Dreykorn, Monika, 30. Januar 1933. Hitler an der Macht! Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Theiss, Darmstadt 2015. 160 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Dreykorn, Monika, 30. Januar 1933. Hitler an der Macht! Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Theiss, Darmstadt 2015. 160 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Als Tag der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler markiert der 30. Januar 1933 die Zäsur zwischen dem gescheiterten demokratischen Experiment der ersten deutschen oder Weimarer Republik und dem folgenden, zwölfeinhalb Jahre dauernden totalitären nationalsozialistischen Regime; er ist längst Gegenstand einer großen Zahl facheinschlägiger Untersuchungen. Die Zielsetzung ihres Buches erklärt die Historikerin, Germanistin und Kulturjournalistin Monika Dreykorn nicht über explizite einführende Betrachtungen, sondern diese erschließt sich dem Leser im unmittelbaren Umgang mit dem Text, der mit der unspektakulären Kapitelüberschrift „Ein Montag im Januar“ beginnt und zunächst in kurzen, atmosphärisch gehaltenen und chronologisch fixierten Momentaufnahmen Schauplätze und Vorgänge vom frühen Erwachen Paul von Hindenburgs in dessen Schlafzimmer gegen 6.00 Uhr morgens über das geschäftige Treiben in Hitlers Hauptquartier im Hotel Kaiserhof bis hin zur abschließenden Vereidigung der Regierung Hitler um 11.20 in der Residenz des Reichspräsidenten festhält. Bald ist klar, dass hier keine weitere wissenschaftliche Studie mit neuen Thesen geliefert werden soll. Die Leistung des Bandes besteht vielmehr in einer tragfähigen Standortbestimmung dessen, worin der Stellenwert des 30. Januar 1933 besteht, welche Voraussetzungen ihn ermöglichten und welche Folgen er zeitigte. Im Ergebnis findet sich eine komprimierte Darstellung der NS-Herrschaft, die die Positionen der neueren Forschung weitgehend rezipiert und vor allem der breiten Masse historisch interessierter Laien einen soliden Überblick über jene Wirkzusammenhänge vermittelt, die für den Niedergang der Demokratie und den Aufstieg sowie die Konsolidierung der Diktatur verantwortlich zeichnen. Die in der Rückschau so entscheidende, mit grundlegenden Umwälzungen einhergehende Bedeutung dieses Januartages war dabei, wie die Verfasserin glaubhaft machen kann, nur einer Minderheit der deutschen Zeitgenossen wirklich bewusst, denn: „Das Land lag in Agonie. Die Nachricht vom neuen Reichskanzler Hitler war deshalb für nicht wenige in Deutschland nur eine Fortsetzung des Parteiengezänks der vergangenen Monate. Immerhin war nun nach langer Zeit anderer Versuche der Vorsitzende der größten Reichstagsfraktion zum Kanzler berufen worden“ (S. 24).
Die Hypotheken, die die Weimarer Republik belasteten und schließlich zu Fall brachten, wurzeln bekanntlich im Ergebnis des Ersten Weltkriegs: in der von Paul von Hindenburg im eigenen Interesse beförderten „Dolchstoßlegende“, im rigiden „Diktat von Versailles“ und in einer Reichswehr, die sich der Republik nie verbunden fühlte. Dazu trat eine „Verfassung mit Lücken und Tücken“, einem „Verhältniswahlrecht und einer fehlenden Sperrklausel“, der Möglichkeit, „dass eine Regierung per Misstrauensvotum entlassen werden konnte, ohne dass sich eine Mehrheit für eine neue Regierung zusammenfand“, und einem „direkt vom Volk gewählten und damit von der Parlamentsmehrheit unabhängigen Reichspräsidenten“ als „Ersatzkaiser“ mit erheblichen Vollmachten, darunter dem „Notverordnungsparagraphen 48, kombiniert mit dem Artikel 25, […] ein Schlüssel für die Ausschaltung des Parlaments“. Zu diesen strukturellen Defiziten seien unheilbringend „der Mangel an Durchsetzungskraft und Überzeugung der Parlamentarier selbst“ sowie eine fehlende „Verpflichtung der Parteien auf Verfassungstreue“ getreten (S. 39ff.). Unter diesen Voraussetzungen brachten die politische Radikalisierung und Polarisierung im Zuge der Weltwirtschaftskrise 1929 und die unzureichenden Antworten der seit März 1930 amtierenden, instabilen Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher den seit dem gescheiterten Putsch von 1923 die Macht auf formal legalem Weg anstrebenden Hitler schließlich ins Kanzleramt. In der Folge stellt die Verfasserin zusammenfassend dar, was hinlänglich bekannt und daher hier nicht im Einzelnen zu erörtern ist: Wie und mit Hilfe welcher Rechtsgrundlagen Hitler seine nunmehr errungene Macht erweiterte und monopolisierte, seine Gegner aus- und die Gesellschaft gleichschaltete; wie er nach der Etablierung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft unter Aushebelung des Versailler Vertrages die Aufrüstung vorantrieb, Deutschland in den Zweiten Weltkrieg stürzte und den Antisemitismus in der gezielten Ermordung der europäischen Juden, dem Holocaust, gipfeln ließ.
Bei all seinen Maßnahmen sei dem „Führer“ aber „der Anschein der Legalität [...] ungemein wichtig“ gewesen, nicht zuletzt, „weil er damit die noch zweifelnden Mitläufer nicht vor den Kopf schlug“ (S. 100). Schon dieser beunruhigende Umstand lasse es notwendig erscheinen, bis dato Lehren aus dem Ende der Weimarer Republik zu ziehen. Bereits im Bonner Grundgesetz wurden daher unter anderem die „Menschen- und Bürgerrechte als einklagbare Rechte jedes Einzelnen formuliert. Eine besondere Sicherung erhielten sie durch die Formulierung, dass sie in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden dürfen. Eine Sicherheitsschranke, die auf den negativen Erfahrungen des Legitimitätsdenkens der Juristen der Weimarer Republik und NS-Zeit beruhte.“ Mindestens ebenso wichtig sei aber auch der grundlegende „Bewusstseinswandel […] in den langen, ruhigen Jahren der Bundesrepublik“ mit der „Einsicht in die Notwendigkeit des demokratischen Kompromisses“ und in die Qualität der Demokratie als „ein zerbrechliches, aber schützenswertes Gut, das Tag für Tag gepflegt und ohne Demagogie und in Toleranz praktiziert werden muss“, wobei „der politische Gegner kein Feind (ist), sondern Konkurrent im Finden der besten Lösungen“ (S. 143ff.).
Besonders reizvoll für Historiker ist es bisweilen, mit Optionen zu spielen, die sich in der Geschichte nicht realisiert haben. So kann auch Monika Dreykorn der Versuchung nicht widerstehen, danach zu fragen, ob sich in der Situation des 30. Januar 1933 gangbare Alternativen zur Inthronisierung Hitlers aufgetan hätten. Sie kommt dabei zu einem positiven, nichtsdestotrotz natürlich spekulativen Befund. Von den beiden von ihr angebotenen Szenarien, einem Kampfkabinett Papen/Hugenberg und einem Staatsnotstand unter Schleicher, verwirft sie zunächst die erste, weil ein solches deutschnationales Kabinett 90 Prozent der Bevölkerung gegen sich gehabt hätte und die offen avisierte, dauerhafte autoritäre Veränderung des Staatsaufbaues mit hoher Wahrscheinlichkeit in einen Bürgerkrieg gemündet hätte. Bessere Chancen räumt sie der Variante Schleicher ein, dessen Kabinett seine Pläne, „unter Bruch der Verfassung die nach der Reichstagsauflösung fälligen Neuwahlen […] zu verschieben“, billigte, und der „sich den Zugang zur Arbeiterbewegung nicht durch eine als unsozial empfundene Politik verbaut hatte“. Zudem waren „die zuständigen zivilen und militärischen Stellen […] auf einen eventuell nötigen Ausnahmezustand präpariert. […] Diese Niederlage (hätte) zumindest den Siegermythos Hitlers deutlich angekratzt, wenn nicht sogar die widerstrebenden Interessen in der Partei [= NSDAP, WA] noch weiter auseinandergedriftet wären, was in der Konsequenz […] zu einem Auseinanderbrechen der Partei hätte führen können“ (S. 148ff). Wie auch immer: Hindenburg entschied sich - nicht zuletzt aus Legalitätserwägungen - gegen Schleicher und für Hitlers „Kabinett der nationalen Konzentration“, alles andere blieb Makulatur.
In den fortlaufenden Text, der sich auf insgesamt sechs Kapitel verteilt, streut die Verfasserin, wo es ihr notwendig erscheint, zwölf durch Graudruck hinterlegte, mehr oder minder ausführliche Exkurse ein (Hindenburg – ein Mann prägt ein halbes Jahrhundert; Hitlers Frühzeit – ein zielloser Vagabund wird Politiker; Hitlers Weltanschauung – gezimmert aus Versatzstücken; Deutsche Außenpolitik – Von Stresemann zu Hitler; Hitlers Wähler; Der Osthilfeskandal; Der Reichstag brennt; Das Ermächtigungsgesetz – der Reichstag gibt seine Macht in Hitlers Hände; Kraft durch Freude (KdF) – Vergnügen für das Volk; Der Völkerbund und Hitler; Die Sudetenkrise und das Münchner Abkommen; Der „Generalplan Ost“). Informative Unterstützung geben darüber hinaus die (weitgehend aus anderen Publikationen vertrauten) Bildmaterialien, eine Gesamtauflistung sämtlicher Reichstagswahlergebnisse von 1919 bis 1933 sowie eine Aufstellung des Ergebnisses der letzten „halbfreien“ (S. 90) Reichstagswahl vom 5. März 1933 (S. 64f.) und nicht zuletzt eine klein gedruckte, vier Seiten umfassende Zeittafel mit einer Chronologie der Ereignisse vom 20. 4. 1889 (Adolf Hitlers Geburt in Braunau am Inn) bis zum 7. – 8. 5. 1945 (Kriegsende: Unterzeichnung der deutschen Kapitulationen in Reims und Berlin-Karlshorst).
Kapfenberg Werner Augustinovic