Grundgesetz. Textausgabe mit sämtlichen Änderungen und weitere Texte zum deutschen und europäischen Verfassungsrecht, 9. Aufl., hg. v. Dreier, Horst/Wittreck, Fabian. Mohr (Siebeck), Tübingen 2014. XXIX, 903 S. Besprochen von Karsten Ruppert.
Grundgesetz. Textausgabe mit sämtlichen Änderungen und weitere Texte zum deutschen und europäischen Verfassungsrecht, 9. Aufl., hg. v. Dreier, Horst/Wittreck, Fabian. Mohr (Siebeck), Tübingen 2014. XXIX, 903 S. Besprochen von Karsten Ruppert.
Das vorliegende Buch ist eine Sammlung von 20 besonders wichtigen Texten unterschiedlicher Art zum deutschen und europäischen Verfassungsrecht (Gesetze, Verordnungen, Verträge, Proklamationen und Protokolle), deren Auswahl für den akademischen Unterricht aber nicht näher begründet wird. Dafür wird um so ausführlicher auf das Grundgesetz eingegangen. Zunächst einmal halten es sich die Herausgeber zugute, dass sie dessen Abdruck ein detailliertes chronologisches Verzeichnis aller bisherigen 59 Änderungen voranstellen. Zusätzlich wird betont, dass darüber hinaus bei einschlägigen Artikeln in den Fußnoten nachzulesen ist, in welchem Umfang eine Norm eingefügt, geändert oder aufgehoben wurde. So viel Mühe haben sich die Herausgeber allerdings mit den anderen Texten nicht gemacht.
Die Bedeutung dieses Vorgehens nur für das Grundgesetz wird dreifach begründet. Da nach Art. 79 Abs. 1 GG jede Änderung nur durch ausdrückliche Änderung des Wortlauts möglich ist, sei die Ursprungsfassung inzwischen von so vielen Textschichten überlagert, dass sie in der aktuellen Version kaum mehr erkennbar sei. Doch wichtiger für den Zweck der Sammlung ist, dass ohne Kenntnis mancher Urfassung einige Passagen nicht ganz verständlich sind. Die Begründung des Editionskonzepts gipfelt schließlich in der verfassungspolitischen Absicht, das Grundgesetz als einen historisch gewachsenen und vielfältig zeitgeistbedingten Text zu präsentieren, um es als „vermeintlich alternativlose Modellverfassung“ zu relativieren.
Der Text des Grundgesetzes wird zunächst durch einen kurzen, konsequent in der alten Rechtschreibung gehaltenen Abriss über dessen Entstehung eingeleitet. Unterstrichen wird, dass der Einfluss der Alliierten außer auf die Finanzverfassung gering gewesen sei, das Werk vor allem deutsche Traditionen, insbesondere der Paulskirchenverfassung von 1849 und der Weimarer Verfassung von 1919 spiegele. In nicht geringerem Maße habe der historische Rückblick auf die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur den Parlamentarischen Rat beherrscht. Belegt wird dies vorrangig durch die zentrale Bedeutung des Grundrechtsartikels über die Unantastbarkeit der Menschenwürde und die Bedeutung, die den Grundrechten überhaupt bezüglich ihrer Reichweite und als individuell einklagbare Rechte gegeben wurde. Doch seien auch in der Stellung mancher Staatsorgane Konsequenzen aus den historischen Erfahrungen gezogen worden. So einfach, wie en passant der Eindruck erweckt wird, verhält es sich mit der Illegalität der nationalsozialistischen Machtergreifung nicht; zustimmen wird man aber der These können, dass auch die Vorkehrungen, die das Grundgesetz getroffen hat, diese nicht verhindert hätten.
Recht kurz wird noch auf die Wehrverfassung von 1956 und die Notstandsverfassung von 1968 als die substantiellen Erweiterungen („Verfassungsnachholung“) eingegangen. Als die größte Herausforderung für die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland wird allerdings die Wiedervereinigung von 1990 gedeutet. Dass sich diese durch den Einigungsvertrag vollzog, der das Grundgesetz in den 5 Ländern der Deutschen Demokratischen Republik in Kraft setzte, und es daher bei wenigen Änderungen an dessen Text bleiben konnte, erstaunt. Die Autoren erklären das mit den sich „überstürzenden Ereignissen“ und dem Hang der Westdeutschen, am Bewährten festzuhalten. Ergänzen könnte man, dass die Ostdeutschen nicht einmal auf die Idee kamen, eine gesamtdeutsche Verfassung einzufordern. Ein gewisses Bedauern darüber ist bei den Herausgebern zu spüren. Ob aber der deutschen Verfassung die noch größere Herausforderung erst noch bevorsteht, wird man kaum von der Hand weisen können: durch den Vorrang des Rechts der Europäischen Union, der zur Überlagerung und wohl vor allem unmerklichen Deutungsänderungen führen wird.
Bei der Charakterisierung des Grundgesetzes werden weder neue noch originelle Einsichten vermittelt - das kann in einer Einleitung auch kaum erwartet werden. Unterstrichen wird der Vorrang der Verfassung, da sie Legislative, Rechtsprechung und Exekutive binde - eindrucksvoll dadurch unterstrichen, dass bisher in ihrem Namen etwa 400 Bundes- und 200 Landesgesetze verworfen wurden. Grundgedanke der Verfassung sei die Selbstbestimmung der Bürger, die in einer demokratischen Republik leben, die sich als Bundes-, Rechts- und Sozialstaat verstehe. Auf die gar nicht zu übersehende Auslegung des Verfassungstextes aus dem Geist der Grundrechte, vor allem als Folge der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wird kurz eingegangen und die sonst wohl in keinem Verfassungsstaat übliche, intensive Prüfung von Grundrechtsverletzungen kritisch vermerkt. Wie überhaupt in diesen Ausführungen die kritischen Anmerkungen ihren besonderen Reiz haben. So die Spitze gegen die „Inflationierung der Menschenwürde“ und das Verdikt über die gescheiterte Föderalismusreform. Völlig zu Recht wird gerügt, dass in deren Gefolge durch die Aufnahme von Detailregelungen, die in Gesetze und Verordnungen gehören, die Verfassung aufgeschwemmt und deren „Ästhetik“ zerstört worden sei.
Schließlich wird noch auf die ungelöste Kompetenzabgrenzung zwischen Europäischem Verfassungsgerichtshof und Bundesverfassungsgericht verwiesen ebenso wie auf das verfassungspolitische Hauptproblem der europäischen Einigung, dass nämlich der Rat der Staats- und Regierungschef als Exekutivorgan fortgesetzt am Parlament vorbei als Legislative fungiere. Vorkehrungen seien bereits dafür getroffen, dass die Bundesrepublik Gliedstaat eines europäisch verfassten Gebildes werden könne; ob dabei die vom Verfassungsgericht gezogene Grenze der „Identität“ des Grundgesetzes tatsächlich beachtet wird, wird sich zeigen müssen. Die Herausgeber selbst sind wohl für diesen wie auch andere Formen des Umbaus offen. Sie stehen jedenfalls der von ihnen beobachteten „Sakralisierung“ des Grundgesetzes skeptisch gegenüber. Ob die angemahnte Offenheit für Alternativen sich auf einzelne Bestimmungen oder das Gesamtwerk bezieht, bleibt unausgesprochen.
Mit den anderen Texten setzen sich die Herausgeber nicht auseinander, obwohl dies dort vielleicht nötiger gewesen wäre. Dafür erstreckt sich das Sachregister auf den gesamten Abdruck; es ist zuverlässig und ausreichend detailliert.
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Karsten Ruppert