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Ilg, Reinhard, Bedrohte Bildung – bedrohte Nation? Mentalitätsgeschichtliche Studien zu humanistischen Schulen in Württemberg zwischen Reichsgründung und Weimarer Republik (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B Forschungen, Band 203). Kohlhammer, Stuttgart 2015. XXIV, 400 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

Ilg, Reinhard, Bedrohte Bildung – bedrohte Nation? Mentalitätsgeschichtliche Studien zu humanistischen Schulen in Württemberg zwischen Reichsgründung und Weimarer Republik (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B Forschungen, Band 203). Kohlhammer, Stuttgart 2015. XXIV, 400 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Wahrscheinlich konnte der Mensch niemals selbst frei entscheiden, was er lernen wollte, weil die ihn umgebenden Mitmenschen schon immer durch ihr bloßes Verhalten in unterschiedlichen, teils altruistischen, teils egoistischen Richtungen Einfluss auf seine Entwicklung nahmen. Mit der Erfindung der anfangs freiwilligen Schule wurde diese Steuerung bereits im Altertum aus multilateralen Überlegungen professionalisiert und mit der Übernahme der Schule durch den Staat spätestens in der mittleren Neuzeit auch formal generalisiert. Dabei wurde auf Grund der zu dieser Zeit noch als vorbildlich angesehenen lateinischen und griechischen Antike das humanistische Gymnasium als Bildungseinrichtung vor allem als Vorbereitung für das anschließende Studium einer der vier traditionellen Wissenschaften favorisiert, doch geriet diese Entscheidung nach dem allmählichen Vordringen der Naturwissenschaften neben den Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert in zunehmende Zweifel.

 

Mit einem interessanten Teilaspekt dieser bedeutsamen Problematik beschäftigt sich die von Dieter Langewiesche betreute, in ersten konzeptionellen Überlegungen bis in das Jahr 1996 zurückreichende, berufsbedingt durch Referendariat und Anstellung im gymnasialen Schuldienst Baden-Württembergs vielfach verzögerte, ja zeitweise auch ausgesetzte, im Sommersemester 2012 aber von der philosophischen Fakultät der Universität Tübingen angenommene, für den Druck mit 17 Abbildungen der (insgesamt 8) Bildungseinrichtungen und ihrer wichtigsten (9) Persönlichkeiten bereicherte Dissertation des Verfassers. Gegliedert ist die stattliche, auch einige archivalische Quellen einbeziehende, vor allem zu jeweiligen Schuljahrsenden erschienene Schlussprogramme berücksichtigende Untersuchung nach einer Einleitung über den Gegenstand, den methodischen Zugang, Darstellungsbesonderheiten und Quellen in vier Sachkapitel. Sie betreffen die vier evangelisch-theologischen Seminare in Maulbronn, Blaubeuren, Schöntal und Urach und die zwei Konviktsgymnasien (Konvikte und Gymnasien) in Ehingen und Rottweil, den Bildungsbegriff samt beruflichem Selbstverständnis und Werteordnung, das Staatsbewusstsein und das Geschichtsbild sowie schließlich die Zeit des ersten Weltkriegs.

 

Am Ende gelangt der Verfasser zu vielfältigen Erkenntnissen über konfessionsspezifische Unterschiede und konfessionsübergreifende Gemeinsamkeiten, die er ansprechenden Erklärungsansätzen unterwirft. Dabei kann er feststellen, dass während seiner von etwa 1871 bis etwa 1919 reichenden Untersuchungszeit Einflussfaktoren der modernen Welt auf Schule und Bildung, Staat und Gesellschaft bei den Gymnasiallehrern eine konkrete Bedrohungswahrnehmung verursachten. Während die Protestanten daraufhin zu Neugier, Suchen und Offenheit in Diskussion, Kooperation und Innovation neigten, schlossen sich die Katholiken gegenüber der Moderne umso entschiedener ab, je bedrohlicher sie die Moderne empfanden, ohne dass freilich das humanistische Gymnasium auf Dauer die mit der globalen Ökonomisierung des menschlichen Lebens verbundene Veränderung der letztlich allen Schülern staatlich-politisch vorgegebenen Bildungsziele und damit die Marginalisierung des Griechischen und Lateinischen zu Gunsten moderner Fremdsprachen, naturwissenschaftlicher und vielleicht auch gesellschaftswissenschaftlicher Fächer auf die Länge zu verhindern vermochte.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler