Die Vermessung der Seele. Geltung und Genese der Quantifizierung von Qualia, hg. v. Bachhiesl, Chrisitan/Bachhiesl, Sonja Maria/Köchel, Stefan (= Austria - Forschung und Wissenschaft Interdisziplinär Band 11). LIT, Wien 2015. 425 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.
Die Vermessung der Seele. Geltung und Genese der Quantifizierung von Qualia, hg. v. Bachhiesl, Chrisitan/Bachhiesl, Sonja Maria/Köchel, Stefan (= Austria - Forschung und Wissenschaft Interdisziplinär Band 11). LIT, Wien 2015. 425 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.
Der eindrucksvolle Sammelband geht auf eine von den Herausgebern organisierte Tagung an der Karl-Franzens-Universität Graz vom 17. bis 19. 10. 2013 zurück. Die Seele, dieser „blinde Passagier“ (Christian Bachhiesl) vielfältiger Methoden, Wissenschaften und Bedeutsamkeiten, vagiert vor allem seit der „Deutungsmacht über die Seele durch die empirische Psychologie“ (S. 12) zwischen diversen Zweigen der Geisteswissenswchaften und Naturwissenschaften. Mit Peter Strasser, der in einem substanziellen Beitrag über den „Neolombrosianismus“ vertreten ist, kann der Seelenbegriff gegen Mythologisierungen eingesetzt werden. Die Tagung widmete sich einzelwissenschaftlichen Zugängen und grundsätzlichen epistemologischen und methodologischen Reflexionen. Dies geschah in vier Abschnitten: Naturwissenschaft und Medizin, Recht und Politik, Geisteswissenschaft und Philosophie, Erkenntnisgewinnung.
Wie werden mentale Zustände in der Medizin und Naturwissenschaft gemessen?
Hier sind Psychiatrie, Rechtsmedizin, forensigrafische Verfahren, ja sogar Schlafforschung gefragt. Im zweiten Abschnitt sind mit Rechtsgeschichte, Geschichte, Kunstgeschichte und politischer Instrumentalisierung der Psychiatrie im 19. Jahrhundert gleichermaßen einschlägige Fragestellungen thematisiert. Wenn in der Rechtsikonographie bei der „Visualisierung des Unrechts“ (Gernot Kocher) die „Seelenwaage“ des Jenseitsgerichts bis hin zu dem Weltenrichter als Seelenwäger und dem Wirken von Teufeln auf der Gegenseite der Waagschalen mit bleiernen Schwergewichten von „paketiertem Unrecht“ eine bedeutsame Rolle spielen, dann werden eben die „bösen Seelen“ und ihre inneren wie äußeren Sünden in den diversen Deliktsformen in schwarz-weißen und kolorierten Bildern deutlich. Leider konnte Peter Beckers Beitrag zur Materialisierung der kriminellen „Seele“ in den Aufschreibesystemen der Kriminalbiologie und Neurowissenschaften nicht mehr in diesem Band erscheinen. Unmöglich, die profunden Beiträge hier allesamt Revue passieren zu lassen. Wir müssen uns auf kleine Streiflichter beschränken.
Seelenkonzepte um 1800 (Alois Kernbauer) und philosophisches Denken bei Alexius Meinong, Adolf Lenz, Karl Jaspers und anderen bilden einen Teil der Beiträge, die sich aus geisteswissenschaftlicher und philosophischer Sicht mit dem Thema befassten. Methodologie und Epistemologie prägen das letzte Kapitel. Hier geht es auch um die Grenzen der Erkenntnisgewinnung. So zum Beispiel, wenn Stefan Köchel in seinen Auseinandersetzungen mit der Freud’schen Seelenforschung die Psychoanalyse als „Vermittlung zwischen Metapsychologie und Psychopathologie“ situiert (S. 371) oder wenn der Sinn der Differenzierung zwischen faktischer und transzendenter Erkenntnisgewinnung“ (C. Bachhiesl) aufgezeigt wird. Sein Ausgangspunkt ist u. a. Emil Du Bois- Remond („Ignorabimus“). und er fügt dem (vielleicht eher fragwürdigen) politischen „Lob der Grenze“ ein keineswegs fragwürdiges, sondern beherzigenswertes epistemologisches und ontologisches Lob der Grenzen und Differenzierungen hinzu. So gesehen bietet dieser hier nicht auszulotende Konferenzband mehr als nur die „Entdeckung des Unmöglichen“ (Barrow), sondern Erscheinungsformen einer möglichen interdisziplinären Wissenschaft um Begriffe, Metaphern, Phänomenologien, Intuitionen, „Seelenschriften“ (Aristoteles) und Graphologien als Manifestationen der Seele zwischen Kant und Freud, Heidegger und Kandel, Strafrecht und Willensfreiheit, Magie und Entseelung, Hermeneutik und Tiefenpsychologie oder ganz real in Krankengeschichten zwischen Revolution und Konterrevolution im 19. und 20. Jahrhundert, sozusagen zwischen Delirium, Paranoia und Wahn in bekannten Psychiatrien von Lübeck bis zur Illenau, vom Steinhof (Wien) bis zum Feldhof (Graz). Oder bis hinab und hinauf zu den gesellschaftlichen Instanzen, die mit „Normabweichungen“ aller Arten daheim und öffentlich, medizinisch, strafrechtlich oder politisch zu tun hatten.
Freiburg/Düsseldorf Albrecht Götz von Olenhusen