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Oßwald, Karl, Grundzüge einer Frequenzanalyse des althochdeutschen Wortschatzes mit diachroner Perspektive. Bachelorarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Bachelor of Arts am Lehrstuhl für Indogermanistik der philosophischen Fakultät der Universität Jena. Jena 2015. 37 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

Oßwald, Karl, Grundzüge einer Frequenzanalyse des althochdeutschen Wortschatzes mit diachroner Perspektive. Bachelorarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Bachelor of Arts am Lehrstuhl für Indogermanistik der philosophischen Fakultät der Universität Jena. Jena 2015. 37 S. KarlOsswald@gmx.de Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Sprachen haben vergleichbar ihren Sprechern eine individuelle Geschichte, die sich wieder an Hand ihrer Elemente wie ihrer Nutzer in zahllose Einzelgeschichten aufgliedern ließe, wenn dafür Zeit, Raum und Mittel vorhanden wären. Deswegen durchlaufen sie grundsätzlich einen Sprachwandel in der Zeit. Wie der Verfasser in seiner von Rosemarie Lühr betreuten Untersuchung gleich zu Beginn ausführt, spielt bei diesem Sprachwandel auch die Wortfrequenz eine Rolle, weil beispielsweise der Hörer ein häufig vorkommendes Wort leichter erkennt als ein seltenes und der Sprecher es für die gleiche Wirkung weniger deutlich aussprechen muss.

 

Nach Blevins‘ evolutionärer Phonologie muss dabei der verschiedene Realisierungen desselben Wortes vernehmende Hörer selbst entscheiden, welche Realisierung er als Standard ansieht und welche als Abweichung. Dieser choice genannte Vorgang gilt als ein zentraler Mechanismus des Lautwandels. Wird dabei eine archaische, wenig reduzierte Variante nur selten oder nur in bestimmten Kontexten verwendet, so wird sie als Abweichung vom Standard angesehen und bedeutet Sprachwandel.

 

Nach dem Verfasser können Häufigkeitsanalysen das Verständnis unregelmäßiger Entwicklungen einer Sprache erleichtern. Für die weiter zurückliegende Sprachgeschichte ist dabei die schriftliche Überlieferung die einzige verfügbare Grundlage. Deshalb wird sie vom Verfasser verwendet, um zu zeigen, auf welche Weise es gelingen kann, unregelmäßige d. h. nicht konsequent durchgeführte Lautentwicklungen  zu verorten und vielleicht zu erklären.

 

Ausgangspunkt für die Untersuchung sind 26405 Ansätze (von 40814 Ansätzen und Verweisen) des Althochdeutschen, die der Verfasser nach einer Formel (Häufigkeitsklasse = 0,5 –log2 Belegzahl des Wortes : Belegzahl des häufigsten Wortes) in 15 Häufigkeitsklassen des Althochdeutschen einteilt. Das häufigste Wort ist der Artikel der, diu, daz, der mit 35200 Belegen (als einziges Wort) die Häufigkeitsklasse 0 erhält. Die Häufigkeitsklasse 8 des Althochdeutschen umfasst 204 Wörter, die Häufigkeitsklasse 15 10983.

 

Da in einer Bachelorarbeit naheliegenderweise eine Untersuchung des gesamten Wortschatzes einer Sprache ausgeschlossen ist, hat der Verfasser alle 479 Wörter seiner ersten acht Häufigkeitsklassen annotiert und danach von den Häufigkeitsklassen 9 bis 15 je 512 zufällig ausgewählte Wörter, so dass er seiner weiteren Arbeit 4000 Wörter berücksichtigt, die 357009mal verwendet wurden und damit 78,1 Prozent aller 457258 Wortverwendungen aller 26405 Ansätze ausmachen. Für das Mittelhochdeutsche gebraucht er die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank mit derzeit 650 (überwiegend mittelhochdeutsche) Texten. Für das Frühneudeutsche nutzt er das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus von 480000 Wörtern in 40 zeitlich und örtlich repräsentativen Texten von Osthochalemannisch bis Ripuarisch.

 

Von seinen 4000 annotierten althochdeutschen Wörtern  erweisen sich 1659 als fortgesetzt (z. B. alle fünf Wörter der Häufigkeitsklassen 0, 1 und 2, zehn von elf Wörtern der Häufigkeitsklasse 3) und 2341 als nicht fortgesetzt. Unter Berücksichtigung der 357009 Wortverwendungen entfallen 306618 (85,9 Prozent) auf Wörter, die bis heute fortgeführt sind, so dass bei grundlegenden Kenntnissen der Lautgesetze ein neuhochdeutscher Sprecher den größten Anteil der Wörter in einem althochdeutschen Sprachzeugnis wiedererkennen kann. Als Ursachen für Auffälligkeiten macht der Autor dabei auf die unterschiedlichen Wortarten und den Anteil der Glossen an der Überlieferung aufmerksam  und vertieft in diesen Hinsichten seine weiteren Überlegungen.

 

Dabei weist er etwa darauf hin, dass die starken Verben mit ihren urindogermanischen Unregelmäßigkeiten auch nach Entstehung der schwachen Verben mit ihrem Sonderstatus besonders oft fortgesetzt wurden. Als noch gewichtiger erweisen sich die Präteritopräsentien. Von neun unpräfigierten, in den Häufigkeitsklassen vier bis elf vorkommenden Präteritopräsentien sind nur eigan und unnan geschwunden.

 

Als Anteil der nur in Glossen belegten Wörter ermittelt er 55 Prozent. Von 10983 nur einmal belegten Wörtern sind 7780 nur in Glossen belegte Wörter. 24,4 Prozent aller althochdeutschen Wörter kommen demgegenüber in Glossen nicht vor. Hieraus schließt der Verfasser im Ergebnis, dass sowohl in Glossen wie in andern Quellen (Texten) vorkommende Wörter am ehesten einen Einblick in das lebendige Althochdeutsche eröffnen, während nur in Glossen und auch nie in Glossen bezeugte Wörter, (nicht nur häufiger Interferenzen aufweisen, sondern auch) weniger oft einen so tiefen Eingang in die Sprache gefunden haben, dass sie bis zur Gegenwart fortgesetzt wurden.

 

In der Folge wendet sich der Verfasser eindringlich den Veränderungen in der Silbenzahl zu, behandelt sorgfältig Dehnungen und Kürzungen und bietet eine wohl abgewogene Interpretation etwa des Befundes, dass die 107 Wörter seiner ersten sieben Häufigkeitsklassem mit 50,3 Prozent alleine schon etwas mehr als die Hälfte der Wörter in den zugrundeliegenden Texten ausmachen. Dabei weist er etwa auch darauf hin, dass die Häufigkeit die Entwicklungen im Wortschatz nicht allein bestimmt. Außer der Wortart kann auch die Zugehörigkeit zu einer Wortfamilie irreguläre Veränderungen beeinflusst haben.

 

Am Ende untersucht der Verfasser die Entwicklung dreier exemplarisch ausgewählter Wörter mit Dehnungen und Kürzungen. Dabei gelingen ihm bei Mutter, Vater und Bräutigam weitere wichtige einleuchtende Einsichten. Sehr wünschenswert erschiene es mir daher, wenn er seine vorzügliche Leistung zum Wohle aller an der (deutschen) Sprachgeschichte Interessierten mit Hilfe der von ihm überzeugend beschriebenen, noch zu schaffenden  Mittel in größerem Maße fortsetzen könnte.

 

Innsbruck                                                                  Gerhard Köbler