Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch. Die Geburt liberalen, modernen und rationalen Strafrechts, hg. v. Koch, Arnd/Kubiciel, Michael/Löhnig, Martin u. a. Mohr (Siebeck), Tübingen 2014. IX, 547 S. Besprochen von Thomas Vormbaum.
Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch. Die Geburt liberalen, modernen und rationalen Strafrechts, hg. v. Koch, Arnd/Kubiciel, Michael/Löhnig, Martin u. a. Mohr (Siebeck), Tübingen 2014. IX, 547 S. Besprochen von Thomas Vormbaum.
Wer selbst gelegentlich Buchtitel zu formulieren hat und daher weiß, wie schwierig es ist, eine prägnante Formulierung ohne allzu großen Reibungsverlust an sachlichem Gehalt zu formulieren, der wird den Verfassern bzw. Herausgebern von Büchern in dieser Hinsicht alcune licenze zubilligen. Das gilt auch für die umstandslose Bezeichnung des Bayerischen Strafgesetzbuches von 1813 als „Feuerbachs Gesetzbuch“. Die Differenzen zwischen diesem Gesetzbuch und der Feuerbachschen Strafrechtslehre, wie sie insbesondere in seinem epochemachenden Werk Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts zum Ausdruck kommt, sind immerhin ein wichtiges Forschungsdesiderat. Mehr als nur eine technisch bedingte Verkürzung ist hingegen der Untertitel. Dass das Strafgesetzbuch von 1813 ein liberales sei, wird immerhin in letzter Zeit verschiedentlich in Frage gestellt – auch von Autoren, welche durch nähere Untersuchung des Gesetzbuches von ihrer ursprünglich positiven Bewertung abgerückt sind[1]. Drückt der Untertitel also in diesem Punkt eine als selbstverständlich angenommene Feststellung aus, oder ist er ein Bekenntnis in einem Meinungsstreit? Dass das Gesetzbuch die „Geburt“ modernen und rationalen Strafrechts bedeute, wird man wohl nur dann annehmen können, wenn man z. B. die toskanische Leopoldina von 1786[2] und das Strafgesetzbuch Josephs II von 1787 als bloße Zeugungsakte[3] auffasst – von der Strafrechtslehre des Aufklärungszeitalters einmal abgesehen, wenn man unterstellt, dass die Herausgeber unter „Strafrecht“ nur das kodifizierte Strafrecht verstehen. Gespannt ist der Leser, der das Buch aufschlägt, auch darauf, zu erfahren, ob die Aufreihung der Attribute „liberal“, „modern“ und „rational“ als homogene (und positive) Bewertung oder als Mixtur von (zumindest möglicherweise) durchaus disparaten Elementen aufgefasst wird.
Der Blick in das Inhaltsverzeichnis trifft auf ein breites Spektrum von Themen, wie es bereits aus den vorzüglichen thematischen Sammelbänden eines der Herausgeber – Martin Löhnig – über die Rechtsgeschichte der Nachkriegszeit[4] und über die Rechtsgeschichte der Jahre um 1968[5] bekannt ist. In nicht weniger als 27 Beiträgen wird das Gesetzbuch von 1813 in seinen allgemeingeschichtlichen, seinen rechtsgeschichtlichen und seinen strafrechtsdogmatischen Kontext gestellt.
Michael Kubiciel führt in die Problematik ein und weist schon vorab auf die Gleichzeitigkeit liberaler und autoritärer Züge in Feuerbachs Werk und im Gesetzbuch von 1813 hin.
Eine erste Gruppe von Beiträgen widmet sich sodann dem „historischen und philosophischen Kontext“.
Tonio Walter gibt eine einfühlsame, Schattenseiten nicht aussparende, die Bewunderung für die Lebensleistung aber nicht verleugnende biographische Skizze.
Arnd Koch behandelt die Entwicklung des Strafrechts zwischen 1751 (dem Jahr des Erscheinens des Kreittmayerschen Codex Maximilianeus Bavaricus Criminalis) und 1813, was vor allem eine Auseinandersetzung mit den Strafrechtslehren der Aufklärung einschließt, denen er am Maßstab des von Eberhard Schmidt rekonstruierten „Vierklangs“ zwar Säkularisierung. Rationalisierung und Liberalisierung zugesteht, jedoch die behauptete Humanisierung mit guten Argumenten abspricht. Und hier findet sich auch zum ersten – und nicht zum letzten – Mal der Titel des Buches in Frage gestellt. Feuerbachs Strafgesetzbuch, so Kochs plausible These, steht „in wesentlichen Teilen eher am Ende eine(r) Epoche als am Beginn einer Entwicklung, die im Erlass des Reichsstrafgesetzbuchs mündete“ (67).
Jan Zopfs als einer der besten Kenner der Materie resümiert an Hand der vorhandenen Literatur und der noch existierenden Quellen die Rolle Feuerbachs bei der Abschaffung der Folter in Bayern. Sie bestand – so sein Ergebnis – vor allem in der Abmilderung der an die Stelle der Folter tretenden Ungehorsamsstrafen und Lügenstrafen gegenüber den vorhergehenden Vorschlägen.
Martin Löhnig befasst sich mit der Frage, welche Spielräume das junge Königreich Bayern unter den Randbedingungen der napoleonischen Hegemonie gehabt habe. Anschaulich schildert er, wie die bayrische Reformbürokratie unter Montgelas mit geschickter Diplomatie die wechselnden politischen Lagen nutzte, um bayrische Besonderheiten mehr oder weniger – je nach den eigenen Vorstellungen – zur Geltung zu bringen. Feuerbach war in einem Fall „Opfer“ dieser Taktik, da sein eng am französischen Vorbild ausgearbeiteter Entwurf eines Zivilgesetzbuches erfolglos blieb, im anderen Fall deren „Profiteur“, da „sein“ Strafgesetzbuch eher zu jenen Projekten gehörte, in denen sich die bayrische Gesetzgebung vom französischen Vorbild stark distanzierte. Eine differenzierte Betrachtung der „Vaterschaft“ am Gesetzbuch von 1813 lässt Löhnig zum Ergebnis gelangen, es handele sich eher um eine „Promenadenmischung“, weshalb auch er die im Titel des Buches formulierte Charakterisierung des Gesetzbuches als „Geburt liberalen, modernen und rationalen Strafrechts“ in Frage stellt.
Angesichts der Bedeutung der französischen Strafrechtskodifikationen von 1808/1810 für die europäische Strafrechtsentwicklung liefert der nachfolgende Beitrag Ulrike Müßigs eine eingehende Analyse dieser Gesetzeswerke. Sie bestätigt das Resümee des Beitrages von Koch: Es gibt eine utilitaristische Kontinuität zwischen 1791 und 1808/1810. Die aufgeklärte Humanität „wird zu einem Derivat der Utilität“; mit Recht zitiert sie in diesem Zusammenhang den (nicht nur) in Frankreich besonders geschätzten Beccaria, der Humanität ausdrücklich mit Nützlichkeit und Notwendigkeit in Verbindung bringt (S. 126)[6].
Einen wichtigen Aspekt der Feuerbachschen Lehre und des bayrischen Strafgesetzbuches behandelt Karl Härter mit deren Verhältnis zum Polizeistrafrecht. Feuerbachs Bemühen, die Abgrenzung der beiden Bereiche anhand der beiden zentralen Punkte seiner Strafrechtstheorie – Rechtsverletzungslehre und psychologischer Zwang – vorzunehmen, fand schon bei ihm selbst und sodann in den gesetzgebenden Gremien seine Grenze. Das angekündigte Polizeistrafgesetzbuch wurde erst rund 50 Jahre später erlassen. Die Quellen der Widerstände erblickt Härter vor allem in dem Unwillen der Administration, das Polizeistrafrecht als flexibles (mitunter durchaus auch zu Milderungen tendierendes) Instrument den strengen strafrechtlichen Rechtsregeln zu unterwerfen, aber auch darin, dass einige der Konsequenzen der Feuerbachschen Rechtsverletzungslehre – vor allem im Bereich der Sexualdelikte – als der Zeit zu weit vorauseilend empfunden wurden. Mit Recht weist Härter allerdings abschließend darauf hin, dass Feuerbachs Lehre und die Konstruktion des bayrischen Strafgesetzbuchs zumindest auf theoretischer Ebene einen ersten Ansatz zu einer Bestimmung der Polizeidelikte brachte. (S. 147)
Mit Kernfragen der Feuerbachschen Strafrechtslehre befassen sich die folgenden vier Beiträge.
Eric Hilgendorf betrachtet das Verhältnis Feuerbachs zur Rechtsphilosophie der Aufklärung. Die – auch vom Verfasser dieser Besprechung vertretene – Auffassung, Feuerbachs Strafrechtslehre nehme ihren Ausgang von der Rechtslehre Kants, beurteilt er als zwar nicht falsch, aber doch unvollständig. Er betont die über das 18. Jahrhundert hinausreichende Kontinuität der Aufklärungsphilosophie, in die er auch Feuerbach eingebettet sieht. Dies ist kaum zu bestreiten, doch brauchen beide Feststellungen sich nicht zu widersprechen, wenn man betont, dass Kant eben den Ausgangspunkt, nicht aber den Endpunkt der Feuerbachschen Strafrechtslehre bildet: So sind der Rechtsbegriff als Bedingung kompossibler Freiheiten und das Ausweichen von der Strafverhängung auf die Strafdrohung als Mittel der Generalprävention zwar nicht kantianisch, aber durch Kant bedingt; der Endpunkt ist zweifellos nicht mehr kantianisch, und vor allem die erbarmungslose „Rationalität“, mit der die Theorie des psychologischen (korrekt wäre: „psychischen“)[7] Zwangs „durchgezogen“ wird und die damit verbundenen Härten in Kauf genommen werden, kann durchaus als ein Element aufklärerischer Erbschaft aufgefasst werden, während die Rationalisierung, Säkularisierung und – zumindest tendenzielle – Liberalisierung des Strafrechts zu den positiven Elementen dieser Erbschaft zu zählen sind.
Eben dem Verhältnis der Strafrechtslehre Feuerbachs zur Rechtslehre Kants geht Reinhard Brandt nach. Er zeigt, wie „Feuerbachs ingeniöser Einfall […], die Strafanalyse aus dem Vollzug der Strafe in die Ankündigung zu verlegen und damit vom Gesetzgeber zum Untertan“, sich jedoch eben damit „von der apriorischen Theorie Kants ihren empirisch-anthropologischen Begleitumständen wie dem psychologischen Zwang [zuwendet], der von einer Drohung ausgeht“ (S. 179). Feuerbach wendet sich damit von der philosophischen Orientierung ab und einer empirischen Rechtslehre zu, während Kant an der apriorischen Fundierung seiner Rechtsüberlegung festhält (S. 180), die Brandt anschließend noch einmal rekonstruiert, wobei er sich abschließend um den Nachweis bemüht, dass dem Mörder auch mit der lebenslangen Haft das widerfährt, was er seinem Opfer angetan hat, indem er nämlich der „Möglichkeit des eigenen zweckbestimmten Handelns“ beraubt wird, womit dem ius talionis Genüge getan ist.
Wolfgang Frisch behandelt mit der Strafbemessungslehre einen bislang vernachlässigten Aspekt der Feuerbachschen Straftheorie. Seine Ausgangsthese lautet, dass die allseits beklagte Härte der Strafen des Gesetzbuches von 1813 auf die Addition von psychologischer Zwangstheorie und Feuerbachs Strafzumessungslehre zurückzuführen sei; letztere läuft, wie Frisch zeigt, auf eine „faktische Spezialprävention“ (S. 202) hinaus, wenngleich Feuerbach geltend macht, dass hier die Gefährlichkeit des Täters nicht als Vorbeugungsmittel, sondern nur als Bestimmung des „angemessenen Übels“ eingesetzt werde. Hier sieht Frisch – der wie fast alle Autoren des Bandes die großen Verdienste Feuerbachs anerkennt – den „Schwachpunkt“ seiner Straftheorie.
Günther Jakobs setzt sich mit Feuerbachs Verbrechensbegriff der „Rechtsverletzung“ auseinander, dem er mit seiner Reduktion der strafrechtlichen Schutzobjekte auf Rechte des Individuums und des Staates mangelnde Komplexität – oder mit Kant: „zu wenig Theorie“ - vorwirft, da er die gesellschaftlichen Bedürfnisse, die sich noch nicht zu Rechten verdichtet haben, ausblende. Der Theoretiker Feuerbach sei hier hinter dem Praktiker zurückgeblieben, der dann die entsprechenden Tatbestände in den Bereich der Polizeidelikte abgeschoben habe.
Der folgende Teil des Buches behandelt einzelne Aspekte des Bayerischen Strafgesetzbuches, die hier überwiegend nur in Form der Mitteilung erwähnt werden können: Ignacio Czeguhn untersucht die Strafarten des Gesetzbuchs, Carl-Friedrich Stuckenberg Vorsatz und Zurechnung, was zwangsläufig auch zu einem der bekannten „Schwachpunkte“ der Feuerbachschen Lehre, der Behandlung der beschränkten Zurechnungsfähigkeit, führt, Ken Eckstein erörtert die Beteiligungslehre bei Feuerbach und im Gesetzbuch von 1813. Luis Greco greift noch einmal das Thema der Strafzumessung auf; er mildert das strenge Urteil Frischs ein wenig ab, wenngleich auch er das System des Entwurfs als gescheitert ansieht. Im Gegensatz zur überwiegenden Zahl der Autoren (nicht nur dieses Bandes) preist er aber Feuerbachs Forderung nach strenger Gesetzesbindung auch im Bereich der Strafzumessung als vorbildliche „Weigerung, sich der Praxis zu beugen“. Michael Pawlik behandelt die „Aufhebung der Strafbarkeit, also vor allem Notwehr, Erlaubnis der Verletzten und fehlende Zurechenbarkeit, und er macht an den betreffenden Regelungen des Gesetzbuchs von 1813 die Mängel der Feuerbachschen Strafzwecktheorie deutlich. Feuerbach – so das Fazit seiner brillanten Ausführungen – gehört zugleich dem spätabsolutistischen und dem frühliberalen Denken an. David von Mayenburg befasst sich in einer historisch weit ausholenden Betrachtung mit der strafrechtlichen Verfolgung von Kindern und Jugendlichen, und abermals ist das Ergebnis die Feststellung der ambivalenten Position Feuerbachs und „seines“ Gesetzbuchs. Mit den Tötungsdelikten, insbesondere mit der seinerzeit vieldiskutierten Problematik der Kindstötung und mit den Problemen des Suizids, befasst sich Anette Grünewald, mit dem Meineid Henning Ernst Müller und Edda Pauli. Friedrich-Christian Schroeder behandelt die Staatsverbrechen, deren Dogmatik durch Feuerbach eine bedeutende Vertiefung erfuhr. Die Religions- und Sittlichkeitsdelikte erörtert Michael Kubiciel. Ähnlich wie Jakobs wirft er Feuerbach Unterkomplexität vor, da er die damaligen gesellschaftlichen „Ermöglichungsbedingungen personaler Freiheit“ mit seiner weitgehenden (wenn auch nicht immer konsequenten) Entkriminalisierung gewaltfreier sexueller Handlungen ignoriert habe: „Zumindest im 19. Jahrhundert war [der] Unterbau des Staates in starkem Maße sittlich und religiös imprägniert; ihn zu schützen war ein Dienst an der Freiheit“[8].
Mit dem Strafprozessrecht des Gesetzbuchs von 1813, vor allem mit dessen Beweislehre, befasst sich Volker Haas. Hier besonders dürfte die These Kochs, dass es eher den Abschluss einer alten als den Beginn einer neuen Epoche markiert, zutreffen (432). Mareike Preisner erörtert Feuerbachs Haltung zu den Geschworenengerichten. Ihre interessante These: Feuerbachs bekannte Schrift habe vor allem darauf gezielt, den Diskurs in Frankreich zu beeinflussen – eine Zielsetzung, die mit dem Sturz Napoleons obsolet geworden sei, weshalb sich Feuerbach auch später nicht mehr an der Diskussion um die Geschworenengerichte beteiligt habe[9].
Der abschließende Teil des Buches wendet sich den Wirkungen des Gesetzbuches zu. Hier ordnet Sylvia Kesper-Biermann dieses in die Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts ein. Ihr Resümee geht dahin, dass das Feuerbachsche Gesetzeswerk bis etwa 1830 den Diskurs bestimmte, sein Einfluss sich danach aber mit der politisch und kulturgeschichtlich bedingten Schwerpunktverlagerung von der philosophischen zur Erfahrungswissenschaft abschwächte, bis dann 1851 das preußische Strafgesetzbuch die Rolle als Referenzwerk übernahm. Nach einem Beitrag Lukas Gschwends über den Einfluss Feuerbachs auf die Strafrechtsentwicklung in der Schweiz schildert Harald Maihold die Entwicklung der bayerischen Strafgesetzgebung bis zum neuen Strafgesetzbuch und Polizeistrafgesetzbuch von 1861/1862. Seine Auslotung der Hintergrundbedingungen führt zu ähnlichen Feststellungen wie denjenigen Kesper-Biermanns. Der abschließende Beitrag Andreas Roths wirft anhand der Rezeptionsgeschichte noch einmal die grundsätzliche Frage auf, ob das bayerische Gesetzeswerk von 1813 als Vollendung der Aufklärung oder als Aufbruch in die Moderne zu bewerten sei. Auch Roth bestätigt zunächst den Befund Kesper-Biermanns und Maiholds: „Etwa gute 10 Jahre lang bildete das Gesetz den Maßstab für die Entwürfe in den einzelnen Ländern, danach nicht mehr“ (529). Feuerbach selber entwarf ja 1824 einen eigenen Entwurf, der die Härten seines Gesetzeswerkes abmilderte. Nach einem Blick auf die Wirkungen im Ausland folgt eine Skizze der Rezeption bis zur Gegenwart, wobei sich zeigt, dass im Grunde der Bestimmtheitsgrundsatz, die Einteilung in Verbrechen und Vergehen sowie die Trennung von Recht und Moral die letzten Restbestände des Einflusses bilden. Ein abschließender Blick gilt den Sittlichkeitstatbeständen des bayerischen Strafgesetzbuchs; Roth bescheinigt Feuerbach, seiner Zeit trotz mancher Zugeständnisse voraus gewesen zu sein, wie sich auch daran zeige, dass sich später in der Politik bis weit ins 20. Jahrhunderte hinein wieder eine härtere Gangart durchsetzte. In dieser deskriptiven Hinsicht kann die These Kochs bestätigt werden, wenngleich Roth sie in Randbereichen ein wenig relativiert. Nach Ansicht des Rezensenten ist diese Feststellung des entkriminalisierenden „Vorauseilens“ kein Anlass zur Kritik an Feuerbach, sondern zur Kritik an der Entwicklung des 19. Jahrhunderts, die in den Etappen der Restauration, des Vormärz, der Reaktion und des wilhelminischen Obrigkeitsstaates (und auf kulturgeschichtlicher Ebene: der Romantik) die humanen Ideale der Aufklärung, die hier immerhin bemerkbar waren, aufgegeben hat.
Der besprochene Sammelband bietet ein imponierendes Panorama aller denkbaren Aspekte der behandelten Thematik. Nach seiner Lektüre werden einfache Thesen nur noch schwer zu vertreten sein. Der Rezensent steht nicht an zu erklären, dass er selber in einigen Punkten sich veranlasst sieht, eigene Vorstellungen zu überprüfen. Insgesamt präsentiert das Buch einen Strafrechtsgelehrten und ein Gesetzbuch, die beide in ihrer Ambivalenz die Zeit widerspiegeln, in der sie gelebt haben bzw. entstanden sind. Und es nicht das geringste Verdienst des Buches, dass es seinen Untertitel – der sich der zugrunde liegenden Veranstaltung bzw. Vortragsreihe verdankt – im Ergebnis selber in Frage stellt.
Hagen Thomas Vormbaum
[1] S. z.B. Wolfgang Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs, 1962, einerseits. Ders., Die zweckmäßige und die kritische Strafgesetzlichkeit, dargestellt an den Lehren J.P.A. Feuerbachs (1775-1832), in: Quaderni Fiorentini 36, 2008, S. 321 ff., anderersdeits; ferner Mario A. Cattaneo, Anselm Feuerbach, filosofo e giurista liberale, 1970, einerseits, Ders., Paul Johann Anselm Feuerbach und das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813, in: Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte 12 (2011), S. 119 ff., andererseits.
[2] Text b. Hans Schlosser (Hrsg.), Die „Leopoldina“. Toskanisches Strafgesetzbuch vom 30. November 1786. Originaltext, deutsche Übersetzung und Kommentierung. Berlin 2010.
[3] Oder als Totgeburten bzw. als im Kindesalter verstorbene Wesen, wofür immerhin die kurze Geltungsdauer beider Gesetzbücher spricht.
[4] Martin Löhnig (Hrsg.), Zwischenzeit. Rechtsgeschichte der Besatzungsjahre. Regenstauf b. Regensburg 2011.
[5] Martin Löhnig (Hrsg.), Reform und Revolte – Eine Rechtsgeschichte der 1960er und 70er Jahre. Tübingen 2012.
[6] Da eine Rezension im Internet nicht solchen Umnfangsvorgaben unterliegt wie diejenige in einer Zeitschrift, erlaube ich mir hier einen persönlichen Hinweis: Im Jahr 2014 jährte sich zum 250. Mal das Erscheinen von Beccarias Hauptwerk „Von den Verbrechen und von den Strafen“. In Italien gab dies Anlass zu zahlreichen Seminaren, Vorlesungsreihen und Tagungen. Auf einer dieser Veranstaltungen habe ich auf die – auch im Beitrag von Koch erwähnten – Ausnahmen hingewiesen, welche Beccaria von seiner prinzipiellen Ablehnung der Todesstrafe für möglich hält. Der Reaktion auf meinen Vortrag konnte ich entnehmen, dass in Italien (zumindest unter den Rechtsphilosophen) eine starke Tendenz besteht, diese Ausnahmen, an denen die utilitaristische Argumentation besonders deutlich wird, wegzuinterpretieren – bis hin zur Anwendung einer historischen Auslegung „e silentio“. Möglicherweise zeigt sich hier nicht nur ein Bestreben der italienischen Kollegen, den Schild eines nationalen Heros unbefleckt zu erhalten, sondern auch ein unterschiedliches Vorgehen rechtsphilosophischer und rechtshistorischer Argumentation. Es ist ein legitimes Bestreben rechtsphilosophischerArgumentation, aus den Texten eines Autors – auch mit Hilfe von Ergänzungen und Interpretationen – ein System zu rekonstruieren. Der Rechtshistoriker hingegen wird den historischen Text so nehmen, wie er nun einmal ist. Natürlich interpretiert auch er; seine Interpretation wird jedoch dahin zielen, einerseits den Text aus seinen Zeitumständen heraus zu verstehen und damit dem Autor gerecht zu werden, andererseits zu erforschen, wie der Text rezipiert worden ist und wie er sich auf die weitere Rechtsentwicklung ausgewirkt hat.
[7] Auch die „intellektualistische Psychologie“ (Pawlik, S. 315) des BayStGB kann als Erbe des Aufklärungszeitalters angeführt werden.
[8] Ich will nicht verhehlen, dass mir diese Argumentation ihrerseits unterkomplex erscheint. Dass Rechtsdenker wie Kreittmayer in seinem Codex von 1751 noch strenge Sittlichkeits- und Religionsschutztatbestände für erforderlich hielten, soll man getrost mit mentalitätsgeschichtlichem Verständnis betrachten, zumal, wie Kubiciel vortrefflich herausarbeitet (395 f.), auch handfeste politische Erwägungen eine Rolle spielten. Einem legislativ tätigen Rechtstheoretiker, der wenigstens im Rahmen seines politischen Handlungsspielraums versucht, ein Stück Aufklärung durch Entkriminalisierung umzusetzen, eine Verkennung von Freiheitsbedingungen vorzuwerfen, erscheint mir jedoch als eine fragwürdige präskriptive Pointe. (Wohl wissend, dass es sich um ein „Totschlagsargument“ handelt, sei daran erinnert, dass die 1949 erfolgte Abschaffung der Todesstrafe in Deutschland frühestens seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts mit einer mehrheitlichen Einstellung der Bevölkerung konform ging).
[9] Dass Napoleon die Geschworenengerichte keineswegs ein Herzensanliegen waren, Feuerbach sich also – falls die These Preisners zutrifft – durchaus Gehör in Frankreich versprechen konnte, zeigt die Praxis in Italien, wo Napoleon zwar auf die Übernahme seiner Gesetzgebung drang, jedoch weitgehend auf die Einführung der Jury verzichtete; s. z.B. Ettore Dezza, Italienische Prozessordnungern im Kodifikationszeitalter, in: Ders., Beiträge zur Geschichte des modernen italienischen Strafrechts. Berlin 2004, S. 135 ff., hier S. 145 f.