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Sunderbrink, Bärbel, Revolutionäre Neuordnung auf Zeit – gelebte Verfassungskultur im Königreich Westphalen – das Beispiel Minden-Ravensberg 1807-1813. Schöningh, Paderborn 2015. 411 S. Zugleich Diss. jur. Hagen 2012. Besprochen von Werner Schubert.

Sunderbrink, Bärbel, Revolutionäre Neuordnung auf Zeit – gelebte Verfassungskultur im Königreich Westphalen – das Beispiel Minden-Ravensberg 1807-1813. Schöningh, Paderborn 2015. 411 S. Zugleich Diss. jur. Hagen 2012. Besprochen von Werner Schubert.

 

Obwohl zahlreiche Untersuchungen zum Königreich Westphalen – einem napoleonischen Modellstaat – vorliegen, fehlte es bislang an Untersuchungen, die am Beispiel einer ausgewählten Region der Sicht „von unten“ nachgeht und „nach der Ausprägung der ‚Herrschaft vor Ort‘“ fragt (S. 16). Dieser Thematik hat sich Sunderbrink für die Region Minden-Bielefeld (Ravensberg) unter Auswertung der Bestände des Preußischen Geheimen Staatsarchivs in Berlin und des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Abt. Westfalen in Münster, angenommen. Da eine „Alltagsgeschichte“ als „einziger forschungsstrategischer Zugriff“ nicht ausreichend erschien, war nach Sunderbrink auch eine „mentalitätsgeschichtliche Erweiterung“ geboten, um „überindividuelle Strukturen der von außen an die historischen Subjekte herangetragenen Staatsbürgergesellschaft zu erfassen, also die individuellen und die gesellschaftlichen Determinanten miteinander zu verbinden“ (S. 14). Im Abschnitt „Herrschaft im Übergang“ (S. 26ff.) wird das Gebiet der früheren Provinz Minden-Ravensberg, die im Königreich Westphalen Teil des Weserdepartements (Hauptstadt: Osnabrück) war und die Distrikte Bielefeld und Minden mit 335.000 Einwohnern (1810) umfasste, näher umschrieben. Minden-Ravensberg unterstand seit Ende 1806 dem französischen Militärgouvernement, mit dem die Bevölkerung „vergleichsweise positive Erfahrungen“ machte (S. 349). Unter der preußischen Kriegs- und Domänenkammer (Minden) und der „Regierung“ (Mittelinstanz, insbesondere für die Rechtsprechung) verfügte die Provinz Minden-Ravensberg über eine moderne Bürokratie mit einer „hohen Intensität des Verwaltungszugriffs“ (S. 48). An der Staatsgründung des Königreichs Westphalen in Paris im August 1807 nahm ebenfalls eine Delegation aus den späteren Staatsgebieten des Königreichs teil, zu der auch sechs Vertreter aus Minden-Ravensberg gehörten. Die Konstitution des neuen Königreichs wurde unter dem 15. 11. 1807 verkündet und verfügte insbesondere die Gleichheit aller Untertanen vor dem Gesetz und die Aufhebung der Leibeigenschaft (S. 67ff.). Der Aufbau der Verwaltung des Weserdepartements erfolgte zügig durch die Präfekten (Osnabrück) und die Unterpräfekten, die aus der reformorientierten, juristisch ausgebildeten Beamtengeneration der preußischen Zeit kamen (S. 70ff., 87ff.). Während die Maires der großen Städte altgediente Funktionäre waren, griff man für die Maires der Kantone auf die Akzisebeamten der preußischen Zoll- und Akziseverwaltung zurück.

 

Dem Abschnitt über die Organisation des Weserdepartements und der Distrikte Bielefeld und Minden folgt ein Abschnitt über „Aspekte gelebter Verfassungskultur“ (S. 118ff.). Die „materielle Symbolpolitik“ galt der Eliminierung preußischer Herrschaftszeichen und der Aufstellung neuer Grenzzeichen. Legitimationsstiftende Ereignisse waren die Huldigung der Notabeln, eine Treueverpflichtung durch eine staatsbürgerliche Vereidigung, der Herrschereinzug (Besuch des Königs Jerôme Mitte September 1808) und der Königsgeburtstag am 15. 11. als westfälischer Nationalfeiertag. Eine sehr eingeschränkte politische Partizipation erfolgte durch den Departementsrat und die Distrikt- und Munizipalräte sowie durch die Reichsstände, auf deren Wahl und Aktivitäten Sunderbrink ausführlich eingeht (S. 133ff.). Aus den Reformprogrammen Westphalens behandelt Sunderbrink die sehr eingeschränkte Aufhebung der agrarischen Abhängigkeitsverhältnisse (S. 172ff.), die Einführung der Gewerbefreiheit (S. 186ff.), die das Ende der kaufmännischen Korporationen und der Zünfte bedeutete und zu einem Konjunkturaufschwung von 1809 bis 1811 führte, und die Emanzipation der Juden (S. 204ff.), die 1810 mit 737 Personen einen Anteil von 0,4% an der Gesamtbevölkerung Minden-Ravensbergs ausmachten (S. 210f.). Erhebliche Verbesserungen erfuhren die Armenfürsorge und das öffentliche Gesundheitswesen (u. a. Verpflichtung zur Pockenschutzimpfung, S. 257ff.). Zu bedauern ist, dass Sunderbrink die „institutionenabhängigen Reformfelder“ wie die Einführung des Code Napoléon und die „Etablierung einer neuen Justizstruktur“ (S. 21) sowie die Friedensrichter als Repräsentanten in der neugeordneten Justiz (S. 101, Fn. 126) im Rahmen der Zielsetzung ihrer Untersuchungen nicht näher behandelt hat. – Das Buch Katrin Wrobels, Von Tribunalen, Friedensrichtern und Maires. Gerichtsverfassung, Rechtsprechung und Verwaltungsorganisation des Königreichs Westphalen unter besonderer Berücksichtigung Osnabrücks, Göttingen 2004, ist für diese Thematik nicht durchweg zufriedenstellend. Außerdem erörtert Wrobel nicht die Distriktgerichtsbarkeit, die Tätigkeit der Notare und Rechtsanwälte sowie die Strafgerichtsbarkeit, die ihren Sitz in Herford hatte (vgl. S. 76).

 

Als „Konfliktfelder unter dem Druck von außen“ (S. 260ff.) werden behandelt die Pressezensur, die Durchsetzung der Wehrpflicht (Konskriptionsgesetz vom 25. 8. 1808), deren Durchführung auf erheblichen Widerstand der Landbevölkerung stieß. Subsistenzprozesse, die nicht den Sturz der politischen Obrigkeit (S. 352) zum Ziel hatten, waren lokal begrenzt. Auch die Versuche Ferdinand von Schills, „von außen die Bevölkerung zur ‚Volkserhebung‘ zu bewegen“ (S. 352), hatten keinen Erfolg (S. 300ff.). – Ende 1810 (Besitznahme Februar 1811) kamen der Distrikt Minden fast vollständig und der Distrikt Bielefeld zur Hälfte an Frankreich (Oberemsdepartement); Bielefeld kam zum Fuldadepartement mit Kassel als Hauptstadt. Die Grenzziehung beeinträchtigte „gewachsene Strukturen“ und führte zur Teilung von Ortschaften (S. 324). Die rigorose Zollgrenze zu Frankreich, die zu einer erheblichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage Bielefelds beitrug, und die mit dem Russlandfeldzug Napoleons verbundenen Lasten führten zum Verlust der Akzeptanz der westphälisch-französischen Herrschaft auch beim Wirtschafts- und Bildungsbürgertum (S. 324ff.). Minden-Ravensberg kam Ende 1813/14 wieder zu Preußen, dessen Übergangsgesetzgebung nur am Rande behandelt wird (S. 353 f.).

 

Das Werk wird abgeschlossen mit Übersichten über die Gebietseinteilung der Distrikte Bielefeld und Minden, mit einer Zusammenstellung der Mitgliedschaften in den Reichsständen aus dem Weserdepartement und einer Liste der Bielefelder Schutzjuden (1808) sowie der männlichen Juden 1808/1812. Drei Register (Personen-, Orts- und Sachregister) erschließen den Inhalt des Werkes.

 

Mit den Untersuchungen Sunderbrinks – einer Hagener Dissertation, die u. a. 2013 mit dem Geschichtspreis des Mindener Geschichtsvereins ausgezeichnet wurde – liegt erstmals eine sorgfältig erarbeitete und gut lesbare sozial- und kulturhistorische Untersuchung für eine wirtschaftlich wichtige Region des Königreichs Westphalen vor. Die Untersuchungen sind auch für den Rechtshistoriker, der sich mit Rechts- und Verfassungsgeschichte der napoleonischen Zeit befasst, von Interesse. Hingewiesen sei auf die Einführung der Personenstandsregister, die mit Ausnahme für die Juden von den Geistlichen zu führen waren (S. 114), die Abschaffung der Ehekonsense (S. 279f.), die Judenemanzipation sowie die Strafprozesse (u. a. wegen der Vergehen gegen die Konskriptionsgesetze, S. 285), über die man gerne etwas mehr gelesen hätte. Es ist zu wünschen, dass ähnlich detailliert angelegte Studien die Sozialgeschichte weiterer Regionen des Königreichs Westphalen aufarbeiten.

 

Kiel

Werner Schubert