Misselwitz, Frederike, Marie Luise Hilger. Zum Leben und Wirken einer Arbeitsrechtlerin im 20. Jahrhundert (= Schriftenreihe Deutscher Juristinnenbund e. V. 5). Nomos, Baden-Baden 2016. 784 S. Besprochen von Werner Schubert.
Misselwitz, Frederike, Marie Luise Hilger. Zum Leben und Wirken einer Arbeitsrechtlerin im 20. Jahrhundert (= Schriftenreihe Deutscher Juristinnenbund e. V. 5). Nomos, Baden-Baden 2016. 784 S. Besprochen von Werner Schubert.
Marie Luise Hilger (1912-1996) hatte in der nationalsozialistisch beherrschten Zeit das Referendarexamen und das Assessorexamen abgelegt, war die dritte in Deutschland habilitierte Juristin und die zweite Richterin und die erste Vorsitzende Richterin am Bundesarbeitsgericht. Schon aufgrund dieser Daten ist es zu begrüßen, dass sich Misselwitz der Biografie dieser bedeutenden Arbeitsrechtlerin der frühen und mittleren Bundesrepublik in ihrer Dissertation (Jena) angenommen hat. Am „Beispiel von Marie Luise Hilgers Werdegang“ zeigt Misselwitz „das selten diskutierte Verhältnis zwischen Biografie, Geschlecht und Recht“ auf und setzt „Entwicklungslinien in Wissenschaft und Rechtsprechung in einen Kontext mit den an ihnen beteiligten Persönlichkeiten“ (S. 29). Ihre Ausführungen bewegen sich stets zwischen zwei Ebenen: „der allgemein-historischen und der individuell-persönlichen“ (S. 35). Ziel der Untersuchungen war es, „beide Ebenen zu verbinden und dabei die feststehenden historischen Gegebenheiten den persönlichen Erfahrungen von Marie Luise Hilger gegenüber zu stellen“ (S. 35). Nach der Einleitung (S. 27ff.) behandelt Misselwitz in vier Abschnitten die Familie, die schulische Ausbildung, die Fremdsprachenausbildung und das Studium Hilgers (S. 39-263). Nach der Übersiedlung ihrer Familie von Bremen nach Heidelberg im Jahre 1920 legte sie 1930 die Abiturprüfung ab. Nach Abschluss einer Dolmetscherausbildung in Französisch an der Handelshochschule Mannheim studierte Hilger zunächst drei Semester Volkswirtschaft an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg. Im Herbst 1933 erhielt sie ein Stipendium des DAAD für London, wo sie als Lehramtsassistentin an einer Londoner Schule tätig war, und nahm im Wintersemester 1934/1935 das Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg auf. Nach dem Weggang ihres künftigen, nationalsozialistisch orientierten Doktorvaters Wolfgang Siebert im Sommersemester 1935 nach Kiel folgte sie und bestand 1937 das Referendarexamen mit „lobenswert“ (gut). Während ihrer Studienzeit engagierte sie sich in der Freiwilligen Arbeitsgemeinschaft für Juristinnen in Heidelberg (S. 130ff.) und in Kiel in der Arbeitsgemeinschaft nationalsozialistischer Studentinnen (ANSt). Nach dem ersten Staatsexamen übernahm Hilger eine Assistentenstelle am Institut für Weltwirtschaft (November 1937-1938); hier schloss sie ihre Arbeiten an der von Siebert betreuten Dissertation: „Die Gestaltung der Arbeitsbedingungen im französischen Arbeitsrecht – ein Beitrag zum System der französischen Arbeitsverfassung“ ab. 1939 ging sie mit Siebert an die Berliner Universität, an der sie eine Assistentenstelle bekleidete. Die Assessorprüfung legte sie im September 1942 ab. Anschließend war sie bis 1945 im Rahmen der studentischen Begabtenförderung des Reichsstudentenwerks Leiterin der „Vorstudienausbildung“ für junge Frauen ohne Abitur.
In den Abschnitten über Hilgers Tätigkeiten bis 1960 (S. 335-435) behandelt Misselwitz zunächst das Spruchkammerverfahren gegen Hilger, das am 20. 4. 1948 zu ihrer Einstufung als „Mitläufer“ führte. Im April 1947 hatte sie bereits die Schriftleitung (bis 1959) des „Betriebs-Beraters“ im Heidelberger Verlag „Recht und Wirtschaft“ für das Arbeits- und Sozialrecht übernommen. Seit 1952 erhielt sie Lehraufträge für Arbeitsrecht an der Universität Heidelberg, an der sie 1957 eine Assistentenstelle bei Siebert übernahm, der im November 1959 verstarb. Inzwischen hatte sie sich im Juli 1959 mit ihrer Schrift: „Das betriebliche Ruhegeld – zugleich ein Beitrag zum Recht der betrieblichen Arbeitsbedingungen“ habilitiert. Zu der Frage, ob und inwieweit die Habilitationsgutachten einsehbar waren, finden sich bei Misselwitz keine Hinweise. Leider geht Misselwitz auf den Inhalt der alsbald gedruckt vorliegenden Habilitationsschrift nicht näher ein, was wegen der Tätigkeit Hilgers im dritten, sog. „Ruhegeld-Senat“ des Bundesarbeitsgerichts und im Hinblick auf grundlegende Entscheidungen dieses Senats, an denen Hilger vornehmlich beteiligt war (S. 485ff., 499ff.), von Wichtigkeit gewesen wäre. Im Wintersemester 1959/1960 übernahm sie eine Lehrstuhlvertretung an der Juristenfakultät in Göttingen (S. 417ff.), wo ihr 1962 die Honorarprofessur verliehen wurde.
Mit dem Werdegang Hilgers als Richterin beschäftigt sich Misselwitz im Abschnitt VII (S. 435-635). Bereits 1954 wurde Hilger vom Richterwahlausschuss mit 13 gegen 5 Stimmen zur Richterin am Bundesarbeitsgericht gewählt; ihre Ernennung zur Bundesrichterin unterblieb jedoch wegen Bedenken des Bundesarbeitsministers, die wohl darauf beruhten, dass Hilger über keine richterlichen Erfahrungen verfügte. Eine Neuwahl erfolgte am 20. 11. 1959 mit 15 gegen 2 Stimmen. Am 4. 1. 1960 trat Hilger ihren Dienst am BAG als Mitglied des 3. Senats (seit Anfang 1965 auch stellvertretende Vorsitzende) an, der vornehmlich mit Prozessen über die betriebliche Altersversorgung befasst war. Misselwitz beschäftigt sich mit einer Reihe von Entscheidungen, an denen Hilger mitgewirkt hatte, über Gesamtzusagen zur Altersversorgung, über die Anrechnung und Aufzehrung betrieblicher Ruhegeldversprechen, über die Unverfallbarkeit betrieblicher Versorgungszusagen, über den Inflationsausgleich bei unmittelbaren Ruhegeldzusagen und über nachvertragliche Wettbewerbsverbote (S. 499ff.). Im Einzelnen wäre mitunter eine detailliertere Konzentration auf die Leitentscheidungen wünschenswert gewesen. Aus der Zeit Hilgers als Vorsitzende des 5. Senats des BAG (1973-1980) tragen 359 Entscheidungen ihre Unterschrift. In ihrer Auswahl wichtiger Entscheidungen geht Misselwitz ein auf die Rechtsstellung freier Mitarbeiter von Rundfunk- und Fernsehanstalten, die Beseitigung von Ungleichbehandlungen bei den Arbeitnehmergruppen, die Rückzahlungsklausel bei Gratifikationen, über den Radikalenerlass und die Lohnforderung im Krankheitsfall (S. 567ff.). Die Arbeit wird abgeschlossen u. a. mit Abschnitten über den Ruhestand Hilgers, über ihr Engagement im Deutschen Juristentag und im Deutschen Juristinnenbund (S. 643ff., 666f.) sowie mit einer Zusammenfassung, einem „Fazit und Thesen“ und einer knappen Schlussbemerkung. Im Anhang sind zu finden eine Übersicht über die Vorfahren Hilgers, ein Verzeichnis ihrer Veröffentlichungen und ein Personenregister.
Die Schilderung der objektiv-historischen Ebene der einzelnen Zeitabschnitte im Leben Hilgers dürfte mitunter etwas zu breit geraten sein. Nicht missen möchte man allerdings die Abschnitte über das DAAD-Austauschprogramm in der NS-Zeit, die Organisation und Pflichten der Kieler Studentinnen zwischen 1935 und 1937, die Hochschulgemeinschaft Deutscher Frauen, das Reichsstudentenwerk sowie über einige Interna ihres Werdegangs als Richterin (Wahl und Berufung der Bundesrichter anhand der Protokolle des Richterwahlausschusses sowie der Bundesverfassungsrichter). Zur NS-Zeit stellt Misselwitz fest, dass Hilger „aufgrund ihrer beruflich bedingten Staatsnähe“ „eine gewisse Bereitschaft zur Anpassung und Unterstützung der neuen Rechts- und Werteordnung“ hatte aufbringen müssen (S. 692): „Die Frage nach der individuellen Verstrickung in staatliches Unrecht ist äußerst schwierig zu beantworten und war nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung“. Hilgers Werdegang habe „jedenfalls deutlich gemacht, dass sich pauschale moralische Urteile über (juristische) Funktionsträgerinnen und Funktionsträger in der NS-Zeit ebenso wie Rechtfertigungen verbieten“. – Gerne hätte man noch etwas darüber gelesen, inwieweit die Prozessakten des Bundesarbeitsgerichts insbesondere zu den Grundsatzurteilen überliefert sind. Unklar bleibt, weshalb die Akten des Deutschen Studentenwerkes e. V. und des Reichsstudentenwerks „besonderen Nutzungsbedingungen“ unterliegen (S. 320). Hingewiesen sei noch darauf, dass Misselwitz außer der einschlägigen archivalischen Überlieferung zahlreiche Kollegen als Zeitzeugen befragt und sonstige Auskünfte herangezogen hat (Nachweise S. 31f.).
Alles in allem liegt mit dem Werk von Misselwitz eine grundlegende Untersuchung über Marie Luise Hilger, eine unter dem Nationalsozialismus sozialisierte Juristin und spätere Richterin sowie eine wichtige Arbeitsrechtlerin, vor, die als Bundesrichterin Bereiche des gesetzlich nicht geregelten Arbeitsrechts mitgeprägt hat. Zugleich vermittelt die Studie von Misselwitz einen guten Überblick über die „Entwicklung der weiblichen Bildung, des Frauenstudiums und der Erwerbstätigkeit von Frauen – speziell von Juristinnen“ (S. 36). Es ist zu wünschen, dass weitere Untersuchungen folgen, die sich eingehender mit der Arbeitsrechtsdogmatik Hilgers und mit deren rechtshistorischen Einordnung auseinandersetzen.
Kiel
Werner Schubert