Füssel, Marian, Waterloo 1815. Beck, München 2015. 128 S. 5, Abb., 6 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.
Füssel, Marian, Waterloo 1815. Beck, München 2015. 128 S. 5 Abb. Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.
Seinem Exil in Elba entflohen, bedrohte Napoleon I. mit seiner Herrschaft der hundert Tage noch einmal die Restauration der alten Ordnung, wie sie zu gleicher Zeit auf dem Wiener Kongress installiert wurde. Die Niederlage in der Schlacht bei Waterloo/La Belle-Alliance vor 200 Jahren, am 18. Juni 1815, gegen Wellingtons und Blüchers Truppen besiegelte endgültig das Schicksal des Kaisers der Franzosen, der danach seine letzten Lebensjahre bis zu seinem Tod 1821 isoliert auf der Atlantikinsel St. Helena fristete.
Marian Füssel, der in Göttingen Geschichte der Frühen Neuzeit lehrt, hat sich bemüht, eine kompakte Darstellung dieser vielleicht „berühmteste(n) Schlacht der Welt“ (S. 115) unter Einbeziehung kulturhistorischer, militärischer und erinnerungsgeschichtlicher Kontexte zu liefern und dabei auf eine bestehende „Kluft“ hinzuweisen: „Der Reduktion eines komplexen Ereignisses auf eine Chiffre für die militärische Niederlage eines der bekanntesten Feldherrn der Geschichte auf der einen Seite steht auf der anderen Seite eine ganze Industrie von militärhistorischer Waterlooforschung sowie erinnerungskultureller Vermarktung gegenüber“ (S. 7).
In seinem ersten Kapitel arbeitet der Verfasser die strukturellen und sozialen Charakteristika der Akteure, also der napoleonischen, der britischen und der preußischen Armee, heraus und hält in Bezug auf Napoleons frühere militärische Siege fest: „Die Gründe dafür sind […] vielfältiger, als die landläufige Reduktion der Ursachen auf ein besonderes Feldherrngenie des Korsen glauben macht. Napoleon radikalisierte einzelne Formen der Kriegführung wie der Heeresorganisation und nutzte die taktischen wie logistischen Potentiale der Revolutionsarmee mit größtmöglicher Konsequenz. […] setzte nicht auf lange Nachschubwege, sondern ließ die Truppen wieder aus dem Land verpflegen […] strukturierte die Armee in selbständig unter seinem Oberkommando agierende Korps und erreichte damit eine erhöhte Manövrierfähigkeit im Feld […] setzte nicht auf eine Zurückdrängung, sondern eine Auflösung und Vernichtung der gegnerischen Armee […] verfolgte erfolgreich die Strategie, größere feindliche Heeresverbände zu trennen und dann jeweils separat zu schlagen“ (S. 19f.).
Bei Waterloo sollte es ihm aus verschiedenen Gründen nicht gelingen, diese Mittel erfolgreich zur Anwendung zu bringen. Der eigentlichen Schlacht voraus gingen zwei Tage zuvor die im zweiten Kapitel behandelten Gefechte von Quatre-Bras und Ligny, die, „was das strategische Gesamtergebnis betrifft, eher begrenzte Folgen hatten“, jedoch „mehr als eine bloße Vorgeschichte der Schlacht von Waterloo“ waren, denn „sie hatten die Kräfte aller Parteien bereits schwer beansprucht und bestimmten damit die Voraussetzungen, unter denen die Armeen in die nächste Schlacht gehen sollten“ (S. 40). Wegen der zögerlichen Haltung des Marschalls Ney und der Wetterunbilden gelang Napoleon weder die Verfolgung Wellingtons noch der Preußen, sodass er Marschall Grouchy mit 33.000 Mann zur Verfolgung der Letzteren befahl; diese dann bei Wavre gebundenen Kräfte fehlten ihm somit am Ort der Entscheidungsschlacht.
Die Ereignisse des 18. Juni 1815 und ihr unmittelbarer Nachklang verteilen sich in der vorliegenden Schrift auf weitere vier Abschnitte, die „Räume und Strategien“, „Praktiken des Kampfes“, „Kalkül und Krise“ sowie die Verhältnisse vor Ort nach der Schlacht thematisieren. Der Verfasser hebt als „zentrale(s) Charakteristikum des Schlachtfeldes […] seine geringe Größe von nur rund vier mal vier Kilometern“ (S. 41) hervor; hier sei die Schlacht, der Waterloo-Historiographie zufolge, in „fünf Phasen“ abgelaufen: „beginnend um 11.30 Uhr mit der von Artilleriefeuer unterstützten französischen Infanterieattacke auf Wellingtons rechten Flügel bei Hougoumont, dann gegen 13.30 Uhr de(r) massive französische Infanterieangriff auf das linke Zentrum Wellingtons, gefolgt von einer Gegenattacke britischer Kavallerie […], dann drittens gegen 16.00 Uhr die französischen Kavallerieangriffe auf Wellingtons rechten Flügel, viertens die preußischen Angriffe auf Napoleons rechten Flügel und dessen Artillerieeinsatz gegen den rechten Flügel der Alliierten und fünftens gegen 19.30 der letzte Angriff der kaiserlichen Garde, der schließlich in die Niederlage führte“. Dieser „klassischen Erzähl- und Verlaufsmustern“ folgenden Strukturierung stellt der Verfasser unter Hinweis auf John Keegan („Das Antlitz des Krieges“, 1976) die von Unübersichtlichkeit, Informationsmangel und Falschnachrichten gekennzeichnete, extrem eingeschränkte und chaotische Realperspektive der Akteure auf dem Schlachtfeld gegenüber, sei doch selbst jene der Feldherrn nur eine „höchst fragmentarische“ gewesen (S. 54f.). Letztlich gab der Vorteil einer komfortablen Verteidigungsposition den Ausschlag zugunsten Wellingtons und gegen die vom Gelände benachteiligten, auf den Angriff fixierten Franzosen, sodass Jeremy Black („The Battle of Waterloo“, 2010) mit Recht von einem „Triumph der Defensive“ spricht. Mängel in der Führungsorganisation der französischen Truppen führten dazu, dass letztlich alles von Napoleon abhing, der aber „bei Waterloo taktisch stur (blieb) und wenig Anpassungsfähigkeit an die konkrete Situation (bewies)“, den Frontalangriff dem in der aktuellen Lage taktisch sinnvollen Ausmanövrieren vorzog und „sowohl „Briten wie Preußen (unterschätzte)“ (S. 116f.); er selbst schrieb später seine Niederlage euphemistisch allein dem „Wille(n) des Schicksals“ (S. 96) zu. Die Entscheidungsqualität von Schlachten, die diese laut Verfasser „in die Nähe eines Rechtsverfahrens“ (S. 11) rücke, sei aber auch im Falle Waterloos nur eine relative gewesen, denn „angesichts der politischen wie militärischen Machtverhältnisse Europas im Frühjahr 1815 war es mehr als unwahrscheinlich, dass ein einziger Schlachtensieg Napoleons das Blatt nochmals nachhaltig hätte wenden können“ (S. 117). Über diese interpretatorischen Aspekte hinaus enthält der Band aber auch genaue, durch Kartenskizzen visuell unterstützte Explikationen der Abläufe der militärischen Operationen im Einzelnen und des taktischen Einsatzes der verfügbaren Waffengattungen Infanterie, Kavallerie und Artillerie, zudem eindringliche und anschauliche Schilderungen des Kampfgeschehens und der Lage vor Ort auch unmittelbar nach der Schlacht, als Soldaten, von Durst gequält, „jede Art Wasser (tranken), das sie erreichen konnten, von dem mit Toten und Kadavern gefüllten Grabenwasser bis hin zu dem Wasser, mit dem man […] Wunden gewaschen hatte“, und die zahlreichen, auf Beute erpichten Plünderer „mitunter weder vor der Tötung der geplünderten Verwundeten noch der ihrer plündernden Konkurrenten halt(machten)“ (S. 84f.).
Ein „Prozess der medialen Repräsentation der Schlacht“ setzte ein, „noch während die Toten auf dem Schlachtfeld begraben wurden“, rasch kam es zu einer „Auratisierung des Ortes“ (S. 97f.). Dass die Ereignisse von Ligny, Quatre-Bras, Wavre und der Anhöhe des Mont St. Jean, der Stellung Wellingtons, in der Überlieferung ausgerechnet im Namen Waterloo (ein Weiler nördlich der eigentlichen Gefechtszone) zusammenfallen, geht auf Wellingtons von dort am 19. Juni nach London gesandtes Siegesschreiben zurück, das dann, von der „Times“ als „Waterloo-Depesche“ publiziert, den Mythos begründete. Das aufgrund der zahlreichen radikalen Eingriffe der Erinnerungswütigen schließlich unter Denkmalschutz gestellte Areal des Schlachtfeldes stellt heute „einen ausgedehnten Erinnerungsparcours“ mit „135 verschiedene(n) Monumente(n) und Denkmäler(n)“ dar (S. 100), der jährlich von 300.000 Menschen besucht wird. Der Verfasser spricht darüber hinaus weitere, auch der historischen Forschung zugutekommende Formen der Waterloo-Reminiszenz an und erwähnt schließlich, dass Waterloo sogar noch „bis in die Gegenwart […] zum Politikum werden“ könne (S. 110): Französische Politiker fassten es als Affront auf, dass der zwischen Paris und London verkehrende „Eurostar International“ ausgerechnet in „Waterloo Station“ endete, was dann 2007 geändert wurde. In Anbetracht der Opfer von Waterloo 1815 (geschätzte Gesamtverluste der Franzosen 67.400, der Briten 21.800, der Preußen 40.250 Mann; vgl. S. 90) ist es immerhin beruhigend, dass aktuell im konsolidierten Kerneuropa weder solche marginalen Differenzen noch bedeutendere Konflikte auf dem Schlachtfeld ausgetragen werden.
Kapfenberg Werner Augustinovic