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Gebhardt, Miriam, Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015. 351 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

Gebhardt, Miriam, Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015. 351 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die Annahme ist berechtigt, dass die Drohung vae victis die menschliche Spezies begleitet, solange Menschen mit anderen Menschen in organisierter Form gewaltsam aneinandergeraten sind und aneinandergeraten werden. Auch wenn mittlerweile das Recht der Willkür der Eroberer Schranken auferlegt, so wird die Realität vor Ort in hohem Maße von den faktischen Machtverhältnissen bestimmt, die die jeweiligen Inhaber dieser Macht nur allzu oft dazu verleiten, den dünnen Firnis der Zivilisation abzustreifen und unserer bestialischen Natur freien Lauf zu lassen. Die moralische Anarchie manifestiert sich dann sowohl in der unrechtmäßigen Aneignung materieller Güter als auch in brutalen Übergriffen, die sich gegen die physische und psychische Integrität der Unterlegenen richten. Die Tatsache, dass die Armeen aller Zeiten von den von Natur aus mit größerer Körperkraft ausgestatteten männlichen Individuen dominiert werden, hat seit jeher bevorzugt Frauen zu Leidtragenden dieser Konstellation und zu Opfern sexueller Gewalt bestimmt.

 

Psychologische Sensibilität im Umgang mit den erlebten Traumata ist gefordert, um den eingetretenen Schaden zumindest einzugrenzen. Therapeutische Hilfe wurde jedoch bestenfalls einer verschwindenden Minderheit jener von der Verfasserin in einem komplexen Rechenprozess mit allerlei Unsicherheiten vorsichtig ermittelten „mindestens 860.000 deutsche(n) Frauen und Mädchen, aber auch Männer und Jungen, [die] zum Kriegsende und in der Nachkriegszeit von alliierten Soldaten und Besatzungsangehörigen vergewaltigt (wurden)“ (S. 17), zuteil. Ein Konglomerat von Rahmenbedingungen trug das Seine dazu bei, dass die Leiden dieser Menschen bis dato sowohl individuell als auch kollektiv keine angemessene Würdigung erfahren haben. Die vorliegende Studie der an der Universität Konstanz lehrenden, habilitierten Historikerin Miriam Gebhardt stellt einen ersten seriösen, durchaus gelungenen Versuch dar, die Dimension der Thematik abseits von ideologisch motivierten Interessenslagen und Verdikten annähernd abzustecken und unser Wissen über jenes dunkle Kapitel europäischer Geschichte ebenso zu bereichern wie in entscheidenden Punkten zu korrigieren. Die oben errechnete Zahl bezieht sich dabei ausschließlich auf Vergewaltigungsopfer im Sinne der 1945 und in den Folgejahren gültigen Definition, der zufolge „nur der Tatbestand der unmittelbaren (möglichst mit Waffengewalt erzwungenen) körperlichen Überwindung des Widerstands mit vaginaler Penetration bei glaubhafter Gegenwehr des Opfers als Vergewaltigung (galt), während alle anderen Formen sexueller Gewalt nicht als solche bewertet wurden“ (S. 30). Eine Quantifizierung dieser in der Grauzone verharrenden zusätzlichen Übergriffe ist praktisch unmöglich.

 

Die Verfasserin benennt einleitend eine ganze Reihe von Klischeevorstellungen, die sich über die Jahrzehnte tradiert und verfestigt haben und das heute gängige Bild der Vergewaltigung deutscher Frauen in der Endphase des Zweiten Weltkriegs und danach dominieren: „Es seien hauptsächlich die Russen gewesen, die sich insbesondere während der Flucht deutsche Frauen griffen, um sich für ihr erlittenes Leid zu rächen. Die westlichen Alliiertensoldaten hätten keine Gewalt gebraucht, sie bekamen doch alles, was sie wünschten, für eine Lucky Strike [= die damals populärste amerikanische Zigarettenmarke, WA]. Die Vergewaltigungsopfer hätten das Erlebte ‚erstaunlich schnell‘ weggesteckt, da sie in einer Gesellschaft der Gleichbetroffenen aufgehoben gewesen seien. Die Ehemänner der vergewaltigten Frauen hätten, wenn sie von Krieg und Gefangenschaft zurückkamen, ihre ‚entehrten‘ Frauen und deren Kinder verstoßen. Die Frauen, die von russischen oder schwarzen Soldaten geschwängert wurden, hätten aus rassistischen Gründen schnellstmöglich abgetrieben. Die Vergewaltigungsproblematik sei nach 1949 aus Gründen verletzter männlicher Eitelkeiten verdrängt und zur Metapher der vergewaltigten Nation umgedeutet worden.“ All diese „Fehleinschätzungen und Vergröberungen“ wolle das vorliegende Buch „aus der Welt räumen“, denn „Phantasie, Vorurteile und Realität lassen sich schnell voneinander trennen, wenn wir die damaligen Geschehnisse aus der Perspektive der Betroffenen rekonstruieren“ (S. 12f.).

 

Für den zehnjährigen Untersuchungszeitraum zwischen Herbst 1944, als die Rote Armee im Osten die Reichsgrenzen überschritt, und dem offiziellen Ende der Besatzungszeit 1955 haben sich die Vorfälle nicht gleichmäßig in einer homogenen Quellenkategorie abgebildet, was auf der anderen Seite qualifizierte Aussagen über zusätzliche Kontexte erlaubt. „Für die Phase der Vertreibung und Flucht und die Situation in Berlin kamen vor allem gedruckte autobiographische Selbstzeugnisse in Betracht, die uns auch etwas über die Verarbeitungsweisen der Betroffenen verraten; für die Vergewaltigungen der Amerikaner haben wir fast ausschließlich Berichte aus dritter Hand – von Pfarrern und politischen Vertretern - , die uns neben dem Geschehen auch die damaligen gesellschaftlichen Werthaltungen vor Augen führen, besonders bezogen auf alleinstehende Frauen, Fremde und sozial Benachteiligte. Über die Vergewaltigungen der Franzosen legen Anträge von zwangsgeschwängerten Frauen beredtes Zeugnis ab – aber auch über die Empathielosigkeit südwestdeutschen Verwaltungshandelns in den fünfziger und sechziger Jahren. Über die Briten konnten wir nur einige wenige Einzelfälle beibringen, die das Gesamtbild jedoch bestätigen“ (S. 43f.). Das Zitat deutet an, was dann der gesamte Text des Bandes unzweifelhaft erkennen lässt, nämlich wie sorgfältig und kritisch die Verfasserin mit dem verfügbaren Material umgeht, dessen Aussagen sie plausibel in vielfältige und weitreichende historische, psychologische und gesellschaftspolitische Kontexte einzubinden versteht. Daraus erwächst ein hochkomplexes Bild des Phänomens der Massenvergewaltigungen und der (Nicht-)Auseinandersetzung mit dem Thema in den nachfolgenden Jahrzehnten bis in die unmittelbare Gegenwart.

 

Wichtiger als die Motive der Täter – wie gesagt, alliierte Soldaten aller vier Besatzungsmächte, aber auch anderer Nationen, die auf ihrem Weg nach Deutschland zuvor schon die Frauen verbündeter oder befreiter Länder heimgesucht hatten – sind der Verfasserin die Psychologie der Opfer, der oft entwürdigende Umgang mit ihrem erlittenen Unrecht und die Suche nach Erklärungen für die Kultur des Verschweigens. „Offenbar waren die infolge des Zweiten Weltkriegs vergewaltigten Frauen die falschen Opfer […], weil sie keine Männer waren und nicht in die Reihen der Kriegsversehrten und –traumatisierten gehörten; […] weil sie nicht zu den Verfolgten des Nationalsozialismus gehörten, sondern, im Gegenteil, womöglich an den NS-Verbrechen beteiligt gewesen waren; […] weil ihnen von den Siegermächten quasi stellvertretend für das verbrecherische Nazi-Deutschland Gewalt angetan wurde; […] weil sie auf unheroische Weise von einem moralisch aufgeladenen Verbrechen betroffen waren, für das sie nicht selten selbst verantwortlich gemacht wurden“ (S. 19). Bewegung in den Diskurs brachten vor allem mediale Ereignisse wie „das berühmteste Selbstzeugnis der Massenvergewaltigung am Ende des Zweiten Weltkriegs“ (S. 270), das unter dem Titel „Eine Frau in Berlin“ 1959 erstmalig in deutscher Sprache publizierte, 2003 neu aufgelegte und später auch verfilmte Tagebuch der „Anonyma“ Marta Hillers. Dass die Verfasserin der Studie den Namen der 1911 in Krefeld geborenen Autorin – obwohl mittlerweile gemeinhin bekannt – nicht nennt, versteht sich wohl als Ausdruck des Respekts vor deren Willen und zugleich als subtiler Protest gegen die wenig sensible Art und Weise, wie der Journalist Jens Bisky einst die Identität enthüllt und den Quellenwert der „Anonyma“-Aufzeichnungen in Zweifel gezogen hat. Einen weiteren merkbaren Impuls vermochte die feministische Filmemacherin Helke Sander 1992 mit ihrem Dokumentarfilm „BeFreier und Befreite“ zu setzen. Da es „wissenschaftlicher Diskussionsstand“ sei, „dass kollektive Traumatisierungen nachhaltig und kumulativ über mehrere Generationen hinweg wirken können“ (S. 299), hält Miriam Gebhardt destruktive Nachwirkungen der Massenvergewaltigungen bis in die Gegenwart für wahrscheinlich. Die von ihr offengelegten Mechanismen erachtet sie als universal wirkend: „Die Betroffenen fielen den Vergewaltigungen als Frauen und als Deutsche beziehungsweise als Kriegsverlierer und als Schwächere zum Opfer. Es ist keine spezifisch deutsche Geschichte, die hier erzählt wurde. Wir richten den Blick nur auf das deutsche Kapitel dieser Geschichte, um zu untersuchen, wie unsere Gesellschaft (besser gesagt, die deutschen Gesellschaften in West und Ost) damit umgegangen sind und was das über eine Kultur aussagt, die für die jüngeren Generationen prägend war“ (S. 297).

 

Vor einiger Zeit hat der Rezensent in der Besprechung einer Arbeit Ingo von Münchs - die im Übrigen der Verfasserin nicht der Erwähnung wert erscheint - („‘Frau, komm!‘ Die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45“, 2009; Rezension in: ZRG/GA 128 [2011], S. 917ff.) dem Wunsch nach einer breiten und vertieften wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Ausdruck verliehen. Zweifellos leistet Miriam Gebhardt diese, indem sie die weitgehende Fixierung der Forschung auf die sowjetrussischen Übergriffe aufbricht, sich monokausalen Erklärungsmodellen versagt und durch die Vielzahl der Wirkfaktoren, die sie namhaft machen kann, fruchtbare Impulse für noch zu leistende Spezialstudien aussendet; Rechtshistoriker seien in diesem Zusammenhang dazu aufgerufen, möglicherweise noch vorhandenes Material der Militärgerichte der Alliierten sowie deutscher Behörden zu diesem Verbrechenskomplex zu eruieren und zu prüfen, die Aufarbeitung der auf österreichischem Boden begangenen Vergewaltigungen wäre ebenfalls geboten. Nicht zuletzt ist der feinfühlige, empathische, aber dennoch stets wissenschaftlich-kritische Umgang der Verfasserin mit dem Leid der Opfer als vorbildlich hervorzuheben.

 

Kapfenberg Werner Augustinovic