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Weinke, Annette, Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit. Transnationale Debatten über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 19). Wallstein, Göttingen 2016. 372 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

Weinke, Annette, Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit. Transnationale Debatten über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 19). Wallstein, Göttingen 2016. 372 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Jedem, der sich mit der justiziellen Aufarbeitung der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt, wird der Name Annette Weinke wohlvertraut sein. Die 1963 in Kiel geborene Wissenschaftlerin, die derzeit als Assistentin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Jena lehrt, hat schon mehreren einschlägigen Gremien als Expertin angehört und sich mit sachkundigen Publikationen einen Namen gemacht. So wirkte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der „Arbeitsgruppe Regierungskriminalität“ der Staatsanwaltschaft II am Landgericht Berlin (1993 – 1996), bei der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart unter Klaus-Michael Mallmann (2006 – 2008) und zuletzt unter Norbert Frei in der Unabhängigen Historikerkommission zur Geschichte des Auswärtigen Amtes in der Zeit des Nationalsozialismus und der Bundesrepublik (2006 – 2010). Ihre schriftlichen Arbeiten befassen sich mit der Geschichte der Verfolgung von nationalsozialistischen Tätern im geteilten Deutschland (2002; hervorgegangen aus ihrer 2001 bei Christoph Kleßmann in Potsdam approbierten Dissertation), der Inszenierung des Rechts in der Deutschen Demokratischen Republik im Rahmen von Schau- und Medienprozessen sowie von Prozessfilmen (Herausgeberin 2006), der Nürnberger Prozesse (2006) und der Zentralen Stelle Ludwigsburg (2008). Mit ihrer jüngsten Publikation wurde die Verfasserin 2014 an der Philosophischen Fakultät der Universität Jena habilitiert.

 

Der Schwerpunkt des wissenschaftlichen Interesses Annette Weinkes liegt somit in der Verschränkung geschichtswissenschaftlicher, juridischer und gesellschaftspolitischer Diskursräume in Auseinandersetzung mit den Akten obrigkeitlicher Gewalt, die im 20. Jahrhundert von deutschem Boden ausgegangen und/oder dort ausgeübt worden sind (Völkerrechtsverletzungen im Ersten Weltkrieg, Verbrechen des Nationalsozialismus, Systemunrecht der Deutschen Demokratischen Republik). Im Hintergrund steht dabei stets die Frage nach den Kausalitäten im Zusammenhang mit der Ausbildung des humanitären Völker(straf)rechts und dem Bedeutungszuwachs der Menschenrechte, ein, wie sie zeigen kann, komplexer und keineswegs linear ablaufender Prozess. Der Verfasserin zufolge sei das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sich herausbildende „humanitäre (Kriegs-)Völkerrecht schon frühzeitig zu einem Katalysator für kontroverse gesellschaftliche Gewaltdebatten“ geworden. Blicke man auf die „gewachsene Bedeutung, die das Recht während des 20. Jahrhunderts bei der Bewältigung mehr oder weniger krisenhafter Umbruchsituationen erhielt“, sei festzuhalten, „dass dem weder eine geradlinige Entwicklung noch ein einheitlicher, quasi zeitloser Rechtsbegriff zugrunde lagen. Anzunehmen ist vielmehr, dass es oftmals gerade die Vieldeutigkeiten und Unbestimmtheiten des rechtlichen Instrumentariums waren, die sich in besonderer Weise für normative Zuschreibungen und ideologische Aufladungen eigneten. Diese ließen es nicht nur zu einer Ressource im tagespolitischen Streit, sondern auch zu einem Vehikel im Kampf um die öffentliche Meinung werden. In dem zu beobachtenden verstärkten Rückgriff auf die Sprache des Rechts artikulierten sich nicht nur machtpolitische Verschiebungs- und Aushandlungsprozesse, sondern in der Regel war damit auch ein Wandel von ordnungs- und moralpolitischen Vorstellungen verbunden, die in Reaktion auf einen als grundlegend empfundenen historischen Bruch erfolgten. Dem stand allerdings noch ein anderer Gebrauch des Rechts gegenüber, der Vorstellungen von Kontinuität im Sinne einer zu bewahrenden Identität und Tradition erzeugte“ (S. 15f.). Diese nicht einfache Materie stellt bei der Lektüre erhöhte Ansprüche an die Aufmerksamkeit des Lesers. Durch eine klare Gliederung ihrer Argumentation – vier chronologisch fortschreitende Themenblöcke warten mit je eigenen Zwischenbilanzen auf und sind als Ganzes eingerahmt von einer Einleitung sowie dem finalen Resümee – sorgt die Verfasserin für die notwendige Orientierung in ihrer Darstellung.

 

Unter der Überschrift „Den Haag – Versailles“ geht es zunächst um die Entwicklung des Völkerstrafrechts vor dem Ersten Weltkrieg bis zu den Verantwortungsklauseln des Versailler Vertrages sowie um die involvierten internationalen und nationalen Akteure aus (Rechts-)Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit und ihre von unterschiedlichen Interessen abhängigen Positionen. So wird beispielsweise Max Webers Verhalten als führender Kopf des sogenannten Heidelberger Kreises im Rahmen der Auseinandersetzungen um die deutsche Kriegsschuld folgendermaßen charakterisiert: „Letztlich handelte es sich bei der Rolle, die das Auswärtige Amt und andere Reichsbehörden in der Frage deutscher Kriegsverbrechen spielten, um eine klare Kompetenzüberschreitung des alten Fachbeamtentums auf Kosten der Politik. […] Das Problem der Weber’schen Intervention lag vor allem darin, dass er sich – wissentlich oder unwissentlich – zum Fürsprecher des autoritären Verwaltungsstaates machte, indem er die Legitimation der Übergangsregierung zur Lösung eines zentralen politischen Problems nachhaltig bestritt. Auch trug er zur weiteren Polarisierung der öffentlichen Debatte bei, indem er die zuständigen Politiker als ‚schwache Naturen‘ desavouierte und sie außerdem des Verrats an öffentlichen Interessen bezichtigte. […] Durch seinen polemischen Vorstoß in der Kriegsschuldfrage übernahm er nicht nur die semantischen Zuspitzungen der Ministerialbürokratie, sondern unterstützte auch deren konfrontative, überwiegend apologetische Gegenpolitik, welche die tastenden Versuche der ersten Weimarer Reichsregierungen auf kritische Selbstbefragung offen in Frage stellte“ (S. 85f.). Daneben sei ebenso die „junge deutsche Völkerrechtswissenschaft durch ihre Mitarbeit an der semi-offiziellen Kampagnenarbeit frühzeitig mit dem ‚Weimarer Revisionssyndrom‘ (Michael Salewski) infiziert“ worden (S. 107).

 

Der zweite, „Washington – Nürnberg – Bonn“ betitelte Abschnitt ist der nationalsozialistischen Herrschaft gewidmet. Mit deren Grundlagen hätten sich schon während des Zweiten Weltkriegs zwei Gruppen befasst: „Zum Ersten europäische und amerikanische Vertreter der völkerrechtswissenschaftlichen community und der internationalen Friedensbewegung, die sich für die Kriminalisierung von Angriffskriegen und eine juristische Bewertung typisch nationalsozialistischer Verbrechen einsetzten; zum Zweiten jene rassisch Verfolgten und jüdischen legal think tanks, die sich – nicht selten im Hinblick auf spätere Wiedergutmachungsforderungen und strafrechtliche Ermittlungen – darum bemühten, die weit verstreuten Berichte über nationalsozialistische Gewalttaten zusammenzutragen und für die Nachwelt zu erhalten“. Im Umfeld der Nürnberger Prozesse sei es ihnen um „adäquate juristische, historische und moralische Antworten“ gegangen. So lagen „(d)en Anklageerhebungen in Nürnberg neben spezifischen Rechtsfiguren auch bestimmte Interpretationen des NS-Regimes zugrunde, die die Verteidiger […] teilweise aufgriffen und mit neuen Bedeutungszusammenhängen versahen. Spätestens nach Gründung der Bundesrepublik entstand daraus ein fester Kanon an abrufbaren Geschichtsbildern und nationalapologetischen Narrativen, die dazu dienten, die (West-)Deutschen zu Opfern einer menschenrechtswidrigen ‚Siegerjustiz‘ zu stilisieren. Neben diesem wirkmächtigen Anti-Nürnberg-Diskurs bildete sich jedoch ein weiterer Diskussionsstrang heraus, der darauf zielte, die Bundesrepublik auf internationaler Ebene als Unterstützerin des Menschenrechtsgedankens zu profilieren“ (S. 108f.). Besonders erwähnenswert sind in diesem zweiten Abschnitt vor allem zwei Punkte: Zunächst einmal Annette Weinkes kritische Würdigung der Zusammenarbeit namhafter exilierter Sozialwissenschaftler der Frankfurter Schule mit der US-amerikanischen Kriegsbürokratie im Rahmen des Research and Analysis Branch des Geheimdienstes Office of Strategic Services (OSS). Hier kann sie aufzeigen, dass Franz Leopold Neumann, prominenter Verfasser des „Behemoth“ (1942), einer grundlegenden frühen Analyse der NS-Herrschaft, sowohl nationalkonservative als auch liberale Völkerrechtsideen ablehnte, da er in ihnen eine Aushöhlung der Staatensouveränität ortete, indem sie den Staatsbürger, der zugleich zum Völkerrechtssubjekt erklärt werde, in seiner Loyalität spalteten. Der zweite Punkt betrifft das Auftreten des Völkerrechtlers Hermann Jahrreiß als Verteidiger in Nürnberg, anhand dessen Beispiel sich zeigen lasse, „dass dessen akademische Vorprägungen nicht nur zur Herausbildung eines spezifischen Verteidigungsstils führten, sondern auch die inhaltliche Ausrichtung seiner Arbeit stark beeinflussten“ (S. 146). Dem Beitritt der Bundesrepublik zur Völkermordkonvention, mit dem das Großkapitel schließt, schreibt die Verfasserin in erster Linie symbolpolitische Bedeutung zu.

 

Der dritte Themenblock „Bonn – Ludwigsburg – Jerusalem“ fragt nach den Wegen, die beim Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit von der Bundesrepublik eingeschlagen worden sind. Hier habe bis in die sechziger Jahre der „Blick aus der Vogelperspektive, der die verschiedenen Verbrechen als Konsequenz staatlicher Politik und eines langfristig angelegten Plans beschrieb, […] alle frühen Interpretationsansätze zum Dritten Reich“ beeinflusst, „auch wenn sich die deutschen Eliten zu diesem Zeitpunkt bereits zunehmend von den edukatorischen Ansätzen der amerikanischen Strafverfolgung abzugrenzen suchten“ (S. 233). Die noch junge historische Disziplin der Zeitgeschichte, institutionalisiert im Münchener Institut für Zeitgeschichte (IfZ), zog zunächst überwiegend Material der Nürnberger Prozesse heran und etablierte auf dieser Grundlage eine intentionalistische Interpretation des Nationalsozialismus, die über Sachverständigengutachten wiederum „Eingang in zahlreiche unter- und oberinstanzliche Gerichtsurteile“ fand und „eine wesentliche Grundlage für die bundesdeutsche Gehilfenrechtsprechung“ darstellte: „Bis in die achtziger Jahre war daher die Wahrnehmung des Holocaust dadurch geprägt, dass sich Historie und Strafjustiz in ihrer verengenden Sicht auf das Mordgeschehen wechselseitig verstärkten“ (S. 235).

 

Der Band schließt mit dem vierten und letzten Teil, der unter dem Titel „Salzburg – Bonn/Berlin“ eine Brücke zum Ende des Ost-West-Konflikts 1989 schlägt und, ausgehend von Samuel P. Huntingtons „The Third Wave“ (1991), insgesamt eine Bestandsaufnahme und Historisierung der Transitional Justice-Forschung vornimmt. Dabei handelt es sich um ein Ende der 1970er-Jahre in Amerika entwickeltes „catch-all-Konzept, das menschenrechtlichen Aktivismus und wissenschaftliche Politikberatung miteinander verband [… und] stark auf rechtliche Aufarbeitungsformen (setzte): Neben der Bestrafung justiziabler Handlungen umfasste dies auch all jene juristisch-administrativen Prozesse, die auf Opferentschädigung und die Rückübertragung von geraubtem Eigentum nach einem Systemwechsel zielten. Mit der Etablierung eines komparativen Forschungsdesigns, der Schaffung eines Pools an bestimmten Instrumenten (Strafprozesse, Wahrheitskommissionen) und der Herausbildung eines eigenen Fachjargons (Wahrheit, Versöhnung, Gerechtigkeit) beeinflusste die Transitologie auch die Diskussionsprozesse in den postkommunistischen Staaten Ostmitteleuropas“. Im Zusammenhang mit der Aufarbeitungsidee der beiden Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestags seien transitologische Einflüsse erkennbar, doch sei für die deutschen Verhältnisse nach 1989/1990 „symptomatisch, dass man zwar gewisse Formen der Transitologie für sich adaptierte, deren utopistisch-emanzipatorische Wurzeln jedoch beim Umgang mit der DDR-Vergangenheit zusehends in Vergessenheit gerieten“ (S. 313ff.).

 

Annette Weinkes Habilitationsschrift fügt sich nahtlos ein in die Reihe ihrer bisherigen, stets fachlich anspruchsvollen und mit Sorgfalt lektorierten Publikationen. Die aktuelle Arbeit stellt für die rechtshistorische Forschung einen erheblichen Gewinn dar, indem es ihr gelingt, im Interpretationsrahmen der deutschen Gewaltgeschichte im 20. Jahrhundert anschaulich die Funktion jener transdisziplinären, national wie über staatliche Grenzen hinweg wirkenden Vernetzungen zu beschreiben, die sowohl die jeweiligen Fachdiskurse als auch die Praxis der Rechtsanwendung wie der Zeitgeschichtsforschung und nicht zuletzt die Entwicklung des humanitären Völkerrechts nicht linear, sondern in vielfältiger Wechselwirkung gehemmt oder vorangetrieben haben.

 

Kapfenberg                                                               Werner Augustinovic