heran. Erörtert werden methodische Zugänge, Quellen und Aufbau der Arbeit sowie deren Untersuchungsgegenstände und Forschungskontexte. Die Untersuchung selbst ist dann in fünf Kapitel gegliedert: A. Reformzeiten, B. Reformräume, C. Reformakteure, D. Reformverfahren und E. Reforminhalte. Diesem Schema folgt auch die ausführliche Zusammenfassung.
Dass Denzler nach eigenem Bekunden einen vornehmlich archiv-, verwaltungs- und kulturgeschichtswissenschaftlichen Zugriff auf sein Thema hat, lässt bereits ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis erahnen; nach der Lektüre des Buches ist man geneigt „sozialgeschichtswissenschaftlich“ zu ergänzen. Das zeigt sich besonders in den ersten drei Kapiteln, in denen die hier in erster Linie interessierenden rechtshistorisch relevanten Problemfelder und Fragestellungen konsequent im umfassenden Kontext des zeitgenössischen Alltags behandelt werden.
Im ersten Kapitel Reformzeit (S. 55-135) wird u. a. die Vorgeschichte der Visitation erörtert. In diesem Zusammenhang manifestiert sich das Grundverständnis des Autors zur Rolle und Bedeutung des Reichskammergerichts für die Reichsverfassung. Die Frage, warum „Kaiser, Kurfürsten, ‚mittlere und kleinere Reichsstände‘, Reichstag, Reichskammergericht und Medienöffentlichkeit“ unisono eine Visitation des Gerichts verlangten, beantwortet Denzler gut nachvollziehbar mit der Rolle der gemeinsamen Trägerschaft des Reichskammergerichts durch Kaiser und Reich und dem Umstand, dass „Recht und Politik in der Vormoderne keine getrennten Bereiche waren“ (S. 67f.).
Mit Blick auf die Reformräume (S. 137-208) geht Denzler von vier Reformsphären aus, unter denen er „erdgebundene Räume“ versteht, die „durch das Handeln von Personen einschließlich deren ortsübergreifende(r) Produktion, Distribution und Rezeption von Hand- und Druckschriften“ geprägt waren. Er sieht darin „verräumlichte Konkretisierungen bzw. Inszenierungen verfassungs- und rechtspolitischer Strukturen“. Sie bestanden in Wetzlar in Gestalt des Reichskammergerichts und der Visitation selbst, auf Reichsebene verkörpert von Kaiser und Reichstag und auf der territorialstaatlichen Ebene durch Landesherrschaft und Reichsstädte. Als eine vierte Reformsphäre – sui generis – versteht Denzler die Medienöffentlichkeit. Sie wird repräsentiert durch eine Vielzahl, die Visitation des Reichskammergerichts allgemein und konkret die laufende Visitation betreffender Druckschriften. Diese Strukturierung des Geschehens lässt sich gut nachvollziehen. Weniger überzeugend ist der weiterführend verwendete kleinteilige Begriff von „Reformräume“. Der Verfasser sieht in den Gesandtschaftsquartieren einen „verräumlichten ‚Vorbau‘ der im Visitationssaal geführten und protokollierten Beratungen“, weil bei den in den Quartieren gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten Vorgespräche stattfanden und „ein Großteil des überlieferten Schriftguts in den Unterkünften der Visitatoren seinen Ursprung nahm“ sowie darin, dass dort das für die Abfassung der Schriftstücke notwendige Material lagerte (S. 148). Welcher Erkenntniswert aus diesen eher banalen Sachverhalten erwachsen soll, erschließt sich dem Leser nicht.
Bei der Behandlung der Reformakteure (S. 209-286) folgt der Autor einem prosopographischen Ansatz. Jeweils an Hand von Einzelbiographien wird ein Gesamtbild der beiden wichtigsten „Akteursgruppen“ der Visitation – den 56 Visitatoren und den 87 Sekretären – erarbeitet. Das schließt die Vorkarrieren und die Nachkarrieren der ausgewählten Personen ein, wodurch sich der Blick weitet auf den Elitebegriff, der in der frühen Neuzeit nach Wolfgang Reinhard durch Verwandtschaft, Landsmannschaft, Freundschaft und Patronage bestimmt worden ist. Obwohl Visitatoren und Assessoren als Visitierende bzw. Visitierte auf verschiedenen Seiten des Visitationsgeschehens standen, werden sie zu Recht als (eine einheitliche) juristische Funktionselite verstanden, wobei in diesen Personenkreis auch die Prokuratoren/Advokaten mit einzubeziehen wären. Eine eigene „Schreibelite“ bildeten die juristisch geschulten Sekretäre, denen 28 namentlich benannte Kanzlisten und eine Vielzahl namenloser Kopisten nachgeordnet waren. Ergänzend zu den Einzelbiographien vervollständigen – allerdings sehr unterschiedlich zu gewichtende – statistische Überlegungen das jeweilige Gruppenprofil.
Mit Blick auf das Reformverfahren (S. 287-394) widmet Denzler sich zunächst den drei symbolhaften Handlungen der feierlichen Eröffnung im Namen von Kaiser und Reich in Wetzlar, der Verfahrensunterwerfung der Gerichtsangehörigen und der Verpflichtung von Visitatoren, Sekretären und der Kameralen zur Geheimhaltung nach außen. Von zentraler Bedeutung für das Verfahren waren die Visitations- und Examensprotokolle, in denen sich die Resultate des traditionellen Umfrageverfahrens bzw. der Examinierung des Gerichtspersonals widerspiegeln. Insbesondere die Visitationsprotokolle will der Verfasser um die nicht protokollierten „informellen Gespräche“ und mündlichen Austauschprozesse im Plenum ergänzt wissen. Daraus eine besondere „verfahrensrelevante Umwelt“ und zugespitzt eine „begriffliche Neuschöpfung“ in Gestalt einer „Verfahrenswelt“ zu kreieren übersieht, dass jedwede schriftliche Protokollierung vergleichbarer anderer historischer wie aktueller Vorgänge inhaltliche Verkürzungen des Gesamtgeschehens zur Folge hat. Nicht mehr nachvollziehbar ist der daraus gezogene Schluss, dass der „Forscher gleichsam als Akteur d(ies)er ‚Verfahrenswelt‘ mitzubedenken ist“ (S. 479). Bedenkenswert ist indes der neue, für Denzler maßgebliche Erklärungsansatz für das Scheitern der Visitation. Danach habe sich das Verfahren selbst diskreditiert, „indem es dem nach Rationalität strebenden Reformcredo der Zeit widersprach.“ Festgemacht wird dieser Befund an dem in den Visitationsakten immer wiederkehrenden „diskreditierenden Schlüsselwort“ – ‚Weitläufigkeit‘. Sofern man diesen Ansatz nicht in monokausalem Sinn sondern komplementär zu den politischen und konfessionellen Konfliktlagen im Alten Reich und dem preußisch-österreichischen Dualismus versteht, ist dem sicher zuzustimmen.
Die Ausführungen zu den Reforminhalte(n) (S. 395-464) beginnen mit einer quantitativen Auswertung des Visitationsgeschehens, die auf einem wohl erst kurz nach der Visitation in Mainz angelegten Verzeichnis basiert. In ihm werden auf rund 1.000 Folioseiten insgesamt 159 Beratungsgegenstände in alphabetischer Ordnung aufgeführt, die Denzler systematisch geordnet hat. Dabei entfallen 54 % des Seitenumfangs der Verzeichnung auf das Personalwesen und immerhin 17 % betreffen die Organisation der Visitation selbst. Im Vergleich mit den anderen Arbeitsfeldern wie Organisation des Reichskammergerichts (7 %), Gerichtsverfahren (9 %), Visitation als Rechtsinstanz (3 %), Finanzwesen (3 %) und Kameralgesetze (2 %) wird deutlich, dass sich die Visitation in ganz erheblichen Umfang mit sich selbst beschäftigt hat.
Im Schwerpunkt dieses Kapitels geht es dann um das Grundanliegen der Visitation, nämlich um „das Streben nach einer schnelleren Justiz“ (S. 409-437). Die ‚Unordnung der Gerichtsakten‘ sowie die ‚Weitläufigkeit'‘des Verfahrens, insbesondere die ‚zeitliche Unordnung der Arbeits- und Ferienzeiten‘ werden als maßgebliche Gründe für die allseits beklagte schleppende Prozessführung des Gerichts ausgemacht. Unter der Überschrift „Korruption und Reputation“ erörtert Denzler am Fall des Sollicitanten Nathan Aaron Wetzlar auch grundsätzliche Fragen zur Bestechlichkeit von Richtern im allgemeinen und die am Reichskammergericht gängige Praxis der Parteien oder ihrer Vertreter im Wege des Sollicitierens die Erledigung ihrer Prozesses mittels außergerichtlicher Einflussnahme auf das Gerichtspersonal zu beschleunigen im besonderen. Die Sollicitatur als fester Bestandteil des Gerichtsalltags bewegte sich in einem rechtlichen Graubereich und nicht selten im Grenzbereich zwischen korrektem und korruptem Verhalten. Ihre Wirkungen waren insoweit durchaus ambivalent: einerseits konnten die Parteien nur so den Fortgang ihres Prozesses effektiv beeinflussen und andererseits eröffneten sich zahlreiche Missbrauchsmöglichkeiten bis hin zur Korruption.
Die Zusammenfassung (S. 465-483) leistet das was der Leser erwarten darf, sie fasst den wesentlichen Inhalt und die Ergebnisse des Buches in angemessen komprimierter Form zusammen. Allerdings lassen manche Formulierungen den Leser auch etwas ratlos zurück. Kann man wirklich so allgemein sagen, dass „das vielgliedrige Reich mit der letzten RKG-Visitation seine schriftbasierte Erfüllung fand“ (S. 481)? Missverständlich ist auch die Aussage, dass sich von der hier behandelten „Visitation weitaus mehr Akten erhalten haben als von den vorangegangenen Visitationen“ (S. 465 u. ä. S. 483). Gemeint ist doch wohl eher die zeitgenössische Aktenproduktion und nicht etwa die spätere Aktenüberlieferung in den einschlägigen Archiven.
Bereichert wird die bemerkenswert geistvolle Arbeit Alexander Denzlers durch den abschließenden, ausgesprochen instruktiven siebenteiligen Anhang (S. 563-604). Er gewährt einen Überblick über Kosten und Abläufe des Visitationsgeschehens sowie vor allem über die handelnden Personen der Visitation, die darüber hinaus im abschließenden Personenverzeichnis in ihren jeweiligen Kontexten (S. 605-612) verortet sind.
Jatznick Bernd Schildt