Bertschinger-Joos, Esther, Frieda Gross und ihre Briefe an Else Jaffé. Ein bewegtes Leben im Umfeld von Anarchismus, Psychoanalyse und Bohème. VerlagLiteraturWissenschaft.de, Marburg, 2014. 336 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.
Bertschinger-Joos, Esther/Butz, Richard, Ernst Frick. 1881-1956. Anarchist in Zürich, Künstler und Forscher in Ascona, Monte Verità. Limmat Verlag, Zürich 2014. 394 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.
Bertschinger-Joos, Esther, Frieda Gross und ihre Briefe an Else Jaffé. Ein bewegtes Leben im Umfeld von Anarchismus, Psychoanalyse und Bohème. VerlagLiteraturWissenschaft.de, Marburg, 2014. 336 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.
Die knappen ausschnittweisen Hinweise auf diese beiden bemerkenswerten Biografien rechtfertigen sich dadurch, dass der in unserem Zusammenhang wichtige rechtshistorische Gehalt aus den Titeln zwangsläufig nicht ohne weiteres sichtbar wird.
Ernst Frick, mit dem sich die beiden Autoren, Esther Bertschinger-Joos und Richard Butz, in einer Art Doppelbiografie befassen, gehörte zunächst zum Kreis der Züricher anarchistischen „Weckruf“-Gruppe. Er wurde ferner bekannt durch seine Freundschaft mit dem anarchistischen Psychopathologen und seit dem Abfall von Sigmund Freud radikalen libertären Psychoanalytiker Dr. med. Otto Gross (1877-1920), - einziges Kind des bekannten Grazer Strafrechtsprofessors Hans Gross, einer der bedeutendsten Begründer der Kriminalwissenschaften in Österreich, Deutschland und darüber hinaus in Europa und zudem mit langfristigen Wirkungen bis in die Vereinigten Staaten von Europa. Als Anarchisten gerieten beide und ihre Gruppe schon frühzeitig nach der Jahrhundertwende in das Fadenkreuz der polizeilichen Überwachung in europäischen Ländern, namentlich in der Schweiz, in Preußen, Bayern, Baden und Österreich. Ernst Frick lebte einige Jahre später mit Zustimmung von Otto Gross mit dessen Ehefrau Frieda Gross (1876-1950), Tochter eines Grazer Anwalts, u. a. in München und dann in Ascona sozusagen in „freier Ehe“ zusammen.
Ernst Frick war 1907 vom Züricher Obergericht wegen seiner politisch motivierten Teilnahme an einem Überfall auf eine Straßenbahn freigesprochen worden. 1912 wurde er - aufgrund von Zeugenaussagen in einem deutschen Verfahren - wegen derselben Vorwürfe erneut angeklagt. Der nicht nur in der Neuen Zürcher Zeitung sondern weit darüber hinaus Aufsehen erregende Prozess wegen sog. Eisenbahngefährdung nach schweizerischem Bundesstrafrecht wurde wegen der angeblichen terroristischen Gewaltakte und wegen der großen Zahl von 43 Zeugen und 6 Experten genauestens verfolgt. Das Gericht schloss sich nicht dem Gutachten des weithin bekannten Professors Gustav Aschaffenburg (Köln) über einen fragwürdigen, vermindert zurechnungsfähigen Belastungszeugen an, sondern dem des Züricher Irreninspektors, der den Psychopathen als ganz glaubwürdig erklärte. Das Argument, dass der Irreninspektor als Schweizer „unsere Leute besser kennt als ein Gelehrter aus Köln“, entsprach der prinzipiellen Ansicht des nationalbewussten schweizer Bundesanwalts genauso umstandslos wie der des Bundesstrafgerichts, das sich dabei des lautstarken Beifalls der dicht besetzten Zuschauertribüne sicher sein durfte.
Die Phalanx der Alibi- und Leumundszeugen, unter ihnen der angesehene und keineswegs irgendwelcher Sympathien für revolutionären Anarchismus verdächtige Professor der Nationalökonomie aus Heidelberg, Alfred Weber, Bruder Max Webers, vermochte dagegen nicht das Geringste auszurichten. Frick, der auf seiner Unschuld beharrte, wurde wegen Eisenbahngefährdung und Vergehen gegen das Sprengstoffgesetz zu 12 Monaten Gefängnis verurteilt. Die Folge war, dass seine gewerkschaftliche Entlastungszeugin, Faas-Hardegger, eine in der Schweiz prominente Aktivistin, ein Jahr später wegen Meineids verurteilt wurde.
Während sich alle Beteiligten darauf gefasst machten, am Fuße des Monte Verità in Ascona mit Frick ein glückliches Wiedersehen zu feiern, wurde sein Freund Otto Gross, der seit 1911 mit einer Künstlerin in Ascona gelebt hatte, im Herbst 1913 auf Betreiben seines Vaters Hans Gross von Berlin aus nach Tulln in eine österreichische Psychiatrie eingeliefert und dann, weil man anarchistische Befreiungsaktionen befürchtete, in die als gegen Ausbrüche und gewaltsame Akte besser gesicherte Psychiatrie nach Troppau.
In einer Reihe von ebenfalls rechtshistorisch bedeutsamen Verfahren klagte nun Dr. Otto Gross gegen seinen Vater mit dem Vorwurf, unberechtigt asyliert und wegen „Wahnsinns“ im Sinne des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs entmündigt worden zu sein, ausgerechnet mit seinem eigenen Vater als Vormund. Damit konnte er jedenfalls in Teilen der Presse auf zeitweilige Aufmerksamkeit rechnen – jedenfalls bis zu seiner Entlassung kurz vor Kriegsausbruch.
Seine Ehefrau beanspruchte ihrerseits das alleinige Sorgerecht für ihre zwei Kinder. Umgekehrt machte Prof. Gross die Unehelichkeit eines der Kinder geltend. Diese Verfahren sind nicht nur für die Entwicklung des Rechts der Zurechnungsfähigkeit, der Schuldfähigkeit, des Entmündigungsrechts, des Familien- und Erbrechts und der Reichweite partriarchalischer Rechtskultur in Österreich von Bedeutung. Sie stehen auch in Zusammenhang mit der zeitgenössischen, besonders seit 1890 im Gange befindlichen Debatte um die Reform des „Irrenrechts“. Nachdem die von Rechts wie Links bis hin zu den Liberalen grundierte Reformbewegung seit Ende des 19. Jahrhunderts durch etwa 200 Broschüren, durch Organisationen und mehr oder weniger fachlichen Zeitschriftenartikeln öffentlich und in Parlamenten Fahrt aufgenommen hatte und in Deutschland und Österreich die Gemüter wegen angeblicher oder tatsächlicher ungerechtfertigter Psychiatrisierung bewegte, erlangte jetzt die causa Otto Gross durch die Kampagnen der deutschen und europäischen Expressionisten für Otto Gross eine weit reichende Aufmerksamkeit und exzeptionelle Bedeutung. Die creme de la creme der deutschen Literaten, Dichter und Künstler (von Else Lasker-Schüler, Franz Pfemfert und Franz Jung bis hin zu Arnold Zweig, Erich Mühsam und vielen anderen) war zwar erfolglos; doch sind die Spuren dieser in den Zeitschriften Revolution und Ak‘tion und in anderen Publikationen propagierten Befreiungskampagnen und der verwickelten Prozesse, die von 1913 bis 1918 bei dem Landesgericht und dem Oberlandesgericht Graz währten, in zahlreichen Romanen und Artikeln seit 1913 unübersehbar.
Sie wurden – auch z. B. als Teil der Kafka- und Franz Werfel-Forschung - seit einigen Jahrzehnten Gegenstand interdisziplinäre Studien vor allem von Germanisten, Psychologen, Kultur- und Rechtshistorikern aus Europa und den USA. Forscher wie Martin Green, Emanuel Hurwitz, Nicolaus Sombart, Harald Szeemann, Thomas Anz, Jennifer Michaels, Stefan Pollak, Gernot Kocher, Gerhard Dienes, Christian Bachhiesl und andere Wissenschaftler haben dazu Entscheidendes beigetragen.
Die Manifestationen der heftigen Generationenkonflikte der expressionistischen Epoche bis in die Abgründe zahlreicher Gerichtsverfahren vor und im Ersten Weltkrieg haben die Fantasie und das Interesse vieler Forscher auch deswegen beflügelt, weil neben Hans Gross zahlreiche Prominente wie Sigmund Freud, C. G. Jung, Max Weber und andere als Gutachter oder sonstige Beteiligte, zum Beispiel auch Maximilian Harden oder Protagonistinnen der deutschen und österreichischen Frauenbewegung (wie Marianne Weber u. a.) als Parteigänger der Antagonisten und ihrer Netzwerke auftauchen: Unter ihnen ragt vor allem Max Weber (Heidelberg) heraus, als Berater und zeitweiliger faktischer Prozessanwalt von Frieda Gross in ihren Verfahren gegen Hans Gross um Sorgerecht, Ehelichkeit, Unterhalt und Erbrecht. Die Briefwechsel Max Webers, die auch die prozessualen Engagements Webers minutiös in der Gesamtausgabe dokumentieren, legen über seine mit Passion und juristischer Kompetenz geführte, außergewöhnliche Verfahrensbeteiligung ein höchst aufschlussreiches Zeugnis ab.
Die paradigmatischen und rechtsgeschichtlich dank der erhaltenen Akten einzigartigen Prozesse mit ihren Fernwirkungen nach Deutschland, in die Schweiz in eine Reihe anderer europäischer Länder lassen sich wegen der in den Biografien im Detail souverän geschilderten Lebensläufe aufs eindringlichste studieren. Diese keineswegs randständigen, sondern exemplarischen Lebensgeschichten der Frauen und des späteren Malers vermitteln implizit bewegende Einblicke in die dissidenten, „bukolischen Jahre der frühen Psychoanalyse“ (Johannes Cremerius). Sie sind zugleich Teil der Geschichte des Tessin, zumal der Künstlerkolonien Asconas und Locarnos, wie auch der bekanntlich ausufernden und in mancher Hinsicht strittigen Biografieforschung zu Max Weber (siehe jüngst die großen Biografien von Joachim Radkau, 2005, Dirk Käsler und Jürgen Kaube, 2014 und die vielfältigen Arbeiten der Max-Weber-Spezialisten wie u. a. Wolfgang Mommsen, Lepsius, Mitzman, Schluchter, Whimster und Stefan Breuer).
Esther Bertschinger-Joos’ Studie, auch eine Art Doppelportrait von Frieda Gross und ihrer Freundin Else Jaffé- geb. von Richthofen, befasst sich vor allem aus der Perspektive dieser beiden bedeutenden und umschwärmten Frauen mit ihren von den Konflikten und Prozessen mit Otto und Hans Gross geprägten, tragischen Schicksalen vor und während des Ersten Weltkrieges. Die Autorin hat, wie auch Richard Butz mit ihr in dem anderen biografischen Werk auf einer erstaunlich breiten Basis unbekannten Archivmaterials gearbeitet. So wie die famose Pilotstudie von Richard Butz (Sankt. Gallen) eine weit gefächertes und dichtes Bild der anarchistischen und künstlerischen Szenen in München, im Tessin und in der Schweiz entwirft, bis hin zu den zuweilen engen, auch literarisch wichtigen Kontakten Hermann Hesses zu diesem „Ensemble“ in Ascona, so ist Esther Bertschinger-Joos’ sehr differenzierte abgewogene Biografie zugleich ein höchst bedeutsamer und obendrein sehr lesbarer Beitrag zu Lebensgeschichten von Frauen und zur Max-Weber-Forschung (siehe dazu Dirk Käsler: Max Weber 4.0. Wo stehen wir in der Max Weber-Forschung? In: www.literaturkritik.de März 2015, 1-16).
Freiburg im Breisgau, Düsseldor Albrecht Götz von Olenhusen